FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG, 7. OKTOBER 2019·NR. 232·SEITE 13
ABU DHABI, im Oktober
Z
wei Jahre nach seiner Eröff-
nung ist der Louvre Abu Dhabi
im Alltag angekommen. Drau-
ßen herrschen schwüle vierzig
Grad, drinnen wird kühler
Weißwein gereicht und von einer jungen
Frau in schwarzem Ganzkörperschleier
mit dem Smartphone fotografiert.
Man feiert die neue Ausstellung: „Ren-
dezvous in Paris“ versammelt Werke von
mehr als vierzig Künstlern, unter ihnen Pi-
casso, Modigliani und Chagall, die den
Museumsbesuchern am Gold das frühe
zwanzigste Jahrhundert nahebringen sol-
len – als eine Zeit, in der sich viele aus
dem europäischen Ausland stammende
Künstler auf den Weg nach Paris mach-
ten, um dort, so heißt es in der Ankündi-
gung, in Freiheit zu arbeiten.
Darin erkennt sich Abu Dhabi wieder;
im Bild des Schmelztiegels der Kulturen,
dem kosmopolitischen Knotenpunkt, an
dem die Fäden einer ganzen Region zu-
sammenlaufen. Mohamed Khalifa Al Mu-
barak, der Präsident der für den arabi-
schen Louvre zuständigen Regierungsbe-
hörde, scheut sich nicht, in seinem Vor-
wort für den Katalog eine ironiefreie Par-
allele zwischen den Städten zu ziehen.
Das Paris von damals sei die Wiege der
modernen Kunst, und auch die heutige
Golfregion erlebe dank neuer kreativer
Pole, die weit entfernt von den traditionel-
len Zentren in Europa und den Vereinig-
ten Staaten entstünden, eine kulturelle
Renaissance. Unterschiede zwischen der
Dritten Republik in Frankreich und der
autoritären Monarchie Abu Dhabis zu er-
kennen, überlässt man dem Betrachter,
der in der kleinen Schau gleichwohl nicht
lange nach ihnen suchen muss.
Die Schau versammelt fünfundachtzig
Werke, die fast ausnahmslos aus dem Cen-
tre Pompidou nach Abu Dhabi gebracht
worden sind. In ihren Bildmotiven
scheint fast alles von dem auf, was Paris
einst anziehend für so viele Künstler
machte. Das Kabarett Folies-Bergère bei
Kees van Dongen, der die Tänzerin Nini
im Jahr 1909 mit starrem Blick und blan-
ker Brust darstellt – übrigens der einzigen
blanken Brust, die man in der Schau fin-
det, die nach bewusster Entscheidung der
Kuratoren Christian Briend und Anna
Hiddleston auf weitere Akte verzichtet.
Obwohl es nahegelegen hätte, auch ein
Bild wie etwa „Le Châle espagnol“ zu zei-
gen, das zur Sammlung des Centre Pompi-
dou gehört und Kees van Dongens nackte
Ehefrau darstellt, was beim Salon 1913
für einen Skandal sorgte. Aber etwas Ähn-
liches wollte man am Golf nicht provozie-
ren. Stattdessen zeigt man in sechs Gale-
rien den Alltag im Künstleratelier von
Montparnasse (etwa in dem kargen Mahl
auf einem Stillleben von Chaïm Soutine).
Die Schau erzählt von der Bedeutung
privater Salons (in dem an ein Polypty-
chon erinnernden Bild von Léopold Surva-
ge, das die Baronne Hélène d’Oettingen
zeigt). Und sie weist mit ihrem allerersten
Gemälde von Picasso auf die Rolle von
Journalisten im damaligen Paris hin – mit
einem Porträt des Kunstkritikers Gustave
Coquiot, von dem das Vorwort im Katalog
der ersten Ausstellung stammte, die Picas-
so 1901 in Paris gewidmet war.
Auch im Katalog zur neuen Schau im
Louvre Abu Dhabi findet sich ein Text
über die Rezeption der „Ecole de Paris“ in
der damaligen Presse. Darin zitiert wer-
den einstige Pamphlete über die ärgerlich
hohe Zahl dieser neuen Maler aus der
Fremde. Aber auch Lobgesänge auf die fri-
schen Einflüsse, die mit ihnen nach Paris
kamen. Heute staunt man über die Viel-
falt dieser Stimmen – besonders wenn
man sie am Golf liest, wo es an einer
Kunstkritik, die über Beschreibungen und
Zustimmung hinausgeht, häufig mangelt.
