Neue Zürcher Zeitung - 03.11.2019

(Barré) #1

Donnerstag, 3. Oktober 2019 ZÜRICH UND REGION21


Die linke Bauernversteherin

Ständeratskandidatin Marionna Schlatter will die Grünen auf dem Land salonfähig machen – nur die Wirtschaft bleibt un berücksichtigt


ANDRÉ MÜLLER


Es ist angenehm frisch an diesem Sep-
tembermorgen im Zürcher Oberland,die
letzten Hitzetage liegen noch nicht lange
zurück. Etwas Nebel hängt über den
grünen Hügeln bei Bubikon, dieWie-
sen rund umJürg Raths’Bauernhof sind
noch feucht. Marionna Schlatterwar-
tet, mit lila Stiefeln und grünerJacke der
Witterung angepasst, alleinvor dem Hof
auf ihr Publikum. Die grüne Ständerats-
kandidatin wird heute Interessierte durch
den Betrieb führen, auf dem dieFamilie
Raths nach den strengenDemeter-Richt-
linienBeeren anbaut: Himbeeren,Brom-
beeren,schwarze Johannisbeeren und
mancherlei mehr.
Das grüne Paradies bei Bubikon
steht sinnbildlich für dieKoalition, die
Marionna Schlatter mit ihrer Kandida-
tur zimmern möchte: Sie willBauern
und Ökos zusammenbringen,Landeier
und Stadt-Hipster, migrantische Arbei-
terinnen undAlnatura-Freunde. Schlat-
ter ist die perfekte Kandidatin für diese
grüne Super-Allianz – dass sie bei die-
sen Wahlen funktioniert,ist aber so gut
wie ausgeschlossen.


Die Grüne vom Land


9 Uhr 30: Die Gäste trudeln ein, ein klei-
ne rVeloparkplatz entsteht beim Schopf.
Der Fussmarsch vomBahnhof Bubi-
kon dauert eine knappeViertelstunde,
dennoch kommt keiner der rund dreis-
sigTeilnehmer mit demAuto.DerAuftritt
ist ein Heimspiel für Marionna Schlatter.
Während die Gruppe durch Raths’
hoheWiesen zu denBeerenstauden stie-
felt, nimmt sie kein Blatt vor den Mund.
«80 Prozent derBöden unserer intensiv
genutzten Landwirtschaftsflächen sind
so tot wie dieWüste.» Keine Artenviel-
falt, überdüngt, ausgelaugt.Dabei zeige
Raths’ Hof, dass esauch anders gehe.Auf
einer mit schwarzen, engmaschigen Ha-
gel- undVogelschutznetzen eingehegten
Intensivfläche von 70Aren bautFami-
lie Raths mehr als einDutzend Haupt-
produkte an, vor allem verschiedeneBee-
rensorten. Hinzu gesellen sichwohl über
hundertweitere Pflanzensorten.
Orte wie Bubikon – eher ländlich,
aber mit der S-Bahn sehr gut erschlos-
sen – spielen für die von den Grünen
herbeigesehnte «Klimawahl» eine wich-
tige Rolle. Schon bei den Kantonsrats-
wahlen imFrühling landete diePartei
hier mit knapp 13 Prozent auf dem drit-
ten Platz – direkt hinter der zweitplat-
zierten GLP, vor SP und FDP. Die Par-
teipräsidentin ist das grüneAushänge-
schild im Oberland: In Hinwil bewohnt
sie mit ihrerFamilie ein altes Haus mit
grossem Garten, das sie selber saniert
hat.Aufgewachsen ist die 39-jährige
Soziologin im nahenBäretswil und spä-
ter inWetzikon.
Schlatter führt die Zürcher Grünen
zwar seit gut zwei Legislaturen an, war
bis vor kurzem in der Bevölkerung aber
wenig bekannt. Jedenfallsausserhalb der
Pilzler-Gemeinde. Sie bildet schweiz-
weit die Pilzkontrolleure aus und spricht
regelmässig in den Medien über zuneh-
mendeVergiftungsfälle oder die Gren-
zen von Apps zur Pilzbestimmung. Erst
bei den Kantonsratswahlen imFrühling,
als sie gutgelaunt Martin Neukoms über-
raschenden Einzug in denRegierungsrat
kommentierte, wurde sie zu einem der
Gesichter der grünenWelle.
Die fehlendeBekanntheit mag darauf
zurückzuführen sein, dass sie sich nicht
ins Rampenlicht drängt.Anders als man-
che – gerade städtische – grünePolitiker
trägt MarionnaSchlatter ihre Überzeu-
gungen nicht wie eine Monstranzvor
sich her, was aber nicht heisst, dass sie
moderater oder eingemitteter wäre.
Wer mit ihr politisch zu tun hat, be-
schreibt sie als umgänglich und sattelfest
in ihrenKerndossiers. Freund undFeind
erwähnen auch Schlatters Beharrlichkeit.
«Wie ich selbst kann sie auf einigenThe-
men schon sehr stur sein», sagt der grüne
KantonsratRobert Brunner, «auf dem
Land bei denGrünen zu sein, isteben
schwieriger als in der Stadt.» In Gemein-
den mit bis zu 60 ProzentSVP-Anteil


