Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.10.2019

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SEITE 4·FREITAG, 4. OKTOBER 2019·NR. 230 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


B


eim offiziellen Festakt zum Tag der
Deutschen Einheit in Kiel hat Bun-
deskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu
Offenheit und zur Wahrnehmung von
persönlicher Verantwortung aufgerufen
und sich gegen Intoleranz, Ausgrenzung
und Hass ausgesprochen. Sie erinnerte
in ihrer Festrede an die Opfer der SED-
Diktatur und würdigte Bürger, welche
die SED-Strukturen vor Ort entmachtet
und in den Dialog gezwungen hätten.
„Freiheit ist immer Freiheit und Verant-
wortung“, sagte Merkel bei der Feier in
der Kieler Sparkassen-Arena. Die
„Wucht der Einigung“ sei für viele Men-
schen in Ostdeutschland auch ein Ver-
lust von Lebenssicherheit gewesen. Das
gelte es anzuerkennen. Auch für sie
habe die deutsche Einheit mit einem
„Kulturschock“ begonnen. Doch auch
wenn die Enttäuschung noch so groß
sei, dürfe es niemals akzeptiert werden,
dass andere „wegen ihrer Hautfarbe, we-
gen ihrer Religion, ihres Geschlechts, ih-
rer sexuellen Orientierung“ ausge-

grenzt, bedroht oder angegriffen wür-
den, so Merkel. Über große Herausforde-
rungen müsse offen, lebendig und kon-
trovers diskutiert werden. Man dürfe
sich dafür aber nicht in „Blasen oder
Echokammern“ bewegen. Auch dürften
die Ursachen von Schwierigkeiten nicht
bei den Eliten gesucht werden. „Setzte
sich ein solches Denken durch, führte
dies ins Elend“, sagte Merkel.
Merkel wies darauf hin, dass sich Ost
und West schon in vielen Bereichen an-
genähert hätten. Insgesamt seien die
Menschen so zufrieden wie noch nie seit
der Wiedervereinigung. Gleichzeitig
müssten Politik und Gesellschaft aber
verstehen, „dass und warum die deut-
sche Einheit für viele Menschen in den
ostdeutschen Ländern nicht nur eine po-
sitive Erfahrung gewesen ist“. Die Mehr-
heit der Ostdeutschen verstehe sich als
„Bürger zweiter Klasse“. Allein durch
die Verbesserung der wirtschaftlichen
Lage gehe noch keine Identifikation mit
der Demokratie einher.

Schleswig-Holsteins Ministerpräsi-
dent Daniel Günther (CDU) forderte
die Menschen dazu auf, „deutlich mehr
Zeit für gemeinsame Lösungen“ aufzu-
wenden und bei anderen nicht nur Feh-
ler zu suchen. Die Deutschen könnten
sich wirklich glücklich schätzen. „Ande-
re beneiden uns um unser verlässliches
Gemeinwesen“, sagte Günther. Es gebe
„objektiv keinen Grund, verzweifelt zu
sein“. Die Menschen in der DDR seien
extrem mutig gewesen, sagte Günther.
Es sei eine Verhöhnung dieser Men-
schen, „wenn Parteien heute diesen Mut
für ihre parteipolitischen Zwecke miss-
brauchen und von der Wende 2.0 re-
den“. Der Begriff der Wende bleibe sin-
gulär und untrennbar mit dem Ende der
DDR verbunden, sagte Günther.
Am Donnerstagmorgen waren Angela
Merkel sowie Bundespräsident Frank-
Walter Steinmeier, Bundestagspräsident
Wolfgang Schäuble und Bundesverfas-
sungsgerichtspräsident Andreas Voßkuh-
le am Kieler Schifffahrtsmuseum von

