Süddeutsche Zeitung - 09.10.2019

(sharon) #1
von christian zaschke

D


onald Trump gibt gern damit an,
wie groß sein Rückhalt in der repu-
blikanischen Partei sei. In unregel-
mäßigen Abständen verkündet er auf Twit-
ter, wie sehr die Partei ihn schätze. Zuletzt
schrieb er, dass 95 Prozent der Republika-
ner auf seiner Seite stünden und bedankte
sich dafür. Der Clou ist, dass sich Trump
diese Zahl ausgedacht hat. Es gibt keine Er-
hebung, in der er solche Zustimmungswer-
te erreicht. Vermutlich erreicht er solche
Werte nicht einmal in seiner Familie.
In seinen Tweets hingegen wächst die
Zahl beständig. Noch vor einem Jahr
schrieb er von „mehr als 90 Prozent“
Zustimmung. Dann arbeitete er sich vor,
über 92, 93 und 94 Prozent, bis er nun bei
95 Prozent gelandet ist. Wie man Trump
kennt, dürfte er spätestens vor den Wahlen
im Herbst kommenden Jahres von Werten
künden, die gut über 100 Prozent liegen.
Trump mag die Zahlen erfinden, aber es
ist natürlich dennoch beileibe nicht so, als
wäre er unbeliebt in der Partei. Die Basis
steht fest zu ihm, und auch das Partei-Esta-
blishment hat er mittlerweile so sehr im
Griff, dass er es in der Regel nach seinem
Gutdünken in diese oder jene Richtung
biegen kann. Nun aber ist es ihm gelungen,
fast alle seine Parteifreunde gegen sich auf-
zubringen, die sich in seltener Eintracht ge-
gen ihn stellen. Man könnte den Eindruck
gewinnen, dass Trump zu 95 Prozent Ab-
lehnung entgegenschlägt.


Gelungen ist ihm das mit seiner Ent-
scheidung, die amerikanischen Truppen
aus Nordsyrien abzuziehen. Trump hatte
am Sonntag mit dem türkischen Präsiden-
ten Recep Tayyip Erdoğan telefoniert,
wenig später verkündete er auf Twitter, es
sei an der Zeit, die „lächerlichen endlosen
Kriege“ zu beenden. Die Beobachter in
Washington schätzen, Trump habe die Ent-
scheidung aus dem Bauch heraus getrof-
fen und dann eben in sein Handy getippt.
Trump misstraut dem außenpoliti-
schen Establishment zutiefst. Er glaubt,
dass viele Mitarbeiter des Außenministeri-
ums und der CIA zu jenem „tiefen Staat“
gehören, der ihn unterminieren oder gar
aus dem Amt drängen will. Deshalb trifft
er seine außenpolitischen Entscheidungen
zunehmend allein. Dann verkündet er sie
rasch, ohne Konsultationen, sodass seine
Mitarbeiter einfach damit umgehen müs-
sen, was er gerade entschieden hat.

Das funktionierte in der Regel recht gut,
da Trumps Umfeld entweder kuscht oder,
wie zum Beispiel im Fall des vormaligen
Verteidigungsministers Jim Mattis, zu-
rücktritt. Mattis war zurückgetreten, nach-
dem Trump im vergangenen Winter schon
einmal angekündigt hatte, er wolle die

amerikanischen Truppen aus Syrien abzie-
hen. Nachdem Mattis einsehen musste,
dass er Trump nicht davon überzeugen
konnte, dass das keine gute Idee sei, gab er
sein Amt entnervt auf. Mattis hat gesagt, er
werde keine Interna preisgeben, solange
Trump im Amt sei, was aber natürlich in
Aussicht stellt, er könnte alle Interna preis-
geben, sobald Trump nicht mehr im Amt
ist, weshalb sich Teile Washingtons schon

jetzt auf das Buch freuen, das er dann
schreiben wird.
Dass Trump die Truppen in Nordsyrien
abziehen will, geht auf seinen Wahlkampf
zurück, in dem er versprochen hatte, Ame-
rika werde nicht länger den Weltpolizisten
geben, das sei zu teuer. Seine Berater er-
klärten ihm, dass Amerika auch deshalb
den Weltpolizisten gebe, um Konflikte zu
verhindern, die später noch viel teurer

