Süddeutsche Zeitung - 09.10.2019

(sharon) #1
von philipp crone

W


enn man hört, was Leute in die-
sem Beruf erleben, kann man
sich schon fragen: Warum möch-
te Michael Schulz, ein 25 Jahre alter Mann
mit der Statur eines Holzfällers und der Ru-
he eines Hüttenwirts, Polizeibergführer
werden?
Schulz sitzt am Dienstag vergangener
Woche auf der Terrasse des Kletterzen-
trums Thalkirchen in der Sonne, in einer
halben Stunde wird er von Bayerns Innen-
minister Joachim Herrmann zum Bergfüh-
rer ernannt. Neben Schulz sitzt sein Ausbil-
der Walter Schmid, dem man an der wetter-
gegerbten braunen Haut und den Augen,
die vom vielen Sonnenlicht in den Bergen
gerötet sind, die alpine Erfahrung deutlich
ansieht. Beide tragen ein dunkelblaues Po-
lo-Shirt mit Polizei-Aufdruck, das über den
trainierten Armen liegt. Ausbilder Schmid
könnte in jedem Film die Rolle eines erfah-
renen Vollathleten geben. Ist der 58-Jähri-
ge auch. Seit Jahrzehnten bildet er Polizei-
bergführer aus, unter anderem, indem er
ihnen von seinen Erlebnissen erzählt. Etwa
dem, als er mal zu einem Leichenfund geru-
fen wurde. Die Person war schon einige
Zeit vermisst, zwei 18-jährige Bergretter
und Ersthelfer warteten am Fundort auf
Schmid.


Bergretter kommen von der Bergwacht
und immer dann im Einsatz, wenn jemand
verletzt ist. Sobald ein Bergsteiger tödlich
verunglückt, kommt der Polizeibergführer
dazu. „Wir prüfen, warum ein Unfall pas-
siert ist und ob jemand die Schuld daran
trägt“, sagt Schmid, „ob eine Straftat oder
eine Ordnungswidrigkeit vorliegt.“ Fast im-
mer geht es um Unfälle bei den Polizeiberg-
führern. „Die Einsätze, bei denen wir we-
gen eines kriminellen Vorfalls gerufen wer-
den, liegen bei weniger als fünf Prozent.“
Dann aber rücken die Polizisten mit Waffe
und Schutzwesten in die Berge aus.
Genau genommen warteten an dem
Tag, als Ausbilder Schmid zu dem dem Lei-
chenfund gerufen wurde, die 18-jährigen
Bergretter einhundert Meter entfernt von
dem Toten. „Die haben das nicht ertragen.“
Was? „Die Leiche, die war in keinem guten
Zustand.“ Polizisten bemühen sich norma-
lerweise um eine dezente Pressemittei-
lungssprache, eine möglichst weiche Wort-
wahl. In den Bergen ist das oft nicht mög-
lich, Schmid sagt: „Die Leiche war nur noch
in Teilen, es gab Tierfraß und Verwesung.“
Er hat für solche Fälle immer einen Mund-
schutz und dicke Handschuhe dabei – und
er hat in dem Moment die jungen Bergret-
ter erst psychologisch betreut, ehe er sich
um den Toten kümmerte.
Michael Schulz hört der Erzählung zu.
Das also kann in seinem neuen Job passie-
ren. Warum macht er das dann?
Zum einen klingt es, als hätte er familiär
keine wirkliche Wahl gehabt. Der Vater ist
Polizeibergführer und wurde ebenfalls bei
dem Mann mit den Gletscher-Blick ausge-
bildet, Schulz’ Bruder ist auch Polizist, „nur
die Schwester hat was Gscheits gmacht“,
sagt er, schaut seinen Ausbilder an und
lacht. Natürlich ist das ein Witz, der junge
Polizist wirkt wie ein etwas aufgedrehter
Schüler vor der Vergabe der Abschlusszeug-
nisse. Gleich ist er endlich Polizeibergfüh-
rer, gleich kann er loslegen.
Nach der Schule bewarb sich Schulz so-
fort bei der Polizei, die Entscheidung war
klar, „der Beruf hat einen sportlichen Cha-
rakter, ist interessant, man ist draußen
und hat mit vielen Leuten zu tun – netten
und nicht so netten“. Schulz stammt aus Ro-
senheim und ist jetzt in Dachau stationiert.
Wenn er nicht zu einem Bergeinsatz geru-
fen wird, arbeitet er wie alle Polizeibergfüh-
rer regulär beim Unterstützungskomman-
do USK, in seinem Fall eben in der Einheit
Dachau, zu der er nach der Ausbildung
kam. Um beim USK unterzukommen,
muss man bereits besondere, unter ande-
rem sportliche Voraussetzungen erfüllen,
bei den Polizeibergführern sind die Anfor-
derungen noch höher. „Man muss ein ferti-
ger Bergsteiger sein, wenn man sich be-
wirbt“, sagt Ausbilder Schmid. Das bedeu-