Ministerpräsident Günther und dem Kie-
ler Oberbürgermeister Ulf Kämpfer
(SPD) empfangen worden und besuch-
ten danach einen ökumenischen Gottes-
dienst in der Kieler Nikolaikirche. Ne-
ben dem zentralen Festakt in der Kieler
Sparkassen-Arena wurde der Tag der
Deutschen Einheit in Kiel auch mit ei-
nem Bürgerfest begangen, das bereits
am Mittwoch eröffnet worden war. Ne-
ben den 16 Bundesländern stellten sich
dort Institutionen, Vereine und Verbän-
de den Besuchern vor.
Die Feier fand in der Landeshaupt-
stadt Kiel statt, da Schleswig-Holstein
den Vorsitz im Bundesrat inne hat. Am
Donnerstagnachmittag übergab Daniel
Günther dann den symbolischen Staffel-
stab an Brandenburgs Ministerpräsident
Dietmar Woidke (SPD). Zum 1. Novem-
ber wird Brandenburg den Vorsitz im
Bundesrat von Schleswig-Holstein über-
nehmen – und dann die zentrale Feier
zum Tag der Deutschen Einheit im kom-
menden Jahr ausrichten. (jawa.)

„Es gibt objektiv keinen Grund, verzweifelt zu sein“


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Alle außer Merkel mit Partnern:Daniel Günther, Wolfgang Schäuble, Frank-Walter Steinmeier, Angela Merkel und Andreas Voßkuhle am Donnerstag in Kiel Foto EPA


Sanders unterbricht Wahlkampf
Bernie Sanders, der in den Umfragen zum
Spitzentrio zählende Bewerber um die Prä-
sidentschaftskandidatur der Demokraten
in Amerika, setzt seine Wahlkampfauftrit-
te wegen einer Herzoperation vorerst aus.
Dem sozialistischen Senator aus Vermont
gehe es inzwischen wieder gut, er werde
sich aber „einige Tage“ ausruhen, teilte
sein Wahlkampfteam mit. Der 78 Jahre
alte Politiker hatte eine Arterienverstop-
fung, weswegen ihm zwei Gefäßstützen
eingesetzt wurden. Sanders hatte am
Dienstagabend über Schmerzen im Brust-
bereich geklagt. Joe Biden und Elizabeth
Warren, die mit ihm das Bewerberfeld an-
führen, wünschten ihm schnelle Gene-
sung. Am 15. Oktober soll die nächste
Fernsehdebatte stattfinden. (sat.)

Abgeordnete legen Amtseid ab
Während Israels Ministerpräsident Benja-
min Netanjahu um sein politisches Über-
leben kämpft, hat das neu gewählte israe-
lische Parlament seine Arbeit aufgenom-
men. Die Abgeordneten der Knesset leg-
ten am Donnerstag ihren Amtseid ab. Im
Justizministerium wurde derweil die An-
hörung zu Korruptionsvorwürfen gegen
Netanjahu fortgesetzt, an deren Ende
eine Anklageerhebung stehen könnte. Zu-
vor hatte die Liste Blau-Weiß des Netanja-
hu-Rivalen Benny Gantz Gespräche über
die Bildung einer Einheitsregierung kurz-
fristig abgesagt. Befürchtet wird, dass die
politische Patt-Situation seit der vorgezo-
genen Wahl Mitte September zu einer
sehr kurzen Parlamentsperiode führen
könnte, an deren Ende die dritte Wahl in-
nerhalb eines Jahres stünde. Bei der Wahl
hatte Netanjahus Likud 32 Mandate er-
rungen. Gantz’ Liste Blau-Weiß kam auf
33 Sitze. Bislang verfügt keines der bei-
den Lager über eine Mehrheit in der 120
Sitze zählenden Knesset. Staatschef Reu-
ven Rivlin erteilte schließlich Netanjahu
den Auftrag zur Regierungsbildung. Net-
anjahus Likud erklärte am Donnerstag,
die Partei „überlege, interne Wahlen abzu-
halten“, um zu beweisen, dass sie hinter
Netanjahu stehe und es keine „Rebellion“
gegen ihn gebe. (AFP)

