Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.10.2019

(lily) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Medien FREITAG, 4. OKTOBER 2019·NR. 230·SEITE 15


Gar nicht mal anstrengend, so ein Tag
im Süden von Kopenhagen: Philip Nør-
gaard, Anti-Terror-Agent im Pausenmo-
dus, wacht auf, wie durchtrainierte Hel-
den gerne aufwachen, schwingt sich
nach dem Schäferstündchen mit der
Freundin zum Boot, um seine Männ-
lichkeit bastelnd zu fördern, und für
den Abend wird einen Essen mit sei-
nem Vater und Eltern der Freundin ge-
plant. Es muss ohne ihn stattfinden.
Philip Nørgaard (Johannes Lassen),
einst mit der Befreiung einer entführ-
ten U-Bahn in Kopenhagen befasst, hat
sich plötzlich wieder mit Geiselneh-
mern herumzuschlagen, in diesem Fal-
le düster dreinblickenden Fundamenta-
listen. Sie entsprechen sämtlichen Kli-
schees vom islamischen Terroristen in
Europa, vergessen selbst bei Waldspa-
zierfahrten ein frommes Kurzgebet
nicht und entführen schließlich eine
Fähre, die an der schmalsten Stelle des
Öresunds vom dänischen Helsingør ins
schwedische Helsingborg führt.
Es dauert allerdings, bis die zweite
Staffel von „Countdown Copenha-
gen“, die einfach nur ein spannender
Actionfilm mit politischem Anstrich
sein will (das Drehbuch stammt von
Jesper Bernt, der auch für die zweite
Staffel von „The Team“ mit Jürgen Vo-
gel verantwortlich zeichnete), an die-
sem Punkt ankommt. Sie stellt uns zu-
nächst die in Syrien mit einer Maschi-
nenpistole gegen russische Einheiten
kämpfende June al-Baqee vor (Yasmin
Mahmoud), die einige Zeit später in
Kopenhagen vor Gericht gestellt und
zu einer Strafe (ohne Gefängnis) verur-
teilt wird. June will es anfechten. Sie
habe gegen die „Feinde des dänischen
Staates“, den IS, gekämpft.
Kurz darauf erkundigt sich dieselbe
„Syrien-Kriegerin“, wie sie in den auf-
geregten Medien genannt wird, bei Phil-
ip Nørgaard nach einem Video, das sie
ihm zu schicken versucht hatte: „In Sy-
rien sterben dänische Soldaten“, sagt
sie dazu. Philip schaut nach: Es kam
nur eine Mail mit leerem Link bei ihm
an. Und schon wird June vor dem Haus
von sinistren Gestalten in ein Auto ge-


zerrt – Philip per Rad hinterher. Erst
nachts schließt er zu June und den Ent-
führern auf: Da fahren sie gerade –
„Hassan, ras nicht so!“ – auf die Fähre
nach Schweden. Ein Hechtsprung, und
Philip ist ebenfalls an Bord. Die Physik
dieses symptomatischen Hechtsprungs
müssen uns die Serienmacher irgend-
wann noch einmal erklären. Er ist un-
freiwillig komisch und verstärkt den be-
reits aus einer Reihe von seichten Ram-
bo-Dialogen gewonnenen Eindruck –
„Philip ist ein Krieger, er lebt im Feuer,
nicht in der Asche“ –, dass „Count-
down Copenhagen“ eher Gebrauchsth-
riller als das nächste große Ding aus
Skandinavien sein könnte.
Trotzdem ist die Story spannend,
denn neben dem dänischen Geheim-
dienst, der den Fall nach Philips ers-
tem Alarm nicht von der Polizei behan-
delt sehen will, scheint auch die russi-
sche Botschaft an June al-Baqee inter-
essiert.
Der Einsatz der Handkamera beför-
dert den Zuschauer mitten ins Gesche-
hen. Und so eine Fähre, mit engen
Treppen von Deck zu Deck sowie Au-
tos im Bauch: Das sorgt schon der Un-
übersichtlichkeit und autofährenübli-
chen Stille wegen für Spannung, viel-
leicht sogar noch stärker als die
U-Bahn-Schächte, in denen die von dä-
nischen Soldaten in Afghanistan erzäh-
lende erste Staffel spielte. Dunkel zieht
die Fähre über das Wasser. Dann zwin-
gen die Terroristen – deren Existenz
wir vor lauter Klimakatastrophen-
Schlagzeilen beinahe vergessen hätten



