SEITE 10·MONTAG, 7. OKTOBER 2019·NR. 232 Krimi FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
B
ahnchaos. Ein Sicherungskasten
bei Swindon legt den Pendlerver-
kehr lahm. Im Getümmel um ei-
nen Platz im Schienersatzver-
kehr vulgo Bus erkennt der ehemalige
Spitzel Dickie Bow einen ebenfalls ehe-
maligen sowjetischen Agenten, der ihn
einst gefoltert hat. Er nimmt die Verfol-
gung auf, kassiert einen Stich mit einer
vergifteten Regenschirmspitze und stirbt
noch während der Busfahrt. Offiziell war
es ein Herzinfarkt. Bows letztes Wort, ge-
tippt auf ein uraltes Nokia „mit ungefähr
so vielen Funktionen wie ein Flaschenöff-
ner“: Cicadas.
So klassisch hebt der zweite ins Deut-
sche übertragene Fall für Jackson Lamb
an; der erste, „Slow Horses“, ist letztes
Jahr bei Diogenes erschienen (F.A.Z.
vom 5. November 2018). Im Original be-
gann Mick Herron 2010 mit seiner Reihe
um die ausgemusterten Spione des In-
landsgeheimdienstes MI5, aktuell ist in
diesem Herbst in England der sechste
Band erschienen. Slough House heißt die
fiktive Zweigstelle des MI5, irgendwo hin-
ter der St.-Pauls-Kathedrale in Finsbury
gelegen. Wer hier arbeitet – im vorliegen-
den Fall sind es jenseits des Chefs sieben
Agentinnen und Agenten – hat seine
Laufbahn hinter sich. Auch wenn jede(r)
von ihnen glaubt, es doch zurückschaffen
zu können nach Thames House, dem Sitz
des MI5 am Regent’s Park, geschafft hat
es noch keiner. Sterbezimmer heißt so et-
was in deutschen Banken. Mitarbeiter
durch sinnlosen Kram so lange zermür-
ben, bis sie von selbst kündigen.
Der Titel „Dead Lions“ erinnert an das
Versteckspiel „Sleeping Lions“, bei dem
ein Kind der Jäger ist und alle anderen
sich möglichst unsichtbar machen. Mit
den Zikaden aber hat es Folgendes auf
sich: Die Gattung Magicicada entwickelt
sich siebzehn Jahre unter der Erde, um
dann auf einen Schlüpf-Schlag die ganze
Population auf die Welt loszulassen. Von
diesem Verhalten leitet Herron seine Ar-
beitshypothese ab. Sowjetische Schläfer
haben überwintert, alsbald werden sie
ans Licht kommen.
Aber ergibt sie auch Sinn, da der Auf-
traggeber nicht mehr existiert? Zwar ver-
sucht der „Park“, also der MI5, einen rus-
sischen Oligarchen namens Paschkin
(„so wie der Dichter“) als Informanten zu
ködern, aber so ganz geht die Konstrukti-
on nicht auf. Dennoch kommt sie Jack-
son Lamb, einem Veteranen des Kalten
Krieges, gerade recht. In seinen Augen
leuchten keine Dollarzeichen, sondern
Hammer und Sichel: Sein Feind steht
noch immer im Osten.
Überhaupt, dieser chauvinistische
Menschenschinder Lamb. Raucht, säuft,
furzt. Ein Chefzyniker vor dem Herrn,
der aber für seine Truppe alles tun würde
(ohne es sich anmerken zu lassen). Als
zwei seiner Leute abgeordnet werden,
den Bodyguard für Paschkin zu spielen,
und einer während der Vorbereitung des
Treffens ums Leben kommt, wittert
Lamb den Braten. Und schlägt zu.
Er schicke „nie einen Agenten ins Feld
ohne ihm vorher sämtliche Informatio-
nen an die Hand zu geben“, erklärt er sei-
nem Mitarbeiter River Cartwright, des-
sen Großvater ein hoher Geheimdienst-
ler zur Zeit des Kalten Kriegs war, mit je-
der Menge Leichen, die auf sein Konto ge-
hen. Cartwright bekommt den Auftrag,
der Spur der Schläfer zu folgen. Das liest
sich bei Herron dann so: „Es dauerte fünf
Sekunden, bis River das begriffen hatte.