Mafiajäger übernimmt Gericht
Papst Franziskus hat den angesehenen
Mafiajäger Giuseppe Pignatone zum neu-
en Gerichtspräsidenten des Vatikanstaa-
tes ernannt. Das teilte der Heilige Stuhl
am Donnerstag mit. Der 70 Jahre alte pen-
sionierte Jurist war bis Anfang des Jahres
Generalstaatsanwalt in Rom. In dieser
Funktion hatte er wesentlichen Anteil an
den Ermittlungen gegen die „Mafia Capi-
tale“, ein kriminelles Netz aus Unterwelt
und Mitarbeitern der römischen Stadtver-
waltung, dem 2015 der Prozess gemacht
wurde. (dpa)

Wichtiges in Kürze


HAMBURG, 3. Oktober


I


n Hamburg haben die Grünen bei
den Bezirkswahlen einen großen Er-
folg gefeiert. In mehreren Bezirken
waren sie zur stärksten Kraft aufgestie-
gen und hatten die Vorherrschaft der
SPD gebrochen. In dem Bezirk Mitte
aber ist gut vier Monate später weder
von der Freude viel übrig noch von der
Mehrheit. Stattdessen bleibt nach einer
parteiinternen Schlammschlacht viel Bit-
terkeit. Am Mittwoch kündigten sechs
Bezirksabgeordnete ihren Austritt aus
der Partei an – verbunden mit massiven
Vorwürfen gegen den Landesvorstand.
Und das nur wenige Monate, bevor es in
Hamburg wieder ernst wird und die Bür-
gerschaft gewählt wird.
Begonnen hat alles kurz nach dem Tri-
umph Ende Mai. Während Grüne in an-
deren Bezirken schon begannen auszulo-
ten, was sie mit ihrer neuen Macht alles
anfangen könnten, nahm die Fraktion in
Mitte zwei neue Abgeordnete nicht in
ihre Reihen auf: Shafi Sediqi und Fatih
Can Karismaz. In der lokalen Presse
tauchten bald Berichte über Islamis-
mus-Vorwürfe gegen die beiden auf. Bei
Karismaz ging es um angeblich fragwür-
dige Äußerungen über das Verhältnis
von Koran und Grundgesetz, Sediqi soll
vor einigen Jahren dreimal kleine Beträ-

ge für Sozialprojekte an eine Organisati-
on gespendet haben, die laut Verfas-
sungsschutz islamistische Gruppen un-
terstützt. Sediqi sagt, er habe davon
nichts gewusst und mit Extremismus
nichts zu tun. Der Fraktionsvorsitzende
Manuel Muja äußerte damals, er sei
vom Landesvorstand über die Vorwürfe
informiert worden. In einer E-Mail an
Parteimitglieder schrieb er, es seien
Zweifel aufgekommen, „ob sich die be-
schuldigten Personen in vollem Umfang
zu unserem Grundgesetz und unseren
Grundwerten bekennen“. Es kam zum
Eklat, vier andere Bezirksabgeordnete,
unter ihnen Meryem Celikkol, die 2017
Direktkandidatin für den Bundestag
war, solidarisierten sich mit Sediqi und
Karismaz. Sie gründeten daraufhin eine
eigene Fraktion in der Bezirksversamm-
lung, „Grüne 2“. Der Landesvorstand lei-
tete gegen die sechs Politiker ein Partei-
ausschlussverfahren ein.
Am Mittwoch sitzt Celikkol mit Sedi-
qi, Karismaz und einem weiteren Abge-
ordneten nun vor der Presse und begrün-
det, warum sie die Fraktion aufgelöst ha-
ben und alle aus der Partei ausgetreten
sind. Sie spricht mit Blick auf den Um-
gang mit Sediqi und Karismaz von ei-
nem Tabubruch, sie spricht von Denun-
zierung. Sie spricht davon, wie belas-
tend die vergangenen Monate gewesen
seien. Ihre Kritik richtet sich gegen den
Landesverband. Auch Karismaz und Ce-
likkol sprechen von einer großen Belas-
tung, seitdem die Vorwürfe kursierten.
Celikkol sagt, dass sein Ruf und seine be-
rufliche Existenz durch die „Schmutz-
kampagne“ zerstört worden seien. Karis-
maz sagt, dass er sich nach dem Studium
um eine Arbeit bewerbe: „Aber googeln
Sie mal meinen Namen... “ Bei ihm
käme hinzu, dass die Vorwürfe in einem
gemeinsamen Gespräch längst ausge-