  • Kapitän Hvalsø (Søren Malling) zum
    Stoppen der Maschinen. Der Polizei
    teilt man mit: „Wir haben die Fähre im
    Namen Allahs gekapert.“ Das Schiff
    liegt nun zwei Kilometer Luftlinie von
    Schloss Kronborg entfernt, jener Fes-
    tung, in der Shakespeare einst Hamlet
    spielen ließ und Marcellus also „Es ist
    etwas faul im Staat Dänemark“ geru-
    fen haben soll. Wenn das mal nicht ein
    Wink mit dem zitatbekritzelten Zaun-
    pfahl ist. MATTHIAS HANNEMANN


Countdown Copenhagen IIläuft heute, um 22
Uhr, bei ZDFneo.


M

itte Juli hatte Manfred Krupp,
der Intendant des Hessischen
Rundfunks, in einem Ge-
spräch mit dieser Zeitung erst-
mals öffentlich Stellung bezogen zu den
kurz zuvor bekanntgewordenen Plänen des
Senders, die renommierte Radiowelle
hr2-Kultur zugunsten eines reinen Klassik-
kanals abzuschaffen und deren Marken-
kern, die aktuelle Kulturberichterstattung,
auf digitale Plattformen wie Hessen-
schau.de oder die ARD-Audiothek auszula-
gern. Krupp bekräftigte damals den Wil-
len, den ganzen Sender, insbesondere den
Hörfunk, „jünger, digitaler und diverser“ zu
machen, beschied aber die Frage, welche
Formate deshalb zur Disposition stünden,
mit einem sibyllinischen Verweis: „Die Ge-
schäftsleitung muss die großen Linien vor-
geben, aber die Ausgestaltung ist Sache der
Programmmacher.“
Damit war eine Art Gummiwand errich-
tet, an der man die Tag für Tag manifester
und frequenter werdende Kritik an den Sen-
derplänen abprallen lassen konnte. Ange-
sprochen auf konkrete hr2-Formate wie
etwa das „Kulturfrühstück“, den „Doppel-
kopf“ oder die „Hörbar“ konnte der Hör-
funkdirektor Heinz-Dieter Sommer des-
halb Ende August geschmeidig antworten:
„Über einzelne Sendungen ist überhaupt
noch nicht gesprochen worden, auch wenn
von vielen Kritikern unterstellt wird, dass
Entscheidungen gefallen seien.“