würden. Im konkreten Fall in Syrien ist die
Befürchtung, dass die Türkei nach einem
Abzug der Amerikaner in den Norden des
Landes einmarschieren könnte, um gegen
die dort lebenden Kurden vorzugehen.
Diese waren jedoch die treuesten Ver-
bündeten der Amerikaner im Kampf ge-
gen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS).
Wenn die Kurden sich gegen die Türken
verteidigen müssten und ihre Ressourcen
dadurch gebunden wären, könnte das zu
einer Renaissance des IS führen. Zudem be-
wachen die Kurden mehrere Gefangenenla-
ger, in denen 10000 vormalige Kämpfer
des IS festgehalten werden. Die Befürch-
tung ist, dass diese Kämpfer auf freien Fuß
gelangen, wenn die Kurden sich der Bedro-
hung durch die Türken widmen müssten.

Führende Republikaner versuchen nun,
Präsident Trump zum Umdenken zu bewe-
gen. Bemerkenswert ist dabei, dass selbst
seine treuesten Gefolgsleute sich offen kri-
tisch äußern. So viel Mut war zuletzt selten
bei den Republikanern. Der Senator Lind-
sey Graham, sonst der größte Verteidiger
Trumps überhaupt, nannte dessen Ent-
scheidung „kurzsichtig und unverantwort-
lich“, das sind nahezu unerhörte Worte. Die
Abgeordnete Liz Cheney sprach von einem

„katastrophalen Fehler“. Der Senator Mar-
co Rubio sprach von einem „schwerwiegen-
den Irrtum“, der Folgen haben werde, die
weit über Syrien hinausgingen. Die frühe-
re UN-Botschafterin Nikki Haley schrieb,
die USA müssten immer treu zu ihren Ver-
bündeten stehen. Zudem benutzte sie den
bemerkenswert undiplomatischen Hash-
tag #TurkeyIsNotOurFriend – die Türkei
ist nicht unser Freund.
Als Trump sah, dass seine Zustim-
mungswerte in diesem Fall ausnahmswei-
se nicht ganz bei 95 Prozent lagen, meldete
er sich erneut bei Twitter zu Wort, wo
sonst. „Wie ich schon zuvor gesagt habe
und hier nur wiederhole: Wenn die Türkei
irgendetwas unternimmt, das ich, in mei-
ner großen und unvergleichlichen Weis-
heit, als Grenzüberschreitung bewerte,
werde ich die türkische Wirtschaft vollstän-
dig zerstören und auslöschen (wie ich es
schon einmal getan habe!).“
Trump hatte tatsächlich von seiner „gro-
ßen und unvergleichlichen Weisheit“ ge-
schrieben. Nach diesem Tweet war die drän-
gendste Frage in Washington natürlich
nicht mehr, wie man Trump von seiner Syri-
en-Idee abbringt, sondern die, ob der Präsi-
dent womöglich keine einzige Tasse mehr
im Schrank hat. In den Comedy-Shows
herrscht große, ja endzeitliche Heiterkeit
über Donald Trump, und es war Stephen
Colbert, Gastgeber der sehr witzigen „Late
Show“, der die Frage stellte, die derzeit
wohl halb Amerika bewegt: „Können wir
Donald Trump das Telefon wegnehmen?“