müsse man sich einiges anhören.Werde
man überJahrzehnteangegriffen, kriege
man eine dickere Haut. «GewisseWerte
hinterfragt man nicht mehr so leicht –
wenn Sie neue AKW wollen, müssen Sie
nicht zu den Grünen», sagt Brunner.
Schrebergärtner und «Beetli»-Schwei-
zer müssenwohl zweimal leer schlucken,
wenn sie Raths’Beeren-Anlage betreten:
Hier darf alles etwas wild und unaufge-
räumt bleiben.Zwischen den Himbeeren
spriessen auch Krautstiel, Randen oder
Ringelblumen; einige umgehackte Mais-
stauden und Sonnenblumen liegen zwi-
schen denReihen herum. Eine angesie-
delteKohlmeisenfamilie soll sich um
Schädlinge kümmern. Ein austariertes
Miteinander von Pflanzen,Tieren und
Pilzen erlaubt es, wenn immer möglich
auf Pflanzenschutzmittel und übermässi-
gen Düngereinsatz zu verzichten.Vom
Bauern erfordert dies viel Handarbeit.

Die Bauernpolitikerin


Geht es um denPestizidverbrauch, for-
dert Schlatter scharfe Massnahmen.
Gleichzeitig bemüht sie sich, nicht den
Landwirten die Schuld für überdüngte
Böden zu geben. Sie wolle die Subven-
tionen nicht senken, sondern anders aus-
richten, ökologischer. Scharfe Kritik übt
sie amFreihandelsvertrag mit den Merco-
sur-Staaten wie Brasilien und Argenti-
nien.Das hören dieBauern gerne.
Schlatter ist es zu verdanken, wenn
sich die Grünen und die ZürcherLand-
wirte angenähert haben, zumindest ein
wenig. Robert Brunner, der selbst mit
ein em Bruder eine Mosterei in Stein-
maur betreibt, sagt, es habe sicher eine
Zeit gebraucht, bis sie als jungeFrau den
Respekt der «Büffel» erlangt habe. Spä-
testens seit derKulturlandinitiative, die
Schlatter massgeblich geprägt hat, gebe
es einen gutenKontakt zurBauernschaft.
«Sie versteht etwas vonProduktions-
fragen und hat einen exzellenten grü-
nen Daumen», sagt Brunner. Sie könne
«Bauerndeutsch», auch weil dieFamilie
ihres Mannes imFurttal selbst bauert.
Dennoch hat der ZürcherBauern-
verband Schlatter nicht unterstützt,
sondern diebürgerlichen StädterRuedi

Noser undRoger Köppel.Laut dem Ge-
schäftsführerFerdi Hodel ist der Ent-
scheid gegen Schlatter deutlich ausgefal-
len. Es liege vor allem an ihrer Haltung
zur Trinkwasser- und zurPestizidinitia-
tive. DieVolksbegehren würden faktisch
auf einVerbot von synthetischenPestizi-
den hinauslaufen,was vieleBauern exis-
tenziell träfe, sagt Hodel.

Die Parteipräsidentin


Abgesehen davon äussert sich Hodel
nuanciert zu Schlatter. Bei der Umset-
zung derKulturlandinitiative habe man
gut zusammenarbeitenkönnen. (Der
Bauernverbandenthielt sich 2012 bei der
Initiative, unterstützte aber die Umset-
zung 2016,die in einererneutenAbstim-
mung schliesslich scheiterte.) Anders als
die GLP-KandidatinTiana Moser, ein
rotes Tuch bei derBauernschaft, ver-
stehe sie die zahlreichen Zielkonflikte, in
denensich dieLandwirte befänden: Die
Politik wolle, dass sie weniger Pflanzen-
schutzmittel ausbringen,aber die Konsu-
menten liessen fleckigeFrüchte und Ge-
müse imRegal liegen.
Im Kantonsrat hat dieParteipräsi-
dentin nochkeine grossen Stricke zerris-
sen – aus bürgerlicher Sicht gilt dieFrak-

tionspräsidentin der Grünen, Esther
Guyer,als Taktgeberin.Allerdings sitzt
Schlatter erst seit demFrühling im Gre-
mium.ImWahlkreis Hinwil waram grü-
nen Langzeit-Kantonsrat Max Homber-
ger vorherkein Vorbeikommen. Schlat-
ter seikeine, die als Präsidentin von
oben herab «denTarif durchgebe», sagt