Die Kritiker ließen sich davon nicht stö-
ren. Sie vermehrten sich rasant. Mehr als
zwanzig bekannte Schriftsteller, Wissen-
schaftler, Theaterleute und Medienprofis
beteiligten sich unter dem Motto: „Ist das
Kulturfunk – oder kann das weg?“ an der
hr2-Umfrage dieses Feuilletons. Eine On-
line-Petition „Für den Erhalt von hr2-Kul-
tur!“ hat inzwischen mehr als zehntausend
Unterzeichner. Der Rundfunkrat des Sen-
ders, der als gesellschaftliches Kontrollor-
gan die Pläne der Geschäftsleitung zwar de
jure nicht stoppen, de facto aber einbrem-
sen kann, erinnerte die Chefs bei aller Be-
fürwortung „der digitalen Nutzung“ von
Sendeformen an deren lineare Radiopflich-
ten: „Kultur ist nicht nur Musik, sondern
auch Literatur, die Kultur des Hörens und
Zuhörens und der gesellschaftliche Dis-
kurs.“ Gebildet haben sich unterdessen
auch einige private Initiativen, an ihrer Spit-
ze „hr2-Wort“, für das Wolfram Schütte,
der einstige Großkritiker der „Frankfurter
Rundschau“, verantwortlich zeichnet.
Angesichts dieser Aktivitäten konnte
man in den vergangenen Wochen den Ein-
druck gewinnen, der Abschaffungs- und Ab-
wicklungsspuk sei vorüber, es gehe für die
Verantwortlichen vor allem um vernünfti-
ge Lösungen des selbsterzeugten Problems,
nebst Gesichtswahrung. Noch aber ist man
nicht soweit, wie sich am Dienstagabend
dieser Woche erwies. Schüttes Initiative
hatte unter dem Titel „hr2 minus Kultur?“
zu einer Podiumsdiskussion „gegen den
Kulturabbau in den öffentlich-rechtlichen
Medien“ geladen, an die vierhundert Zuhö-
rer füllten den Veranstaltungssaal der Deut-
schen Nationalbibliothek in Frankfurt.
Es ging höchst zivilisiert zu. Marion
Tiedtke vom Schauspiel Frankfurt beruhig-
te als Moderatorin „die besorgten Freun-
de“, es sei ja „noch nichts entschieden“.
Der Schriftsteller Matthias Altenburg erhei-
terte mit einer lebenswahren Anekdote,
aus der er den unwiderleglichen Schluss
zog: „Zwei von zwei Autofahrern hören

hr2-Kultur.“ Michael Ridder, Redakteur
beim Evangelischen Pressedienst, blieb
zwar etwas blass, dabei aber unpanisch.
Die Buchhändlerin Barbara Determann
verwies auf die Freuden einer „ungerichte-
ten Hörerin“, der beim morgendlichen Ein-
schalten des Radios fast immer „zufällige,
ungeahnte Funde“ aus den „Randgebieten
der Kultur“ ins Ohr kämen. Einzig der Jour-
nalist und Theatermacher Michael Herl
wurde etwas brüsk, als er die Senderverant-
wortlichen biblisch zurechtwies: „Sie wis-
sen nicht, was Sie tun.“
Dann kam Alf Mentzer als Repräsentant
des Hessischen Rundfunks zu Wort. Er hat-
te, an sich eine gute Idee, die Veranstalter
in Voraus gebeten, seinerseits nicht nur zu-
hören, sondern auch Stellung nehmen zu
dürfen, nicht zuletzt, um „Falsch- und Fehl-
wahrnehmungen“ zu korrigieren, mit de-
nen er immer wieder konfrontiert werde.
Natürlich durfte er. Mentzer ist seit fast an-
derthalb Jahrzenten als kluger, engagierter
Literaturredakteur von hr2-Kultur be-
kannt. In der Nationalbibliothek sprach er
jedoch als Leiter jener „Portfoliogruppe“,
die den Chefs der „großen Linien“ in Kürze
die konkreten Programmkonsequenzen vor-
legen soll und will. Mentzer also sprach.
Aber welch eine Sprache war das? Ihr ging
es um „Ausspielwege“, „komplexe Prozes-
se“, „den verzahnten Mix“ „den distinkti-
ven Kulturbegriff“ und, Krönung des Gan-
zen, um „die crossmediale Kultur-Unit“.
Dem Murren im Publikum hielt er pikiert
entgegen, das sei eben das Vokabular der
Medienforschung. Es ist aber der Jargon
von kulturfernen Unternehmensberatern,
es ist, wie es die Schriftstellerin Eva Dems-
ki am Ende des Abends auf den Punkt
brachte: „McKinsey-Sprech“.
Vom Stil zur Sache. Mentzer sagt:
„hr2-Kultur soll nicht abgeschafft und es
soll keine Klassikwelle werden.“ Also soll
es bleiben, wie es ist? Nein, aus dem bisheri-
gen linearen Vollprogramm soll „eine auf
ein klassisch kulturorientiertes Publikum