von isabel pfaff

D


er letzte Felsbrocken donnerte
Ende August ins Tal. Um die
hundert Tonnen, steingrau,
die Einschlaglöcher im Rasen
sind noch deutlich zu sehen.
Ein Mann aus dem Dorf hat den Moment
mit dem Handy aufgenommen, Staubwol-
ken, dumpfes Dröhnen, dann rumpelt der
Stein auf die Straße zu, rollt drüber und
bleibt nicht weit vom Spielplatz liegen.
Ganz in der Nähe haben sich zwei weitere
Felsbrocken in die Wiese gerammt, gleich
am Ortsschild, wie zur Begrüßung.
Brienz, Kanton Graubünden, Südost-
schweiz: ein Bergdorf auf gut 1100 Metern
Höhe, 85 Einwohner, die meisten roma-
nischsprachig, zur Hochsaison sind hier
auch noch 200 Feriengäste. Eine Kirche
mit honigfarbenem Glockenturm, sogar
ein Restaurant, das das ganze Jahr geöff-
net hat. Und ein Berg, der rutscht.
Georgin Bonifazi zuckt mit den Schul-
tern. „Solche Gesteinsbrocken sehen wir
hier oft.“ Er ist ein bulliger Mann mit gro-
ßen Händen und sanfter Stimme. Die Wie-
se, auf der der Felsbrocken zum Liegen ge-
kommen ist, gehört ihm, aber das bringt
ihn nicht aus der Fassung. Man müsse halt
drumherum mähen, ja, aber das sei kein
Vergleich zu dem Aufwand, den es kosten
würde, den Stein wegzuräumen. „Das ist
halt so und fertig.“ Seit seiner Geburt vor
55 Jahren lebt Bonifazi in Brienz, er hat den
Bauernhof der Familie übernommen, jetzt
hält er Kühe in vierter Generation. Den
Berg beobachtet er, seit er denken kann.
Wenn ein Felsbrocken herabdonnert, er-
kennt er die Größe des Steins am Klang.
Doch selbst einer wie Georgin Bonifazi
ist nicht mehr so gelassen wie früher. „Ich
mache mir inzwischen schon große Sor-
gen.“ Immer öfter reißt die Erde auf seinen
Wiesen auf, schieben sich Grasflächen
übereinander. Manchmal senkt sich der
Boden um einen halben Meter ab – gefähr-
lich für die Kühe, aber auch für ihn selbst
oder seine Maschinen. Sein Stall, 2001 ge-
baut, hat in den vergangenen Jahren im-
mer mehr Risse bekommen. Denn nicht
nur der Hang über Brienz bewegt sich und
schickt Felsbrocken nach unten.


Auch das Dorf ist in Bewegung. Die Plat-
te, auf der das Dorf liegt, rutscht Richtung
Tal. Sie tut das seit Jahrzehnten, doch seit
etwa drei Jahren rutscht sie schneller. Bis
2000 hat sich Brienz im Jahresschnitt weni-
ger als zehn Zentimeter bewegt. Inzwi-
schen rutscht das Dorf mehr als einen Me-
ter. Im Jahr. Der Hang über Brienz ver-
schiebt sich jährlich sogar um vier Meter.
Die Folgen sind überall zu sehen: Die
Straße, die zum Dorf führt, ist an einer Stel-
le so oft aufgerissen, dass der Kanton sie
dort nicht mehr repariert und eine unbefes-
tigte Piste draus gemacht hat. Viele der
Häuser im Dorf haben Risse, eine Garage
ist zur Hälfte abgesunken, ein Stall hält
sich nur noch mit Metallstützen aufrecht.
„Das ist eine beschissene Situation“,
sagt Georgin Bonifazi. Er sitzt an seinem
Küchentisch und zeigt auf die noch hellen
Holzbalken unter der Decke. Das Haus ha-
ben seine Frau und er erst vor zwei Jahren
gebaut, die Genehmigung bekamen sie ge-
rade noch rechtzeitig, bevor ein Bauverbot
in Brienz verhängt wurde. Auch in ihren Be-
trieb haben sie in den vergangenen Jahren
immer wieder investiert. Die Bonifazis
halten rund 30 Mutterkühe mit ihren Käl-
bern, sie verkaufen das Fleisch. Jetzt läuft
der Betrieb, und zwei der vier Kinder
haben Interesse, ihn zu übernehmen. Geor-
gin Bonifazi lächelt traurig. „Aber wenn
das so weitergeht, gibt es bald nicht mehr
viel zu übernehmen.“
Dabei hat die bedrohte Gemeinde schon
einiges versucht. Zwei steinerne Dämme
fangen einen Teil der Felsen auf, die von
oben kommen. Ein Tachymeter im Dorf
scannt alle zwei Stunden die Felswand und
dokumentiert die Veränderungen. Weil
das Gerät bei Nebel aber nichts aufnehmen