,InsFeld?‘,Können wir den Teil über-
springen, bei dem Sie ständig wiederho-
len, was ich gerade gesagt habe?‘River
sagte: ,Okay. Übersprungen. Feld. Wo?‘
,Ich hoffe, Sie sind gegen alles geimpft‘,
sagte Lamb. ,Sie fahren nämlich nach
Gloucestershire.“‘
Sarkasmus ist eine der großen Stärken
dieses Autors, schwarzer Humor eine wei-
tere. Und an erzählerischer Phantasie
scheint es ihm auch nicht zu mangeln.
1963 in Newcastle upon Tyne geboren,
blieb Herron nach dem Literaturstudium
in Oxford hängen. Er arbeitet als Lektor
für einen juristischen Verlag in London.
Anders als die Überväter des Agentenro-
mans John Buchan, William Somerset
Maugham, Frederik Forsyth und John le
Carré ist von Herron nicht bekannt, ob er
Beziehungen zu den Geheimdiensten un-
terhält. Auf jeden Fall ist er viel lustiger
als der häufig zähe le Carré.
Herron spielt gekonnt mit Mustern des
Genres und überträgt dessen Regeln in
die Gegenwart, die leider so viel digitaler
und komplizierter geworden ist. Und viel
weniger glamourös. Der Autor schlägt ei-
nen weiteren Nagel in den Sarg der einst
so glorreichen Geheimdienstgeschichte
Britanniens als Teil der überragenden In-
telligenz des Empire. Gentleman-Spione,
das ist Herrons Botschaft, die waren ein-
mal. Diese Entmystifizierung serviert er
vor dem Hintergrund der sich abwärts be-
wegenden Flugbahn der englischen Ge-
sellschaft. Und so sind seine abgewrack-
ten Spione schon wieder Sympathieträ-
ger, fehlbare Menschen, die ein Patzer
die Karriere gekostet hat und die den-
noch nicht aufhören wollen, etwas Gutes
zu tun. Damit spiegelt die Agentenwelt
die soziale Lage des Landes, die sich im
Roman mit Demonstrationen und Tumul-
ten gegen die Üblichkeiten (Banken, Glo-
balisierung, Klimawandel) immer weiter
radikalisiert. Am Ende brennt London,
aber in den Cotswolds spielt man weiter
kultivierte Bürgerlichkeit.
Dem „Economist“ hat Herron unlängst
anvertraut, als „menschliches Wesen und
als Bürger dieses Landes verachte ich so
gut wie alles, was sich derzeit im öffentli-
chen Leben abspielt“. Aber als Romancier
mit Hang zur Satire sei diese Lage „ein Ge-
schenk“. Vor diesem Hintergrund muss
man wohl auch die im Stil eines James-
Bond-Finales reichlich dick aufgetragene
Wendung des Plots als Satire nehmen:
Auch Londoner Hochhäuser sind stehen-
de Einladungen für fliegende Selbstmord-
attentäter. HANNES HINTERMEIER
„Man pfeift nicht am Hafen. Das bringt
Sturm auf See.“ Alte Hafenarbeiterweis-
heit. Hawk muss es wissen, der kam in
den sechziger Jahren als Tramper nach
Hamburg, noch grün hinter den Ohren,
schlief unterm Dach einer Kneipe und
schleppte und wuchtete am Hafen. Aber
irgendjemand pfeift doch immer, und
schon steht das Elend ins Haus.
Ein fischiges, ein heruntergekomme-
nes Hamburg stellt die Kulisse für „Hun-
desohn“, mit im Krieg zerbombten und
nie wieder aufgebauten Ruinen. Das
passt. Die Leute, die verloren in den
Kneipen hocken, trinken und den rauf
und runter dudelnden Liebesschnulzen
lauschen, hat ja auch keiner wieder aufge-
baut. Man kann angesichts dieses von Ar-
chetypen bevölkerten Milieus kaum um-
hin, Vergleiche zu Heinz Strunks „Der
Goldene Handschuh“ zu ziehen. Aber
Strunk gibt den literarischen Verwalter,
er verzeichnet, scheint fast zu dokumen-
tieren. Sonja M. Schultz’ Debüt hingegen
ist von Empathie geprägt, von tiefem Ver-
ständnis für ihre Figuren, für verkrachte
Existenzen und Eigenbrötlerei.
Hawk ist so ein einsamer Wolf. Dem
Hamburger Kiez und seinen Eskapaden
hat er eigentlich längst abgeschworen, als
ihn die Vergangenheit im Sommer 1989
wieder einholt, mehr noch, ihm mit voller
Wucht in den Rücken boxt. In dramatur-
gisch wirkungsvoll plazierten Flashbacks
dröselt die Autorin seine Geschichte auf.