ausgerichtete Radiowelle“ werden, die
dann eben auch die gegenwärtige Musikmi-
schung von Klassik bis Edelpop, von Jazz
und Folk bis zur Weltmusik auf reine Klas-
sik reduziert. Also doch Klassikwelle, wenn-
gleich nicht mehr so genannt. Mentzer
sagt: „Langformate wie der ,Doppelkopf‘
die ,Lesung‘, das ,Feature‘, das ,Hörspiel‘
oder ,Der Tag‘ sind in keiner Weise gefähr-
det.“ Gut so. Höchst gefährdet aber ist ge-
nau das, was hr2-Kultur im Innersten aus-
macht: die Kulturberichterstattung aus Hes-
sen und darüber hinaus, etwa die „Frühkri-
tik“, etwa die „Kulturpresseschau“, jeden-
falls die vielen zufälligen, überraschenden,
ungeahnten Funde von Hannoversch Mün-
den bis Viernheim, von denen Frau Deter-
mann zu Recht schwärmt. Sie sollen, sagt
Alf Mentzer „verstärkt über die digitalen
Ausspielwege verbreitet werden, damit zeit-
gemäßer und stärker nutzerorientiert ge-
staltet werden“. Vieles, das ist sicher, wird
dabei schlicht verlorengehen.
Das Beste an der noch nicht beendeten
Debatte ist, dass hr2-Kultur – von zu vie-
len als zu selbstverständlich angesehen
und von zu wenigen gehört – wieder stär-
ker ins öffentliche Bewusstsein rückt. Statt
in Mentzers „Portfoliogruppe“ Bewährtes
aus dem Radio ins keineswegs von sich aus
die junge Zielgruppe anziehende Internet
zu verschieben, sollte man besser an ein
großes Radiofest denken, das sich die ge-
bührenzahlenden Hessen im Herbst des
kommenden Jahres zum siebzigsten Ge-
burtstag von hr2-Kultur verdient hätten. In
der Resolution, die am Ende der Podiums-
diskussion vom Publikum der Nationalbi-
bliothek verabschiedet wurde, heißt es:
„Wir befürchten, dass ohne ein hörernahes
hr2 die lebendige Einbindung in das Kul-
turgeschehen Hessens verloren geht [...]
Eine in Jahrzehnten gewachsene Symbio-
se zwischen Sender und Region wäre un-
wiederbringlich zerstört.“ Eine crossme-
diale Kultur-Unit wird diese Symbiose
nicht retten. JOCHEN HIEBER

Vor genau zwanzig Jahren erlebte die Tür-
kei eine der schlimmsten Katastrophen ih-
rer jüngeren Geschichte. In den ersten Stun-
den des 17. August 1999 wurde das Land
von einem Erdbeben der Stärke 7,4 erschüt-
tert. Das Epizentrum lag damals in Kocae-
li, rund hundert Kilometer von Istanbul ent-
fernt. Das 45 Minuten lange Beben traf
nicht allein Kocaeli, das Herz der türki-
schen Industrie. Die Erde bebte damals in
zahlreichen Orten im Westen der Türkei,
besonders auch Istanbul. Nach offiziellen
Angaben kamen damals 17 000 Menschen
ums Leben, und die Wirtschaft erlitt einen
Schaden von mehreren Milliarden Euro.
Die Katastrophe ließ eine bittere Tatsa-
che zutage treten. In der am höchsten ent-
wickelten Region des Landes waren weder
der Staat noch die Bürger auf ein Erdbeben
vorbereitet, obwohl alle wussten, dass wir
in einem Erdbebengürtel leben. Städtebau
ohne Plan, irreguläres Bauen und das Ver-
säumnis des Staates, die notwendigen Kon-
trollen durchzuführen, setzten noch eins
drauf. Wie auch die Profitgier der Bauunter-
nehmer. Die Muscheln in den Trümmern
bewiesen, dass völlig ungeeigneter Sand
aus dem Meer verbaut worden war, um
Geld zu sparen.
Nachdem Gebäude und Wirtschaft einge-
stürzt waren, fiel es dem Land schwer, wie-
der auf die Beine zu kommen. Natürlich
kam Hilfe aus aller Welt. Doch die Wunden
der Katastrophe zu heilen war in der Haupt-
sache Aufgabe der Türkei. Als erste Maß-

nahme änderte die damalige Koalitionsre-
gierung die Bauvorschriften, um mehr Si-
cherheit für Neubauten zu garantieren.
Schulen und Krankenhäuser sollten stabili-
siert werden und mehrere hundert Sammel-
stellen wurden ausgewiesen, wo Bürger
sich nach einem Erdbeben in Sicherheit auf-
halten konnten.

