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er mich etwas besser kennt,
weiß, dass ich kürzlich im
Urlaub war. Die anderen ha-
ben es den sozialen Netzwer-
ken entnommen, auf denen
ich täglich ca. 18 Bilder aus
Los Angeles gepostet habe.
Das hätte ich natürlich auch lassen kön-
nen, von wegen im Moment
leben und so – aber die Stadt
war einfach zu spektakulär, um
nicht diverse „Er ist jetzt an
einem besseren Ort“-Fotos mit
der Welt zu teilen.
Was man dem Internet eher
nicht entnehmen kann, ist
meine unglaubliche Fähigkeit,
selbst an den entferntesten
Spots der Welt schnell einen
konkreten Tagesablauf zu ent-
werfen. Der Jetlag ist noch
nicht ganz aus dem Körper, da
habe ich bereits einen Rhyth-
mus, nach dem sich auch die
Folgetage richten müssen: 7.30
Uhr aufstehen, der erste Kaffee
um acht Uhr draußen in der
Sonne am Pool, Nachrichten
lesen, gegen 9.30 Uhr gemein-
sames Frühstück, danach klei-
nes Nickerchen (sie)/Sport (ich),
12 bis 14 Uhr am Pool liegen
und lesen, dann irgendwohin
fahren, spazieren gehen, 19 Uhr
Abendessen.
Es ist wirklich erstaunlich.
Ist Urlaub nicht die Zeit, dem
Gewohnten zu entfliehen? Also
nicht nur räumlich, sondern
eben auch strukturell? Nicht so
bei mir. Es geht nicht. Während
andere eine Ausfransung der
Tage und Wochen genießen,
scheint es bei mir eine natürliche Neigung
zu geben, den Dingen einen festen Ablauf
zu verleihen. Ich meine, es geht ja schon
bei der Uhrzeit los. Wer ist so bescheuert,
freiwillig um 7.30 Uhr aufzustehen? Gut,
der Deutsche steht gern um 5.45 Uhr auf,
um die Liegen am Pool zu besetzen, aber
das ist es bei mir ja nicht. Die Fernreise
wird zur StrukTour. Ist es womöglich
Vererbung? Diesen grenz-Asperger’schen
Drang, dem Tag einen berechenbaren Ab-
lauf abzutrotzen, hat schon mein Vater an
den Tag gelegt. Müsste ich für irgendein
Ratespiel tippen, wo der Mann an einem
beliebigen Datum zwischen dem 2. 1. 1964
und 30. 8. 2019 war und was er da wohl
gemacht hat, würde mir das mit einiger
Sicherheit gelingen.
Mir selbst ist es zwar immerhin ge-
lungen, einer von außen vorgegebenen
Gleichförmigkeit des Lebens durch Auf-
kündigung meiner Festanstellung zu
entkommen. Doch was hat das geändert?
Als Freiberufler hätte ich das gottgegebe-
ne Recht, erst um 16 Uhr aufzustehen.
Stattdessen: 7.30 Uhr raus und erst einmal
ins Café zur morgendlichen
Runde mit Freunden, die dann
gegen neun alle auf dem Weg
zu einem geregelten Beruf
sind, während ich noch einen
Espresso bestelle. Wenn ich’s
recht bedenke, ist dieses Ritual
eigentlich ein probates Mittel,
um den Eintritt ins Rentner-
dasein später gar nicht zu be-
merken. Eine schöne Form der
Nobelverwahrlosung und alle-
mal besser, als daheim am Flie-
sentisch Zigaretten zu drehen.
Andererseits: Warum so früh
aufstehen, um in ein Café zu
gehen? Ist es eine Art Büro-
Placebo? Der Versuch, an einen
Ort zu gehen, an dem man „ge-
braucht“ wird? Der unerträgli-
chen Leichtigkeit des Nirgend-
woseinmüssens zu entfliehen?
Ich bin nun nicht wirklich
unterbeschäftigt. Da ist es ganz
klug, die Wochenbestandteile
durchzuritualisieren, um mit
den Aufträgen nicht komplett
durcheinanderzugeraten. Aber
dass ich selbst an arbeitsfreien
Tagen dazu neige, mir tetris-
artig so viele Privattermine
reinzuquetschen, dass ich am
Ende doch wieder in Stress ge-
rate, das ist dann wirklich
schon eine Zwangsstörung.
Kein Wunder, dass ich ganz dankbar bin,
für den stern schreiben zu dürfen. So weiß
ich immer schon genau, was ich vor dem
Donnerstag zu tun habe. 2
Viele vermuten, dass Menschen, die nicht
ins Büro müssen, ein Lotterleben führen. Dabei ist
man sich selbst der gnadenloseste Taktgeber
Struktur-Zwang
76 26.9. 20 19
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BEISENHERZ
Der Autor und Moderator Micky Beisenherz („Das Lachen der Anderen“, „ZDF Heute-Show“, „Extra 3“)
schreibt alle zwei Wochen im stern – und regelmäßig auch bei stern.de
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ILLUSTRATION: DIETER BRAUN/STERN; FOTO: DAVID MAUPILÉ