Das fühlt sich bis zu etwa einem Dreivier-
tel der Geschichte an, als lese man noch
immer den Prolog einer mindestens ein-
tausendseitigen Saga. Bis Schultz’ Prosa
es einem im Endspurt einflüstert: Was da
steht, ist schon Drama genug.
Immer erst durch die Hintertür offen-
bart sie die ganze Bitterkeit all der klei-
nen Schnörkel in ihrer Geschichte, der
Anekdoten ihrer Figuren. Corned Beef
auf Brot mit Erdnussbutter, der Gipfel
des Genusses, besinnt sich Hawk auf die
Care-Pakete der Amerikaner, und man
wähnt sich in einer warmen Kindheitser-
innerung. Bis Schultz den Grund für die
unorthodoxe Kombination hinterher-
schiebt: Es galt sich zu beeilen, alles
gleichzeitig zu vertilgen, bevor der jäh-
zornige Vater in seinem verletzten Stolz
alles in die Tonne warf.
So intensiv, zuweilen auch actionreich
es in „Hundesohn“ auch zugeht – die gan-
ze Wirkung, das Bewusstsein für die vol-
le sprachliche Varianz der Autorin entfal-
tet sich erst nach und nach. In einem Ka-
pitel erzählt Schultz von Hawks Mutter.
Flink, gewitzt ist die Sprache, die sie für
die unterforderte junge Frau aus Kansas
findet, die alles hinter sich lässt, um als
Armeesekretärin ins Land der Besiegten
zu gehen. Zackiger die Sprache des deut-
schen Vaters, passiv aggressiv, vom tota-
litären Denken geformt.
Aber Hawk ist das eigentliche Kunst-
stück. Für ihn vermag die Autorin Sätze
zu formulieren, die so schlicht, so knapp
sind, wie er spricht – und zugleich so sen-
sibel und phantasievoll, wie er denkt.
Das Leben scheint ihn so sehr zu elektri-
sieren, wie es ihn überfordert, sein Blick
auf die Welt erzeugt diesen Eindruck ei-
ner kindlich naiven Wahrnehmung, bei-
nahe synästhetisch funkender Synapsen.
Die fortschreitende Zeit misst er anhand
der nachdunkelnden Flecken auf einer
Banane, und seine Bewunderung für Lu,
die Besitzerin seiner Stammkneipe „Les
fleurs du mal“, bringt er anhand zärtli-
cher Beschreibungen ihrer Tattoos von
wogenden Wellen, Fischen, Meerjung-
frauen zum Ausdruck: „Unter ihrem
schwarzen T-Shirt liegt das Meer.“
Lu öffnet Hawks Perspektive, weg von
seiner Vergangenheit, weg von seiner Ge-
genwart, in der ihm jemand an den Kra-
gen will, seine Wohnung verwüstet und
- viel schlimmer – seinen geliebten ro-
ten Alfa Romeo in Flammen aufgehen
lässt. Am Ende einer durchwachten Kon-
zertnacht sitzen die beiden auf einer An-
höhe, von der aus sie die gerade erwa-
chende Stadt besehen wie zwei in der
letzten Reihe eines Bahnhofskinos Ge-
strandete: „Lustig, jetzt klingeln bei den
Soliden die Wecker Sturm. Kannst du’s
hören? Jetzt quälen sie sich aus ihren
Betten. Und wir gucken einfach zu.