räumt worden seien. Teil des Ausschluss-
verfahrens waren sie bei ihm nicht
mehr. Celikkol wollte sich auf so ein Ge-
spräch nicht einlassen. Er spricht von ei-
nem „Kreuzverhör“.
Der Landesvorstand der Hamburger
Grünen bestreitet, jemals Namen oder
Inhalte der Vorwürfe veröffentlicht
oder bestätigt zu haben. Er gibt aber an,
dass Karismaz seine Sicht der Dinge in
einem Gespräch dargelegt habe und der
Ausschlussantrag gegen ihn nur noch
mit der Gründung einer eigenen Frakti-
on begründet sei. Es heißt aber auch, es
gebe daneben nach wie vor erheblich da-
von abweichende Aussagen aus der Mit-
gliedschaft, die dem Landesvorstand
vorlägen. Der stellvertretende Landes-
vorsitzende Martin Bill äußert, der Par-
teiaustritt der sechs wäre bereits nach
der Gründung der eigenen Fraktion ein
„logischer und konsequenter Schritt“ ge-
wesen. Die Gründung einer konkurrie-
renden Fraktion sei mit einer Parteimit-
gliedschaft nicht vereinbar. Er sagt
auch, Sediqi habe bis heute nicht zu den
„betreffenden Themen“ gegenüber der
Partei Stellung genommen. Deshalb sei-
en „die offenen Fragen“ Teil des Aus-
schlussantrags gegen ihn gewesen. „Mit
dem Austritt geht Herr Sediqi auch der
letzten Möglichkeit aus dem Weg, sich
den Vorwürfen inhaltlich zu stellen“,
sagt Bill.
Das Ausschlussverfahren ist nun je-
denfalls hinfällig, und für den Landes-
verband ist es zwar ein Ende mit Schre-
cken – aber immerhin ein Ende. Und für
die SPD, deren Vorherrschaft doch ge-
brochen schien, bietet sich nun die Mög-
lichkeit, ihre Macht im Bezirk ganz
ohne die Grünen zu sichern. Zumindest
verhandeln die sechs abtrünnigen Abge-
ordneten nach eigenen Angaben bereits
über einen Beitritt zur SPD-Fraktion.

pca.BERLIN, 3. Oktober. Die Bundesre-
gierung will trotz erhöhter Anschlagsge-
fahr auch in Zukunft Polizisten zu Ausbil-
dungsprojekten nach Afghanistan schi-
cken. Das teilte das Innenministerium
mit. Am Standort im nördlichen Mazar e
Sharif werde die Ausbildung ohne Ein-
schränkung fortgesetzt, in Kabul „im Rah-
men der Möglichkeiten fortgeführt“. Die
Entsendung deutscher Polizisten sollte
nach einem schweren Anschlag aus Sicht
der Gewerkschaft der Polizei enden. Der
Vorsitzende Oliver Malchow sagte: „Das
deutsche Ausbildungsprogramm in Kabul
sollte sofort ausgesetzt werden, da die Si-
cherheitslage aktuell so heikel ist, dass
bei einer Fortsetzung die Sicherheit der
Beamten auf dem Spiel steht.“ Die Ge-
schäftsführerin der Organisation „Save
the Children“ hielt dem entgegen: „Die
Forderung, die deutschen Beamten abzu-
ziehen, ist im ersten Moment nachvoll-
ziehbar. Doch sie wäre das falsche Si-
gnal.“ Ohne die Sicherheitskräfte könn-
ten internationale Organisationen in Af-
ghanistan nicht arbeiten. Innenminister
Horst Seehofer (CSU) sagte: „Auf dem
Weg zu einem dauerhaften Frieden, zu Si-
cherheit und stabilen staatlichen Verhält-
nissen braucht die afghanische Regierung
weiterhin unsere Unterstützung. Deshalb
werden wir dieses erfolgreiche deutsch-af-
ghanische Polizeiprojekt auch fortset-
zen.“ Gegenwärtig befinden sich nach An-
gaben des Innenministeriums zehn Poli-
zisten in sicheren Unterkünften in der
deutschen Botschaft und auf dem militäri-
schen Teil des Flughafens.