Es brauchte ein beträchtliches Budget,
um die Trümmer zu räumen und die Türkei
gegen erwartete künftige Erdbeben resis-
tenter zu machen. Denn bei dem Beben
vom August 1999 handelte es sich nicht
bloß um eine Katastrophe, die Zerstörung
gebracht hatte und damit vorüber war. Es
kündete auch von einem größeren Erdbe-
ben, das für Istanbul erwartet wurde. Al-
lein die Vorstellung, welche Zerstörungen
ein ähnlich starkes Beben in dem Häuser-
meer Istanbul mit seinen siebzehn Millio-
nen Einwohnern anrichten könnte, war
fürchterlich.
So beließ die damalige Regierung es
auch nicht bei der Modifizierung der Bau-
vorschriften. Sie führte zudem in zahlrei-
chen Konsumbereichen eine Erdbebensteu-
er ein, die die ohnehin unter enormen indi-

rekten Steuern leidenden Bürger weiter be-
lastete. Von Internetabo bis zu Bankge-
schäften, von Lotto bis zu Flugtickets wur-
de alles Mögliche mit der Erdbebensteuer
belegt. Die dafür verantwortliche Regie-
rung wurde auch aufgrund der Wirtschafts-
krise, zu der die Naturkatastrophe beigetra-
gen hatte, drei Jahre später in den Urnen
versenkt. Aus den Wahlen 2002 ging die
AKP unter Erdogans Führung als Siegerin
hervor.
Nach dem Erdbeben von 1999 zahlten
wir in den letzten zwanzig Jahren umge-
rechnet etwa 10,7 Milliarden Euro an Erd-
bebensteuer. Wir hatten erwartet, dass die
Städte, in denen wir leben, die Schulen, in
die wir unsere Kinder schicken, die Brü-
cken, über die wir fahren, die Häuser, in de-
nen wir wohnen, mit diesem Geld sicherer
gemacht würden.
Dass die Tragödie von 1999 und die Steu-
ern, die wir seit zwanzig Jahren zahlen,
praktisch nichts geändert haben, mussten
wir letzte Woche erleben, als in Istanbul die
Erde bebte. Glücklicherweise handelte es
sich nicht um ein Beben in der erwarteten
Stärke über 7. Doch selbst die Erschütte-
rung der Stärke von 5,8 zeigte, dass das
Schreckensszenario gar nicht weit entfernt
ist. In einem Land, das seiner seismischen
Gefährdung entsprechend vorbereitet ist,
hätte sich ein solches Beben kaum auf den
Alltag ausgewirkt, in Istanbul brachte es
das Leben zum Stillstand. Zum Glück gab
es keine Toten. Allerdings kam es zu Schä-