Siehst du, wie die Stechuhr wartet? Aber
nicht auf mich.“
Das Verknüpfen persönlichen Elends
mit deutscher Schuld, die daraus resultie-
rende Rebellion gegen alles Bürgerliche,
wie sehr uns die eigene Herkunft prägt
und wie viel davon wir weitervererben –
das alles sind keine neuen Gedankengän-
ge. Besonders ist, wie Sonja M. Schultz
die roten Fäden in „Hundesohn“ zwi-
schen den Wendepunkten des zwanzigs-
ten Jahrhunderts aufspannt, sie im krimi-
nellen Unterbauch der Großstadt verkno-
tet – all das unter der Kutte eines drecki-
gen kleinen, nur scheinbar schnell ver-
dauten Kiezkrimis. KATRIN DOERKSEN
Ein wenig ist Håkan Nesser einem aus
dem Blick geraten in den letzten Jahren,
das kommt sogar bei großen Autoren vor,
auch wenn sie kontinuierlich weiterschrei-
ben. Es mag daran liegen, dass die Wel-
ten, in die er einen eingeladen hat, nicht
mehr den unwiderstehlichen Reiz der frü-
heren haben. Und wenn dann diese alten
Kosmen und deren vertrautes Personal
noch einmal wiederkehren, dann ist der
Gedanke an Einrichtungen wie die Uwe-
Seeler-Traditionself nicht so fern. Nesser
bringt einen ja selbst darauf, wenn in dem
neuen Roman „Der Verein der Linkshän-
der“ gleich mehrmals von einer „starken
Mannschaftsaufstellung“ die Rede ist –
und einer der alten Ermittler gleich hinzu-
setzt: „Auf dem Papier.“
Auf dem Papier des Romans gibt es ein
Nesser-Veteranen-Treffen. Der pensio-
nierte Kommissar van Veeteren natür-
lich, samt Münster, Jung und Ewa More-
no, die noch im Dienst sind und die wir
zuletzt 2003 in „Sein letzter Fall“ erlebt
haben, wobei der Titel mal wieder bestä-
tigt, dass solchen Ankündigungen bei Kri-
miserien nie zu trauen ist. Die Crew aus
Maardam, dem Hauptort des von Nesser
erfundenen namenlosen europäischen
Landes, das nicht Holland, auch nicht
Schweden ist und von beidem etwas hat,
in dem auch manche Ortsnamen baltisch
oder deutsch klingen, diese Altgedienten
werden durch zwei Mordfälle zusammen-
geführt mit Gunnar Barbarotti und Eva
Backman, die zwischen 2006 und 2012
fünfmal ermittelten, zwar in Schweden,
aber in einem fiktiven Städtchen namens
Kymlinge, und die jetzt auch nach Maar-
dam fliegen können.
Solche Familienzusammenführungen
sind noch riskanter als einfache Revivals
mit bekanntem Personal. Sicher nicht für
Erstleser, denen lediglich etwaige Ent-
wicklungen der Figuren entgehen. Aber
es handelt sich hier ja um den Versuch, ge-
wissermaßen die physikalischen Gesetze,
die in dem einen erzählerischen Univer-
sum gelten, mit denen des anderen zu syn-
chronisieren, ohne dass daraus Span-
nungsabfall, Kurzschlüsse oder Assimilie-
rungsverluste entstehen.
Das weiß natürlich ein versierter Wel-
tenerfinder wie der neunundsechzigjähri-
ge Schwede. Deshalb lässt er auch reich-
lich Lesezeit vergehen, bis man vom ei-
nen ins andere Universum reist. Zuerst ge-
hört die Bühne van Veeteren, kurz vor
dessen fünfundsiebzigsten Geburtstag,
vor dem ihm graut. Mit seiner Frau Ulrike
Fremdli fährt der Mann, der Intuition und
Logik so gut ausbalancierte, ans Meer –
zufällig in die Gegend des Ortes Ooster-
by, wo 1991 vier Menschen in einer Pensi-
on verbrannten. Nun wird, was vom ver-
meintlichen Täter übrig ist, nach mehr als
zwanzig Jahren im Wald gefunden. Ein-
deutig erschlagen. Eine späte Blamage
für van Veeteren, die ihn nicht ruhen las-
sen kann.
Nessers Erzählung bewegt sich dabei
geschickt, manchmal allerdings auch
ziemlich behäbig, zwischen den Zeiten.
Die Opfer werden als Kinder und Jugend-
liche geschildert, wie sie sich zum Links-
händerverein zusammenschließen, wie
sie einander aus den Augen verlieren und
dann bei ihrem Wiedersehen, bei dem sie
alle um die vierzig Jahre alt sind, ermor-
det werden. Durch die Zeitsprünge stellt
sich automatisch der Effekt ein, dass der
Leser den Ermittlern immer ein Stück vor-
aus ist, bis zum Ende, und das tut dem
Buch bei dem niedrigen Ermittlungstem-
po nicht allzu gut.
Gunnar Barbarotti kommt erst nach
mehr als dreihundert Seiten ins Spiel, der
Witwer ist auf dem Weg zu einer Bezie-
hung mit Kollegin Backman, und bis zwi-
schen einem unbekannten Ermordeten
mit einer Axt im Kopf und den Morden
von Oosterby eine Beziehung hergestellt
ist, vergeht noch mal einige Zeit. Wenn
Eva Backman fragt: „Sollen wir ihnen hel-
fen, einen uralten Fall mit fünf Leichen
zu lösen, oder sollen sie uns helfen, einen
taufrischen mit nur einem Opfer zu lö-
sen?“, dann spricht sie spät, auf Seite 486,
aus, was man sich selber schon eine ganze
Weile gefragt hat.