Robert Brunner, ihr Sitznachbar im
Kantonsrat,«das wäre bei uns auch eine
dumme Idee.».
Unter Schlatters Präsidium haben die
Zürcher Grünen 2015 auch ihre bitterste
Ni ederlage erlitten:Absturz in derWäh-
lergunst, Abwahl vonRegierungsrat
Martin Graf.Wie gross Schlatters An-
teil amAuf und Ab derPartei ist, lässt
sich schwer beurteilen.Die Grünen blei-
ben stark abhängig von derThemenkon-
junktur: 2011 rüttelte dieReaktorkata-
strophe inFukushima die Leute auf, bei
denWahlen 2015 dominierten die Bilder
von Flüchtlingen imBalkan;die Grünen
tauchten, dieSVP triumphierte. Heute
sieht es wieder anders aus.
Auf der Bio-Tour in Bubikon blei-
ben SchlattersAusführungen informa-
tiv, aber auch politisch. «Es heisst immer,
dass Klima- und Naturschutz nichts mit-
einander zu tun hätten, aber das stimmt
nicht», sagt sie. «Biodiversität sorgt für
stabilere Ökosysteme.»Falls es nur noch
Honigbienen gebe und diese von einer
Krankheit dahingerafftwürden, breche
das Ökosystem zusammen. Heute könn-
ten Wildbienenarten immerhin einenTeil
der Bestäubung übernehmen.Überzeug-
tes Nicken unter den Zuhörerinnen und
Zuhörern. «Sie ist jung, intelligent und
hat eine Ahnung von dem,was sie sagt»,
meint eineTeilnehmerin des Rundgangs,
die den Grünen nahesteht.

Die Linke


Auch wenn sie bei denBauern einen
Stein im Brett hat:Eine «Grüne light» ist
Marionna Schlatter nicht. Sie stehtvon
allenKandidatinnen und Kandidaten für
den Ständerat mit Abstand am weites-
ten links, vertritt in der Sozial- undWirt-
schaftspolitik pointiert dieParteilinie.
Sie will mehrVaterschaftsurlaub, mehr
Prämienverbilligungen undkein höhe-
res Rentenalter, nicht einmal fürFrauen.
Sie lehnt Steuersenkungen und die
Zürcher Umsetzung der Steuervorlage
17 ab – im Unterschied zum Beispiel
zum Zürcher Finanzdirektor Daniel
Leupi, der zumindest den ersten Schritt
der Vorlage explizit mitgetragen hatte.
Diese Steuervorlage war das wohl wich-

tigste Anliegen derWirtschaft in die-
ser Legislatur. Die Zürcher Ständeräte
haben zusammen mitSVP-Finanzdirek-
tor Ernst Stocker dafür gesorgt, dass das
Bundesparlament ein Zürich-konformes
Paket schnürt. Die Exportwirtschaft hat
auchkeine Freude daran, dass die Grü-
nen den Mercosur-Vertrag perReferen-
dum stoppen wollen.
«Es istrichtig, dass ich denAus-
tausch mit derWirtschaft nicht bewusst
gesucht habe», sagt Schlatter. Sie habe
zwar lange in der Privatwirtschaft ge-
arbeitet (als Kampagnen-Organisato-
rin), sie wolle aber auch unabhängig
bleiben. Und der «system change», den
viele Klimastreikende fordern? «Der
Slogan der Grünen lautet seit vierzig
Jahren, eine andereWelt sei möglich»,
sagt Schlatter.Von daherkönne man
sich gut damit identifizieren. Selbst-
verständlich auf einer demokratischen
Basis, fügt sie hinzu.
Aufdem Beerenhof in Bubikon strei-
chelt die Gruppe inzwischen Raths’Woll-
säue und geht zum Apéro insTipi, das
die Bauernfamilie zum Übernachten und
fürAnlässe vermietet.Es gibtWähen und
Cassis-Most aus eigenenBeeren. Schlat-
ter s chneidet die Stücke, verteilt sie und
mis cht sich zwanglos unter die Gruppe.
Die vor allem regional verkauften
Produkte des Beerenhofs schmecken
vorzüglich, habenaber ihren Preis. Was
tun Leute,die für 500 GrammKonfitüre
nur dreiFranken zahlen können? Diese
«grün-sozialeFrage» interessiert auch
die Besucher.Alle sollten in die Lage ge-
brachtwerden, sichBioprodukte leisten
zu können, sagt Schlatter. Ko stenwahr-
heit in dem Sinne, dass der ökologische
Mehrwert über Direktzahlungen abge-
goltenwerde, sei wichtig.
Die Parteipräsidentin plädiert aber
auch für Umverteilung. «In einem Satz
zusammengefasst: GrünePolitik geht
nur sozial», sagt Schlatter. «Grosskon-
zerne, die sich an derAusbeutung der
Natur bereichert haben, haben damit
auch grössere Ungleichheit geschaffen.
Das wollen wirkorrigieren.» In Schlat-
ters grün-sozial-bäuerlicherKoalition
hat es für vieles Platz – für eine freie
Wirtschaft eher weniger.

WAHLEN 2019
Wer soll für den Kanton Zürich in den
Ständerat einziehen?Die NZZ stellt die
sieben Kandidatinnen und Kandidatenvor.
Bereits erschienen sindTe xte zu Daniel
Jositsch (sp.), NicoleBarandun (cvp.),
Tiana Moser (glp.),RogerKöppel (svp.)
und Nik Gugger (evp.). Esfolgt noch der
Artikel überRuedi Noser (fdp.).

nzz.ch/zuerich

Die Parteipräsidentin Schlattervon den Zürcher Grünenzeigt auf dem Rundgang durcheinen Demeter-Bauernhof, wie ökologische Landwirtschaft funktioniert. KARIN HOFER/NZZ
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