kann, hat die Gemeinde auch ein Radarge-
rät aufgestellt, das die Felswand perma-
nent überwacht. Die Informationen laufen
bei einem Geologie-Büro zusammen, das
die Ergebnisse für die Gemeinde auswer-
tet und im Zweifelsfall Alarm schlägt. Seit
April 2017 herrscht Bauverbot in Brienz,
seit 2018 darf man die Rutschzone über
dem Dorf nicht mehr betreten. Auch ein
Teil der Kantonsstraße wird überwacht: Ei-
ne Ampel schaltet auf Rot, wenn die Radar-
anlage Steinschläge meldet.
„Das passiert an einem normalen Tag et-
wa vier bis fünf Mal“, sagt Daniel Albertin,
„bei starkem Regen 20 bis 25 Mal.“ Alber-
tin, lichtes Haar, hellblaue Augen, ist der
Präsident der Gemeinde Albula, zu der
Brienz gehört. Seit ein paar Jahren ver-
sucht er, den Brienzern klarzumachen,
dass sich etwas verändert hat. Dass die
Steinschläge heftiger werden und dass das
Dorf immer schneller rutscht. Und dass es
durchaus sein kann, dass man Brienz ir-
gendwann evakuieren muss. „Die Wahr-
scheinlichkeit eines Bergrutschs ist sehr
gering, wirklich sehr gering“, sagt Albertin.
„Aber wir müssen auch auf das vorbereitet
sein, womit keiner rechnet.“
Drei mögliche Szenarien haben Geolo-
gen für den Hang über Brienz entworfen.
Szenario A ist im Grunde der heutige
Stand, immer wieder werden Felsen abbre-
chen und auf die Kantonsstraße zwischen
Brienz und Lenz rollen. Szenario B: Ein gan-
zes Felspaket rutscht ab, so nennen das die
Geologen und meinen bis zu vier Millionen
Kubikmeter Gestein. Ein solcher Sturz wür-

de mindestens Teile von Brienz verschüt-
ten, bei einem schnellen Abgang auch Häu-
ser in den Nachbardörfern. Unwahrschein-
lich, aber möglich ist Szenario C: Die ge-
samte Rutschmasse des Berges käme her-
unter, um die 22 Millionen Kubikmeter.
Brienz und die Nachbarorte wären begra-
ben, Häuser, Straßen, Wiesen, alles.
An diesem Tag ist von der Gefahr nichts
zu spüren. Der Gemeindepräsident spa-
ziert durch das Dorf, begrüßt einen alten
Mann auf Rätoromanisch, winkt einem
kleinen Mädchen, das mit seiner Mutter
am Dorfbrunnen spielt. Die Sonne scheint
auf die alten Bauernhäuser, in den Gärten
biegen sich die Tomatenstauden. „Ich
weiß von niemandem, der hier wegwill“,
sagt Daniel Albertin.

Im Juni hat er die Evakuierungspläne
für Brienz und die Nachbardörfer vorge-
stellt. Viele Bewohner waren überrascht da-
von, wie detailliert die Gemeindeleitung
sich auf das Worst-Case-Szenario vorberei-
tet hat. Aber Panik? Nein, Panik habe er
nicht gespürt, sagt Daniel Albertin. Einen
Bergrutsch könne man ja dank der ständi-
gen Überwachung um mehrere Wochen
vorhersagen. „Außerdem leben wir hier
von der Hoffnung, dass sich alles wieder be-
ruhigt.“
Sich beruhigen? Felsmassen, die immer
schneller Richtung Tal rutschen? Doch Da-
niel Albertin weiß, wovon er spricht. Er ist
eigentlich Bauer, hat seinen Hof auf der an-
deren Seite des Tals. Aber fast die Hälfte
seiner Zeit verbringt er mit dem Gemeinde-