Im Nebengebäude, in dem die Angestell-
ten des Louvre Abu Dhabi ihre Büros ha-
ben, reagiert man auf die Frage nach der
Kunstkritik allerdings unwirsch.
Das Büro des Direktors Manuel Rabaté
ist lichtdurchflutet. Seine Fensterfront ist
von einem weißen Gitter umgeben, das
vor der Sonne schützt und an die arabi-
schen Moucharabieh erinnert, an jene frü-
her oft mit kunstvollen Gittern versehe-
nen Fenster, die es den Frauen der Region
erlaubten, hinauszuschauen, ohne von au-
ßen gesehen zu werden. Der Louvre, sagt
Manuel Rabaté, werde von internationa-
len Medien gut gecovert. Als würde dies
die fehlende eigene Kritik in der Region
ersetzen.
Auch dem schärfsten Kritiker des Lou-
vre Abu Dhabi, dem französischen Polito-
logen Alexandre Kazerouni, gesteht Raba-
té zwar zu, ein guter Rechercheur zu sein.
Aber er hält seine Sicht auf das Museum
für einseitig. Kazerouni hatte den arabi-
schen Louvre in seiner neunhundert Sei-
ten starken Doktorarbeit, die just er-
schien, als das Museum vor zwei Jahren
eröffnete, als ein „Spiegelmuseum“ be-
schrieben: Von einem westlichen Archi-
tekten entworfen (Jean Nouvel) und von
westlichen Fachleuten konzipiert, diene
es dazu, das Bild Abu Dhabis vor allem im
Westen zu verbessern und soziale Netze
aufzubauen, die der Herrscherfamilie hel-
fen, an der Macht zu bleiben.
Diese Öffnung nach außen übertrug
sich ins Innere, aber nicht in Form einer
Liberalisierung. Sie ging im Gegenteil ein-
her mit der Ausgrenzung der alten loka-
len Mittelschicht, deren kulturelle Vertre-
ter in die neue Politik nicht einbezogen
wurden. Der Direktor des arabischen Lou-
vre aber blickt anders auf die Kunstszene
der Emirate. „Das kulturelle Ökosystem
entwickelt sich. Es gibt kleine und große
Einrichtungen, private und öffentliche.
Das ist normal. Es ist ein organisches
Wachstum.“
Mittlerweile sieht Manuel Rabaté auch
die Sorgen der französischen Museen zer-
streut. Als der Plan, in Abu Dhabi einen
Louvre zu bauen, 2006 vorgestellt wurde,
brach in Frankreich sofort eine teils pole-
mische Debatte los, in der es nicht nur um
die grundsätzliche Frage ging, ob man sei-
ne Kunst an ein autoritäres Regime verlei-
hen darf – die Vereinbarung sieht vor,
dass bis 2027 jedes Jahr etwa dreihundert
Werke aus insgesamt dreizehn französi-
schen Museen nach Abu Dhabi reisen
(wofür Abu Dhabi etwa 700 Millionen
Dollar gezahlt hat). Manche französische
Museen fürchteten, ihrer besten Werke be-
raubt zu werden. Andere sorgten sich um
den Erhalt der Kunstobjekte in einer kli-
matischen Umgebung, die sich noch im
Spätsommer anfühlt wie ein Backofen.
Und schließlich wurde gefragt, welches
Publikum ein Museum dieser Größe in ei-
ner Region wie dem Golf überhaupt er-
warten darf.
Doch an diesem ganz normalen Diens-
tag ist das Haus sehr gut besucht. Auffal-
lend viele asiatische Touristen schieben
sich durch die permanente Sammlung, zu
der in den vergangenen zwei Jahren eini-
ge Objekte hinzugekommen sind, mit de-
nen dieser Louvre seinen Anspruch unter-
streicht, ein universales Museum zu sein.
Die mannshohe Skulptur eines buddhisti-
schen Gottes aus bemalten und vergolde-
tem Holz, die aus dem elften oder zwölf-
ten Jahrhundert in China stammt. Eine
Wasserschale aus Kupfer, verziert mit gol-
dener Kalligraphie und einer Lotusblüte,
die einen Hinweis auf asiatische Einflüs-
se liefert, welche um 1300 bis nach Ägyp-
ten und Syrien gelangten.