Das schleppende Tempo hat auch da-
mit zu tun, dass van Veeteren ebenso wie
Barbarotti schon immer eine übermäßig
ausgeprägte philosophisch-theologische
Reflexionsbereitschaft zeigte. In der Dop-
pelung wird das dann doch ein wenig an-
strengend. Der Unterhaltungswert
scheint sich zu halbieren, während die Fäl-
le zu einem großen Fall zusammenwach-
sen. Man muss jetzt niemandem erklären,
dass Håkan Nesser immer noch eine ma-
kellose Prosa schreibt und immer noch
formuliert, dass man sofort zitieren möch-
te: „Ein Zimmer, das wie gemacht dafür
war, darin den Verstand zu verlieren.“
Aber die romaninternen Zweifel an der
„starken Mannschaftsaufstellung“ sind be-
rechtigt. Aus den van-Veeteren- und den
Barbarotti-Akteuren wird nie ein gutes
Team. PETER KÖRTE
Ganz Berlin träumt von Kokain. Und von
Crystal Meth. Nur trägt es inGerd Zah-
nersdrittem Goster-Roman„Keiner ver-
liert allein“(Transit, 144 S., geb., 16.– €)
jenen Namen, unter dem es 1938 in
Deutschland auf den Markt kam: Pervi-
tin. Damals sollte es aus müden Soldaten
wache Rambos machen, heute ist es dank
der Serie „Breaking Bad“ weltbekannt
und in vielen Ländern gefragt. Kommis-
sar Goster, der zu den eigenwilligsten Ge-
wächsen gehört, die das Krimiuniversum
zu bieten hat, fragt einen Kollegen, wie
viele Drogenlabors schon in die Luft ge-
flogen seien. „Fünfzehn.“ – „Grund?“ –
„Überhitzung.“ Aus solchen Kürzestdialo-
gen resultiert eine präapokalyptische
Stimmung, die sich über die ganze Hand-
lung legt.
Und die steuert den Leser von einer Bi-
zarrerie zur nächsten. Da ist etwa eine
Frau, die sich im Blut ihres verschwunde-
nen Verlobten suhlt – ein Fall für die
Mordkommission. Dann taucht er aller-
dings ohne einen Kratzer wieder auf –
doch kein Fall für die Mordkommission.
Als endlich eine richtige Leiche in der
Berliner Hasenheide herumliegt, entwi-
ckelt sich ein Plot, der geradewegs in den
Immobiliensumpf führt. Dabei vermengt
der Autor Gedanken, die an der Grenze
zum Kitschquatsch stehen, mit durchaus
poetischen Bildern. Außerdem schmeckt
er seine exzentrische Krimikomposition
hier und da mit ein wenig Strafverfol-
gungsphilosophie ab: „Etwas zu bewei-
sen, nur weil es möglich ist, ist das
Schlimmste, es macht alles zum Objekt
der Suche, auch den Ermittler.“
Um Grundbesitz und Substanzen, die
den Geist des Konsumenten in eine Zen-
trifuge verwandeln, geht es auch in
„Slaughter`s Hound“(Edition Nautilus,
384 S., br., 20.– €) vonDeclan Burke.
Den Ich-Erzähler Harry Rigby kennen
wir aus dem Roman „Eight Ball Boogie“,
in dem er noch als Privatdetektiv arbeite-
te. Inzwischen hat er rasante Karriere-
rückschritte gemacht: Er tötete seinen
Bruder, wanderte daraufhin ins Gefäng-
nis, wurde erstaunlich früh entlassen und
verdingt sich jetzt als Taxifahrer und Dro-
genkurier in der irischen Stadt Sligo. Das
Taxi nimmt allerdings gleich zu Beginn
der Handlung Schaden, weil Rigbys Kum-
pel Finn aus dem neunten Stock auf den
Wagen stürzt. Suizid? Mord? Irgendwas
dazwischen? Jedenfalls kommen sich Poli-
zisten, Gangster, die Familie des Toten
und deren Anwalt fortan ins Gehege, wo-
bei Rigby, der sich am Ende als widerli-
cher Folterknecht entpuppt, genau in der
Mitte steht und aufgerieben wird.