den an einer Vielzahl von Wohnhäusern
und Schulgebäuden. An zwei Moscheen
stürzten Minarette ein. Es fällt nicht
schwer, sich auszumalen, wie Gebäude, die
bereits bei einer Stärke von 5,8 derart be-
troffen sind, aussehen würden, wenn das er-
wartete große Beben eintrifft.
Nach dem Erdbeben von 1999 waren
Sammelstellen ausgewiesen worden. Hier
sollten Nachbeben abgewartet und Zelte
als Notunterkünfte aufgestellt werden. Bei
dem kleineren Beben letzte Woche aber
stellte sich heraus, dass diese Freiflächen in-
zwischen der Vergangenheit angehören.
Wer aus dem Haus geht und den Wegwei-
sern zu sicheren Flächen folgt, findet auf
dem ausgewiesenen Platz entweder ein Ein-
kaufszentrum oder neugebaute Wohn-
blocks vor. Die sicheren Plätze wurden der
Reihe nach zur Bebauung freigegeben und
der Baubranche zur Verfügung gestellt,
dem von der Erdogan-Regierung dominier-
ten Sektor. Es überrascht nicht besonders,
dass jene, die Maßnahmen zur Erdbebensi-
cherheit treffen sollten, diese vor allem ge-
nutzt haben, um sich die Taschen zu füllen.
Es ist auch keine Überraschung, dass die
Öffentlichkeit davon erst jetzt anlässlich
des jüngsten Erdbebens erfuhr. Denn Jour-
nalisten, die diese und andere Tatsachen
und Unterlassungen öffentlich machten,
wurden mit Haft- oder Geldstrafen zum
Schweigen gebracht. Ex-Bürgermeister Ka-
dir Topbas, der für Erdogans Partei jahre-
lang Istanbul regierte, gab die Erdbeben-

sammelstellen im Zentrum von Istanbul zu-
nächst zur Bebauung frei und übertrug sie
dann seinem Schwiegersohn, einem Bauun-
ternehmer. Die Journalistin Çigdem Toker,
die diesen Skandal ans Licht brachte, ist
mit einer Haftstrafe von zwei Jahren und ei-
ner Geldstrafe von einer Million Lira (rund
160 000 Euro) konfrontiert. Dass ein ande-
rer Sammelplatz in Istanbul einer islamisti-
schen Stiftung unter Leitung eines Erdo-
gan-Sohns überschrieben wurde, erfuhr –
aufgrund des auf die Presse ausgeübten
Drucks – leider kaum jemand.
Das Bestreben, den Bürgern Tatsachen
vorzuenthalten, beschränkt sich nicht auf
Nachrichten rund um Erdbeben. So wurde
kürzlich der Wissenschaftler Bülent Sik zu
fünfzehn Monaten Haft verurteilt. Er hatte
für eine Zeitung über einen vom Gesund-
heitsministerium in Auftrag gegebenen,
dann aber zurückgehaltenen Bericht über
Krebserkrankungen berichtet. Sein Verbre-
chen bestand darin, der Öffentlichkeit mit-
geteilt zu haben, welche Produkte krebser-
regende Stoffe beinhalten. Offenbar be-
trachtet man es im Präsidentenpalast als
Verbrechen, die Bevölkerung vor dem
Krebstod bewahren zu wollen. Ebenso hält
man es dort ja auch mit jenen, die die Bevöl-
kerung vor Erdbeben schützen wollen. Auf
der ganzen Welt rettet frühzeitige Diagno-
se Leben. In der Türkei dagegen wird, falls
wir das je erleben sollten, nur eine freie
Presse den Bürgern das Leben retten.
Aus dem Türkischen vonSabine Adatepe