tet: im Fels, im Eis und im Schnee sicher
sein. „Er muss also Gletscher meistern kön-
nen, Eiswände oder gefrorene Wasserfälle,
sich genauso aber auch im winterlichen
Hochgebirge zurechtfinden, mit Skiern vor-
wärts kommen und verschneite Felsen
überwinden können“, sagt Schmid. 52 Poli-
zeibergführer sind es nun seit vergange-
nem Dienstag bei der bayerischen Polizei,
zwei Frauen, 50 Männer.
Bevor sich jemand bewerben darf, wird
er zunächst zu Einsätzen eingeladen und
von den Ausbildern beobachtet. „Wir brau-
chen Teamplayer“, sagt Schmid. Sind das
nicht alle bei der Polizei? Die Gletscher-Au-
gen des Mannes weiten sich. Offenbar
nicht.
Ein Test für die angehenden Bergpolizis-
ten ist zum Beispiel: 1100 Höhenmeter mit
sieben Kilo Gepäck gehen, anschließend
mit schweren Stiefeln eine Route des fünf-
ten Schwierigkeitsgrads klettern. „Das ist
schon ganz schön schwierig“, sagt Schmid,
Schulz nickt. 80 Minuten haben die Anwär-
ter Zeit. Wer 81 braucht, „kann seine Sa-
chen packen“. Elf Anwärter wurden zur Aus-
bildung zugelassen, die genauso streng ab-
läuft wie die Eignungsprüfungen. Von elf
gestarteten Polizisten blieben am Ende sie-
ben übrig, die nun ihre Urkunde erhalten.
Und demnächst Einsätze erleben werden
wie etwa den Fall des verunglückten Segel-
fliegers, der vor ein paar Jahren in die Nord-
seite des Ettaler Mandl geflogen war, ab-
stürzte und starb. „In dem Fall wollte ein
Sachverständiger die Unfallstelle begutach-
ten und den müssen wir dann da eben hin-
bringen“, sagt Schmid. Mit Seilen und extra
für die Tour präparierten Wegen bringen
die Polizeibergführer dann ungeübte Men-
schen in die Berge, zum Beispiel auch einen
Staatsanwalt, wenn der sich einen Unfall-

ort noch einmal aus der Nähe ansehen will.
In den meisten Fällen geht es um Unfälle,
wenn Schulz und seine Kollegen ausrü-
cken. Außerdem sind sie oft bei der Suche
nach Vermissten im Einsatz, „und wenn du
einen lebend findest, das ist dann schon ein
sehr gutes Gefühl“. 500 Mal, so wird es In-
nenminister Herrmann später referieren,
seien die Polizeibergführer im vergange-
nen Jahr angefordert worden, zu insge-
samt einhundert Bergunfällen mit 230 Ver-
letzten und 62 Todesfällen, außerdem bei
100 Ski-Unfällen und 60 Vermisstenfällen.

Bei der Ernennung in der Kletterhalle
wird von Helmut Weidel, Alpinbeauftrag-
ter der bayerischen Polizei, beispielhaft ein
Einsatz geschildert. Los geht es mit einem
Anruf: abgestürzter Bergsteiger in der
Watzmann-Nordwand. Dann muss Schmid
von seinem Büro in Dachau los, meistens
geht es mit dem Hubschrauber an den Un-
fallort, in dem Fall zu einem sogenannten
Suchflug an der Wand. Die Unfallstelle
wird lokalisiert und eine leblose Person ent-
deckt, woraufhin zwei Polizeibergführer zu
dem Mann mit der Seilwinde abgelassen
werden, um ihn zu bergen. Dann stellte
man aber fest, dass in einer Biwak-Schach-
tel in der Wand noch drei Kameraden sind,
die betreut werden müssen. Der Hub-
schrauber mit dem Leichensack fliegt ins
Tal, wo nicht selten auch schon jemand vol-
ler Angst und etwas Hoffnung wartet, viel-
leicht die Frau des Verunglückten mit den
zwei kleinen Kindern. Weidel sagt dazu:
„Tragisch, aber das passiert.“ Zwei Bergfüh-