Jürgen Stock 60


Weltpolizist ist er nicht. Doch Jürgen
Stock legt Wert darauf, dass er als Gene-
ralsekretär von Interpol mehr zu sagen
hat als der Präsident jener Organisation,
in der sich nahezu alle Staaten der Welt
zusammengeschlossen haben, um Krimi-
nalität besser zu bekämpfen. Stock ist
nicht nur der erste Deutsche auf dem Pos-
ten des Generalsekretärs. Der aus dem
mittelhessischen Wetzlar stammende Be-
amte hat das Polizeihandwerk von der
Pike auf gelernt. Wie so mancher Strei-
fenpolizist wollte er seine rechtlichen
Kenntnisse an der Universität vertiefen.
Nach dem Referendariat kehrte er 1996
zur Polizei zurück – als Referent beim
Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesba-
den. Vier Jahre später übernahm der wis-
senschaftlich ambitionierte Beamte im
BKA die Leitung der Abteilung „Krimi-
nalistisches Institut“. 2004 wurde Stock
Vizepräsident der Behörde. Bei Interpol
gehörte der promovierte Jurist schon
von 2005 bis 2007 dem Exekutivkomitee
an, dann wurde er 2007 durch die Gene-
ralversammlung zu einem der insgesamt
drei Vizepräsidenten dieses Komitees ge-
wählt. 2014 wurde Stock neuer General-
sekretär der im französischen Lyon an-
sässigen Behörde. In wenigen Tagen
steht er zur Wiederwahl an. Interpol
sieht sich als unpolitischer Mittler von In-
formationen, kann sich aber, da prak-
tisch alle Länder Mitglied sind, politi-
schen Verstrickungen nicht entziehen:
So war sein chinesischer Interpol-Präsi-
dent zeitweise verschwunden und wurde
später in seiner Heimat unter dem Vor-
wurf der Bestechung in Haft genommen.
Generalsekretär Stock kann sich Refor-
men auf dem Feld des Rechtsschutzes
und Anstrengungen bei der Terrorismus-
bekämpfung zugutehalten. An diesem
Freitag wird er 60 Jahre alt. (Mü.)


Albrecht von Boeselager 70
Die Wahl Albrecht von Boeselagers zum
Großkanzler des Souveränen Malteseror-
dens verstanden manche Traditionalisten
als Affront. Denn der deutsche Freiherr
sah als Hauptaufgabe des Ordens nicht
rückwärtsgewandtes Zeremoniell und
Pomp, sondern Caritas. Im Alter von 20
Jahren arbeitete er erstmals als Betreuer
an einer Behindertenwallfahrt der Malte-
ser nach Lourdes mit. Von 1989 bis 2014
war Boeselager „Großhospitalier“ und da-
mit der oberste Verantwortliche für huma-
nitäre Hilfe und medizinische Einrichtun-
gen der Organisation, die in 120 Ländern
tätig ist. Mit dem Amt des Großkanzlers
hat Boeselager 2014 die operative Füh-
rung der internationalen Organisation
übernommen. Er ist dabei Regierungs-
chef eines souveränen Staates ohne Terri-
torium, und diesen außergewöhnlichen
Status seiner Organisation nutzt er wie-
derum zur Förderung der humanitären
Arbeit. Von Boeselager stellt ohnehin
nicht die Geschichte des Ritterordens
und seine jahrhundertelange Herrschaft
zunächst über Rhodos und dann in Malta
in den Mittelpunkt, sondern den Um-
stand, dass die Wurzeln des Ordens in ei-
nem 1048 in Jerusalem eröffneten Hospi-
tal liegen. Von Napoleon aus Malta ver-
trieben, hat der Orden seit 1834 seinen
Sitz im Magistralpalast in Rom. Dort gab
es 2016 eine Palastrevolution, als der da-
malige Großmeister, sozusagen der
Staatspräsident, den Großkanzler absetz-
te, um den Orden mehr als Bollwerk ge-
gen den Papst und für Traditionen wie die
Messe nach altem katholischen Ritus zu
positionieren. Doch Papst Franziskus er-
griff Partei für den deutschen Freiherrn
und erzwang den Rücktritt des Großmeis-
ters. Boeselager kehrte in sein Amt zu-
rück und wurde 2018 für eine neue Amts-
zeit von fünf Jahren bestätigt. An diesem
Freitag wird der gelernte Rechtsanwalt
70 Jahre alt. (tp.)