Seit vielen Jahren kämpft der Chefka-
meramann des Filmklassikers „Das
Boot“ um mehr Geld für seinen Anteil
am Erfolg – nun steht der Streit vor sei-
ner Entscheidung durch den Bundesge-
richtshof (BGH). Der Fall wirft sehr
grundsätzliche und komplizierte Fra-
gen auf, wie die dreistündige Verhand-
lung in Karlsruhe am Mittwoch zeigte.
Ihr Urteil wollen die obersten Zivilrich-
ter in den kommenden Monaten ver-
künden. (Az. I ZR 176/18) Der Spiel-
film von Regisseur Wolfgang Petersen
wurde seinerzeit in sechs Kategorien
für den Oscar nominiert und spielte
viele Millionen Euro ein. Kamera-
mann Jost Vacano hatte für die Produk-
tion Anfang der 1980er Jahre umge-
rechnet etwa 100 000 Euro erhalten –
und will eine Nachvergütung durchset-
zen. Seit 2002 sieht der „Fairness-Para-
graph“ im Urheberrecht diese Möglich-
keit vor, wenn vereinbarte Gegenleis-
tung und später erzielte Erträge in auf-
fälligem Missverhältnis stehen.
Das Verfahren vor dem BGH rich-
tet sich gegen acht ARD-Anstalten,
die „Das Boot“ in ihren Programmen
vielfach ausgestrahlt haben. Das Stutt-
garter Oberlandesgericht (OLG) hatte
Vacano dafür nachträglich 2018 insge-
samt rund 315 000 Euro plus Umsatz-
steuer zugesprochen. Dagegen haben
beide Seiten Revision eingelegt. „Das
hat immense wirtschaftliche Bedeu-
tung für die öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten“, sagte der BGH-
Anwalt der Sender. Eine Schwierig-
keit liegt darin, dass die über den
Rundfunkbeitrag finanzierten Anstal-
ten durch die Ausstrahlung keine Ein-
nahmen erzielen. Die Frage ist, wie
sich ihr Vorteil dann bemessen lässt.
Das OLG hatte sich an tarifvertragli-
chen Vergütungsregelungen orien-
tiert. Das halten die Anstalten für pro-
blematisch. In einem zweiten Verfah-
ren unter anderem gegen die Produkti-
onsfirma hatte das OLG München Va-
cano rund 588 000 Euro zugespro-
chen. Beim BGH ist eine Beschwerde
anhängig, weil hier keine Revision zu-
gelassen wurde. Der Senat wollte am
Mittwochnachmittag auch darüber be-
raten. dpa/F.A.Z.

BRIEF
AUS
ISTANBUL

Kultur ist nicht nur Musik


Die Fälschungen des ehemaligen „Spie-
gel“-Reporters und Stars des Gesell-
schaftsressorts, Claas Relotius, zeiti-
gen weitere kleine Nachbeben: Das
Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“
ordnet sein Ressort für Reportagen
neu und will es fortan „Reporter“ statt
„Gesellschaft“ nennen. Die Seiten in
der Mitte des Magazins werden der
Platz für Reportagen, Porträts, Reports
und große Rekonstruktionen bleiben,
künftig sollen sie aber auch von Kolle-
gen aus anderen Ressorts bestückt wer-
den. Das teilte der Verlag am Mittwoch
in Hamburg mit.
Gesellschaftliche Themen sollen
demnach künftig dort stehen, wo sie
am besten hinpassen. Dazu „Spiegel“-
Chefredakteur Steffen Klusmann: „Be-
sondere Erzählstücke sind ein wichti-
ger Bestandteil der DNA des Spiegel,
daran ändern auch die Fälschungen
von Claas Relotius nichts.“ An der bis-
herigen Teamstärke des Ressorts mit
rund einem Dutzend Mitarbeitern
wird sich nichts ändern, aber an der
Leitung des Ressorts, wie es vom Ver-
lag weiter hieß. Es wird künftig von
der bisherigen stellvertretenden Leite-
rin Özlem Gezer geführt. Nach dem
Fälschungsskandal um Relotius, der
zum Gesellschaftsressort zählte, muss-
te Matthias Geyer die Leitung des Res-
sorts abgeben. dpa/F.A.Z.

Pressefreiheit könnte Leben retten


Drohende Erdbeben, krebserregende Substanzen – der türkischen Bevölkerung werden Informationen vorenthalten / Von Bülent Mumay


Das goldene Boot
Kameramann streitet für Bezahlung

Hassan, ras


nicht so!


Die zweite Staffel der Serie


Countdown Copenhagen


Nach der Podiumsdiskus-


sion unter dem Titel „hr


minus Kultur?“: Neues zu


einer Radioreform, die


nach wie vor einer Ab-


wicklung gleichkommt.


Ein ziemlicher Hecht: Johannes Las-
sen alsPhilip Nørgaard. Foto ZDF


Umetikettierung
„Der Spiegel“ benennt Ressort um

Was bleibt erhalten? Die Debatte um die Veränderung der hr2-Kulturwelle geht weiter. Foto hr

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