rer sind dann zu Fuß auf dem Weg in die
Wand, um die verbliebenen Bergsteiger
aus dem Biwak zu holen und vom Berg her-
unterzuführen, weil das Wetter schlecht
wurde und der Hubschrauber nicht mehr
starten kann. Ein ganz normaler Einsatz,
wie ihn Schulz demnächst erleben wird.
„Die Zahl der tödlichen Unfälle ist eigent-
lich über die Jahre konstant zwischen
40 und 50 in dem Bereich, den wir verant-
worten“, sagt Ausbilder Schmid, „nur in die-
sem Jahr waren es zwischen Mai und Juli
überraschend viele.“ Warum?
Eine richtige Antwort haben die Polizis-
ten darauf auch nicht, aber einige Beobach-
tungen und Entwicklungen nehmen sie
schon wahr, die das Risiko von Unfällen in
den Bergen erhöhen. Ausbilder Schmid
sagt: „Zum einen geht es darum, sich ge-
nug Gedanken über die Tour zu machen.
Mit wem bin ich unterwegs, ist die Route
meinem Können angepasst?“ Dabei solle
man auf keinen Fall auf wahllose Internet-
beschreibungen hören. „Und dann, ganz ba-
nal: umkehren, bevor es zu spät ist.“ Gerade
das falle vielen schwer. Wenn man unbe-
dingt einen Gipfel erreichen wollte, sich
aber dann einzugestehen, dass man das an
dem Tag nicht schafft. Außerdem geht es
auch immer um die richtige Ausrüstung.
„Wenn ich eine Bandschlinge am Gurt drei-
ßig Zentimeter runterbaumeln habe und
mit Steigeisen unterwegs bin, ist das brand-
gefährlich“, sagt Schulz. Ein Stolpern kann
tödlich sein. Und dann ist da noch das Han-
dy.
„Das sollte man immer eingeschaltet ha-
ben, selbst wenn man kein Netz hat“, sagt
Schulz. Denn die Polizisten können einen
mobilen Mobilfunkmasten in die Nähe ei-
nes Verunglückten bringen, sodass er zum
Beispiel aus einer Felsspalte telefonieren

und so mit den Rettern kommunizieren
kann. Das Handy ist aber auch ein Fluch.
„Manche Unternehmungen in den Ber-
gen machen Leute nicht für sich, sondern
für andere, weil sie auf Instagram ein Foto
davon posten wollen.“ Auch das erhöhe das
Risiko. Er erzählt von Videos etwa von
Downhill-Radfahrern, die eine Abfahrt pos-
ten, aber davon nur die ersten 30 Sekun-
den, weil der gesamte Weg zu gefährlich ist
und sie die gar nicht ganz gefahren sind.
Schreiben sie aber nicht dazu. Wenn ande-
re daraufhin den gesamten Weg fahren, ge-
raten sie in Gefahr. Das Gespür fürs Risiko
würde ohnehin einigen mittlerweile abge-
hen.

„Es gab den Fall, dass jemand mit
Schlappen auf den Wendelstein gegangen
ist und sich oben gewundert hat, dass
Schnee liegt“, sagt Schulz. Auch so jeman-
den muss man dann retten. Oder der
Mann, der nicht mehr von einem Berg run-
terkam. Es stellte sich heraus, dass die Hüft-
OP erst sechs Tage zurücklag. Ausbilder
Schmid wurde dazugerufen, weil der Mann
seine Personalien nicht angeben wollte.
„Der hatte sogar Krücken dabei.“
Immer häufiger würden Rettungen bei
der Planung der Bergsteiger sogar mit ein-
kalkuliert. „Leute sagen: Wenn ich nicht
mehr weiterkomme, wähle ich halt die 112,
die holen mich dann raus. Die glauben, sie
hätten einen Anspruch auf Rettung“, sagt
Schulz. Haben sie auch. Das ist das Perfide.
Und nur wenn Polizei oder Bergwacht Fahr-
lässigkeit nachweisen können, ist es mög-
lich, die Einsatzkosten einzufordern.
„Wenn einer verletzt ist, wird der Einsatz ei-
gentlich immer übernommen.“ Das Kosten-
recht der Bergrettung sei kompliziert, sagt
Schmid und weitet wieder die Augen.
Der junge Michael Schulz wirkt bei der
Zahl der Bergsteiger genauso beunruhigt
wie der erfahrene Ausbilder Schmid. Es
werden immer noch mehr. Schmid sagt:
„Manchmal, wenn wieder so viele in den
Bergen unterwegs sind, frage ich mich: Wie
kommen die nur alle wieder heil runter?“
Schulz und Schmid hören Minister Herr-
mann zu, Schulz bekommt seine Urkunde.
Die ganze Gruppe unterhält sich anschlie-
ßend noch, über Einsätze, etwa bei Staats-
besuchen, die auf der Zugspitze stattfin-
den, und die Frage taucht irgendwann auf,
was denn die Polizeibergführer machen,
um mal von ihrem Job etwas abzuschalten.
Michael Schulz antwortet sofort. „In die
Berge gehen.“

Oft hätten die Leute in den Bergen weni-
ger Gespürfür die Gefahren als früher,
findet Polizeibergführer Michael Schulz.
Am wichtigsten: umkehren, bevor es zu
spät ist. FOTOS: MOSES OMEOGO, BERND FEIL/IMAGO

Einmal mussten sie jemanden
bergen,der sechs Tage nach einer
Hüft-OP auf einen Berg stieg

„Wie kommen die alle heil runter?“


Vermisste suchen, bei Unfällen die Schuldfrage klären – Michael Schulz ist einer von sieben neu ernannten Polizeibergführern.
Wenn er zu einem Einsatz in den Bergen gerufen wird, hat es der 25-Jährige meist mit tragischen Situationen zu tun, manchmal aber auch mit absurden

Die körperlichen Anforderungen


sind enorm, von elf Anwärtern


schafften die Ausbildung sieben


R6 (^) LEUTE Mittwoch, 9. Oktober 2019, Nr. 233 DEFGH
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