job. Er hat sich tief in die Rutschmaterie
eingearbeitet, kann stundenlang von den
verschiedenen Messungen und Szenarien
erzählen. Er weiß, dass es kein Schweizer
Bergdorf gibt, das so gefährdet ist wie
Brienz, mit zwei rutschenden Felsschollen,
die sich derart schnell bewegen. Aber er
weiß auch, dass es Möglichkeiten gibt, den
Bergrutsch aufzuhalten.
Der Mann, der Brienz retten könnte,
trägt ein einfaches T-Shirt, Jeans und Voll-
bart. Thomas Breitenmoser hat sein Auto
am alten Schulhaus geparkt, gleich neben
der Steinschlag-Ampel. Er verliert nicht
viele Worte, holt lieber einen dicken Pa-
cken Papier aus dem Kofferraum und brei-
tet ihn im Dorfgasthof auf dem Tisch aus:
physische Karten von Brienz, Fotos von Ge-
steinsproben, der Berg im Profil. Breiten-
moser ist Geologe, er kennt die Beschaffen-
heit des Bodens und der Berge in Mittel-
bünden, weiß, dass es in dieser Region
schon immer zu Rutschungen kam. „Steile
Berge, tiefe Täler, das ist ganz normal.“
Was er noch nicht weiß: Warum sich die
Rutschung über und unter Brienz so be-
schleunigt hat.
Breitenmoser zeigt auf sechs über das
Dorf verstreute farbige Punkte: „Unsere
Bohrstandorte.“ Sein Büro untersucht im
Auftrag der Gemeinde und des Kantons
die Gesteinsschichten unter Brienz. Am En-
de soll ein Modell der Rutschung heraus-
kommen, eine Art Profil der Felsscholle:
wie groß sie ist, wo genau sie rutscht und
wo der Fels wieder kompakt und rutsch-
fest wird.

Die Bohrmannschaft macht gerade Mit-
tagspause, als Breitenmoser an Bohrstand-
ort Nummer fünf die langen, schmalen
Holzkästen öffnet, in denen die Arbeiter
die Gesteinsproben aufbewahren. Manche
der Bohrkerne sind bröselig und zerfallen,
andere sind rund und fest. „Das zeigt uns,
in welcher Tiefe sich die Hauptgleitfläche
befindet“, sagt Breitenmoser. Die Bohrun-
gen sind fast am Ende, inzwischen ist klar:
„Brienz sitzt auf einem etwa 150 Meter
mächtigen Rutschkörper und bewegt sich
als Ganzes talwärts.“
Breitenmosers Team untersucht aber
nicht nur das Gestein. Die Geologen versu-
chen auch herauszufinden, welche Rolle
das Wasser spielt. Denn sobald Wasser auf
die Gleitfläche kommt, verliert der bewegli-
che Fels noch mehr an Festigkeit. Im Früh-
sommer haben Breitenmosers Leute oben
auf der Felskante Markierstoffe in den Un-
tergrund gegeben, um zu sehen, ob Wasser
vom Berg in die Rutschung hineinfließt
und welche Wege es nimmt. Sie messen
auch die Wassermenge, die aus den Quel-
len unten ankommt und vergleichen die
Daten mit den Niederschlägen.