Von diesem Spießrutenlauf erzählt Bur-
ke mit gehöriger Coolness – bis er sich
daran erinnert, dass es so etwas wie Meta-
phern und Vergleiche gibt: „Als sie auf-
stand und mich anschaute, rosig, aber ir-
gendwie leer, ähnelte ihr Gesichtsaus-
druck dem Klang einer verrosteten
Tuba.“ Mal sickert „arktische Kälte“ aus
den „ägäisblauen Augen“ einer Figur,
dann blitzt etwas „beinahe Tödliches“ in
ihren „azurblauen Augen auf“. Als Zuga-
be lässt sie ihre schließlich doch wieder
„ägäisblauen Augen aufflammen“. Abge-
sehen von diesem sprachlichen Giftmüll
und Rigbys abstruser Kulturbeflissenheit
- das Namedropping reicht von Jackson
Pollock über Edvard Munch bis zu Karl
Marx und John Milton – ist der Roman
eine unterhaltsame Erkundungstour ver-
kommener Existenzen und Verhältnisse.
Geradezu bodenständig geht es dage-
gen beiHideo Yokoyamazu. Nachdem
der Japaner mit seinem Monumentalwerk
„64“ in diesem Jahr den Deutschen Krimi-
preis gewonnen hat, erscheint mit „2“
(Atrium, 144 S., geb., 16.– €) nun ein
Buch, welches im Original bereits 1998
veröffentlicht wurde. Darin enthalten
sind zwei sterbenslangweilige Fälle, die
in derselben Präfektur spielen. In der ers-
ten Geschichte weigert sich eine Legende
der Kriminalpolizei, den Ruhestand anzu-
treten, was ein behördliches Beben aus-
löst. Warum tut er das? Hat ein ungeklär-
tes Verbrechen damit zu tun? Um die Di-
mension dieses Verhaltens zu begreifen,
empfiehlt es sich, kulturelle Unterschiede
mitzudenken; spannender wird das ge-
zeichnete administrative Organigramm
dadurch jedoch nicht.
Fall zwei: Eine junge und zuverlässige
Polizistin erscheint nicht zur Arbeit. Sie
wird gesucht, gefunden und befragt. Da-
bei kommt heraus, dass sie ein Opfer pa-
triarchalischer Hierarchien geworden ist
und etwas tun musste, das an anderer Stel-
le zu großem Schaden führte. Kafka hätte
Freude daran, wie der Autor die Mecha-
nismen japanischer Dienststellen schil-
dert, wie er Verwaltungsvorgänge und Bü-
rogeplänkel skizziert. So taugt das Buch
vor allem als Schlaglicht auf die Codes
und Regeln einer faszinierenden, frem-
den Gesellschaft. Von solch einer Welthal-
tigkeit profitiert jede Kriminalliteratur,
aber nur dann, wenn die Raffinesse ihres
stilistischen Gewebes den Inhalt trägt.
KAI SPANKE
Mick Herron: „Dead
Lions“. Ein Fall für Jackson
Lamb. Roman.
Aus dem Englischen von
Stefanie Schäfer.
Diogenes Verlag, Zürich
- 478 S., geb., 24.– €.
Sonja M. Schultz:
„Hundesohn“. Roman.
Kampa Verlag,
Zürich 2019.
320 S., geb., 22,– €.
Håkan Nesser:
„Der Verein
der Linkshänder“.
Roman.
Aus dem Schwedischen
von Paul Berf.
btb Verlag, München 2019.
608 S., geb., 24,– €.
Zikaden in Gloucestershire
STREIFSCHUSS
Spionesind auch nicht
mehr das, was sie
einmal waren: Mick
Herron entmystifiziert
die Gentleman-
Agenten und kämpft
trotzdem weiter für
das Gute – schwarz,
böse und unterhaltsam.
Wie man mit einer Banane das Vergehen der Zeit misst
Hamburgs dreckige Seiten: Sonja M. Schultz demonstriert in ihrem Debüt Verständnis für verkrachte Existenzen
Ein uralter, ein
taufrischer Fall
Håkan Nesser veranstaltet
ein Veteranentreffen
Selbstmord?
Mord? Was
dazwischen?
Krimis in Kürze: Gerd
Zahner, Declan Burke
und Hideo Yokoyama
Die Gloucester Gate Bridge führt in den Regent’s Park, einem – auch im Roman – beliebten Treffpunkt von regulären und gestrauchelten MI5-Agenten. Foto mauritius images