rso.STUTTGART, 3. Oktober. In der
„Mobbing- und Bossing-Affäre“ der
Gewerkschaft der Polizei“ (GdP) hat
der Bundesvorsitzende Oliver Mal-
chow eine Niederlage erlitten. Das Lan-
desarbeitsgericht Berlin-Brandenburg
entschied letztinstanzlich, dass der
GdP-Bundesvorstand die auf Betrei-
ben Malchows vom Dienst suspendier-
te Betriebsratsvorsitzende weiter be-
schäftigen muss. Die Richter stellten
fest, dass es keinen „gewichtigen
Grund“ zur Suspendierung der Be-
triebsratsvorsitzenden gegeben habe,
auch eine abermalige Störung des Be-
triebsfriedens sei nicht zu erwarten, so-
mit gebe es keine Wiederholungsge-
fahr.
Die GdP-Betriebsratsvorsitzende
hatte die Bundesvorstandsmitglieder
ihrer Gewerkschaft Anfang 2019 per
Brief über fragwürdige Führungsme-
thoden Malchows informiert. Der Bun-
desvorsitzende führe Mitarbeiterge-
spräche „inquisitorisch, hart sowie un-
nachgiebig“; Gespräche zur Gehalts-
eingruppierung glichen „kleinen Hin-
richtungen“, hatte eine Betroffene be-
richtet. Die Betriebsratsvorsitzende
stützte ihre Behauptungen auf anony-
me Protokolle mehrerer Kolleginnen,
die bei Gesprächen angefertigt worden
waren. Bezüglich dieser Vorwürfe kam
das Landesarbeitsgericht Berlin-Bran-
denburg zur Auffassung, dass die Brie-
fe der Betriebsratsvorsitzenden keine
„falschen Tatsachen“ enthielten. „Es
lässt sich ihnen noch nicht einmal ent-
nehmen, der Betriebsrat mache sich
die Darstellung der betroffenen Arbeit-
nehmerinnen vollständig zu eigen“,
heißt es in der Urteilsbegründung.
Der Fall dürfte in der Nachkriegsge-
schichte der deutschen Gewerkschaf-
ten einzigartig sein. Malchow sagte auf
Anfrage dieser Zeitung, er habe die
Entscheidung zur Kenntnis genom-
men: „Zugleich stelle ich in diesem Zu-
sammenhang klar, dass sich die ange-
strebte und letztlich gescheiterte Sus-
pendierung gegen sie als Mitarbeiterin
und nicht als Betriebsratsmitglied in
der GdP-Bundesgeschäftsstelle in Ber-
lin gerichtet hat.“ Im Übrigen habe die
Betriebsratsvorsitzende zwei vom Ge-
richt vorgeschlagene Vergleiche abge-
lehnt. Die Frage, ob er einen Rücktritt
erwäge, ließ Malchow unbeantwortet.
Zu innerbetrieblichen und arbeitsrecht-
lichen Konflikten äußere sich der
GdP-Bundesvorstand nicht öffentlich.


Nicht mehr Teil der Mannschaft


Seehofer hält an


Polizeihilfe für


Afghanistan fest


Personalien


GdP durfte


Betriebsrätin


nicht suspendieren


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DieGrünenhatten nach den
Bezirkswahlen in Hamburg
beste Chancen, die Macht der
SPD zu brechen. In Mitte
kam es nach dem Erfolg zu
einer Schlammschlacht – mit
verheerenden Folgen.

Von Matthias Wyssuwa

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