Am Ende, so ist die Hoffnung, kann Tho-
mas Breitenmoser der Gemeinde eine Ant-
wort auf die Frage geben, warum der Berg
in Brienz so schnell rutscht – und wie das
verhindert werden kann. Im Moment ver-
mutet der Geologe, dass Regen und Schnee
das Problem sind. Und zwar nicht die Men-
ge, die sei über die vergangenen Jahre
gleich geblieben. „Aber der Niederschlag
fällt immer öfter in großen Einzel-
ereignissen“, sagt Breitenmoser, eine Fol-
ge des Klimawandels. Wenn also Massen
an schmelzendem Schnee oder Regen auf
den Berg treffen, machen sie das lose Ge-
stein zu einer Art Rutschbahn und schi-
cken es talabwärts. Helfen könnte ein Ent-
wässerungssystem, ein unterirdischer
Tunnel etwa, der dem Gestein das Wasser
entzieht.
„Denkbar ist aber auch, dass der Hang
sein Gleichgewicht sucht“, sagt Breitenmo-
ser. Er zeigt auf die Albula, den Fluss unten
im Tal. Dort fehlt eine Art Fuß, ein Fels-
sockel, der die rutschende Scholle brem-
sen könnte – und so trägt der Fluss das Ge-
stein einfach ab, und von oben rutscht der
Berg nach. „Man könnte überlegen, das
Flussbett aufzuschütten und die Albula
entweder unterirdisch weiterzuführen
oder umzuleiten.“
Doch erst einmal müssen die Geologen
zu Ende messen, wahrscheinlich bis zum
Wintereinbruch im nächsten Jahr. Land-
wirt Georgin Bonifazi schüttelt den Kopf.
Er vertraut der Gemeinde, glaubt, dass sie
grundsätzlich das Richtige tut. Doch er
sagt auch: „Wenn wir noch lange darauf
warten müssen, dass etwas passiert, hat es
unsere Häuser zerrissen.“ Er versteht
nicht, warum man nicht jetzt schon kleine
Schritte unternimmt. Einzelne Hänge ent-
wässern zum Beispiel, das haben die Dorf-
bewohner schon Anfang des 20. Jahrhun-
derts gemacht. Oder den Damm an der
Kantonsstraße um ein paar Meter verlän-
gern, damit die Steine nicht mehr links
und rechts dran vorbeirollen.
Dann hätten die Brienzer vielleicht auch
weniger Scherereien mit dem Rutschtou-
rismus. So nennt Georgin Bonifazi das neu
erwachte Interesse am Dorf. Täglich wür-
den Autos auf der Kantonsstraße halten,
um den jüngsten Felsbrocken zu bewun-
dern. Andere zerstampfen das Gras auf
den Wiesen, um sich einmal den berühm-
ten Rutschhang anzusehen. Bonifazi är-
gert das. Am schlimmsten fand der Land-
wirt, als ihn vier Radfahrer vor seinem
Haus anhielten und fragten, wie das denn
so sei, in Brienz zu leben. „Ich kam mir vor
wie im Zoo.“
Draußen steht die Sonne jetzt tief am
Himmel. Der Hang liegt bewegungslos da,
die Ampel zeigt nichts an. Lautlos scannt
der Tachymeter die Felswand, ein paar
Hundert Meter weiter surrt der Radar. Ein
ganz normaler Tag in Brienz.

DEFGH Nr. 233, Mittwoch, 9. Oktober 2019 (^) DIE SEITE DREI HF2 3
„Rutschtouristen“ nennen sie die
Leute, die ins Dorf kommen und
fragen, wie das Leben hier so sei
Seit langer Zeit rutscht die Platte, auf der das Dorf steht, seit 2016 aber geht es so schnell wie nie zuvor, einen Meter pro Jahr. FOTO: OH
Der Berg kommt
Hinterihnen ein Hang, der rutscht, unter ihnen ein Boden, der ebenfalls rutscht:
Wie sie im Schweizer Dorf Brienz lernen, mit neuen Gefahren zu leben
Es gibt drei Szenarien für das
Dorf. Nur eines davon wäre nicht
verheerend für die Bewohner
„Eine beschissene Situation“: Georgin
Bonifazi hat 2017 sein Haus gebaut.
Keiner wolle weg, sagt Daniel Albertin,
der Gemeindepräsident. FOTOS: PFAFF
Es geht nicht mehr um die Türkei
und Syrien. Es geht darum, ob
der Präsident noch ganz dicht ist
Wenn Trump eine Entscheidung
trifft, kuschen die meisten. Die
andere Option ist: zurücktreten
Männertreffen in Washington: Einer, der macht, was ihm gerade einfällt, und vier,
die das dann irgendwie rechtfertigen. FOTO: BRENDAN SMIALOWSKI / AFP
Sonst ist aber alles okay
Ist es noch eine Nachricht, wenn der Präsident einen irren Tweet absetzt? Nein? Und wenn es der wirklich bisher allerirrste Tweet ist? Donald Trump, Twitter und gewisse Sorgen in Washington

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