Auch in der Galerie für Gegenwarts-
kunst sind neue Werke zu sehen – der
„Brunnen aus Licht“, den Ai Weiwei für
den arabischen Louvre gefertigt hat, ist ei-
ner Leihgabe aus dem Centre Pompidou
gewichen: einem aus abertausend transpa-
renten Silikonfäden bestehenden Irrgar-
ten von Susanna Fritscher, vor dem die
Besucher lange Schlange stehen. Andere
Werke kehren derweil nach Frankreich zu-
rück: „La belle Ferronnière“ beispielswei-
se wird zur Eröffnung der großen Leonar-
do-da-Vinci-Schau im Pariser Louvre er-
wartet.
S
o lässt sich das Verhältnis zwi-
schen Abu Dhabi und Paris zwar
nicht als ein Kulturaustausch im
engeren Sinn beschreiben. Aber
ein reges Kommen und Gehen ist
es wohl. Darauf hinzuweisen ist auch dem
Direktor wichtig, und er hat nicht unrecht.
Eine Schau wie die gerade eröffnete über
die „École de Paris“ kann man sich im
Centre Pompidou nur schwer vorstellen.
Sie hat aber, und die beiden Kuratoren be-
stätigen es, dazu geführt, dass man im Cen-
tre Pompidou mit einem anderen Blick in
die eigenen Archive gestiegen ist und aus
ihnen nicht nur Gemälde hervorzauberte,
die im Centre Pompidou bislang noch nie
zu sehen waren – wie die kubistische An-
sicht des Restaurant Hubin von Alfred
Reth (1913), die der Kurator Christian
Briend künftig auch in die permanente
Schau des Pompidou hängen möchte. Man
ist auch auf Künstler gestoßen, die in Ver-
gessenheit geraten sind – auf Mela Muter
und Eugène Zak, die beide einst aus Polen
nach Paris gekommen waren.
Außerdem gibt es bereits eine ganze
Schau, die aus dem arabischen Louvre
später weiter nach Paris gereist ist: „Le
monde en sphères“ war im vergangenen
Frühjahr in der Bibliothèque nationale de
France zu sehen. Und nicht zuletzt sollen
sich französische Museumsdirektoren bei
ihrem Besuch am Golf beeindruckt von
dem Kindermuseum gezeigt haben, das
erst vor kurzem fertig wurde. Auch das
verwundert nicht.
Mit einer derart klug durchdachten Ga-
lerie eigens für Kinder kann keines der
großen Museen in Paris aufwarten. In ihr
sind, weil es in diesem Jahr thematisch
um Kostüme geht, vor allem Objekte ver-
sammelt, die reichverzierte Gewänder
und Helme zeigen. Um diese Originale
aus der hauseigenen Sammlung herum
hat man Rätsel erfunden, die von den Kin-
dern nur mit genauem Blick auf die Wer-
ke zu lösen sind. In der oberen Etage hän-
gen die Kostüme von den Bildern zum An-
probieren an der Stange. Von einer Lese-
ecke fällt der Blick durch große Fenster
auf das Wasser und die Insel Saadiyat.
Wäre alles nach Plan gelaufen, würde
sich der Louvre schon längst in Gesell-
schaft weiterer Museen befinden. Von ei-
nem British Museum war einst die Rede
und von einem Guggenheim, aber von of-
fizieller Seite ist über den Verbleib dieser
Pläne nichts zu erfahren.
Nur eine Baustelle ragt aus dem sandi-
gen Brachland unweit des Louvres. Es ist
ein offenes Geheimnis, dass dort das
künftige „Scheich Zayed Nationalmu-
seum“ entsteht, das Norman Foster ent-
worfen hat. Was darin zu sehen sein wird,
weiß keiner. Wann es eröffnet? Schulter-
zucken. Aber dass Abu Dhabi noch nicht
fertig ist, das ist gewiss. LENA BOPP
Kühle Künste
mitten in der
reichen Wüste
Dererste von neunzehn Spannbögen wur-
de gerade aufgestellt, und jetzt soll es ganz
schnell gehen. Bis Ende des Jahres sollen
die übrigen achtzehn Teile, jedes vorgefer-
tigt, fünf Meter hoch und 26 Meter breit,
auf die Pfeiler gelegt und verbunden, im
April 2020 die neue Brücke über das Polce-
vera-Tal in Genua eröffnet werden, deren
Vorgängerin, die Morandi-Brücke, am
- August 2018 einstürzte und 43 Men-
schen in den Tod riss. „Ein Projekt der Wie-
dergeburt, das in einer Rekordzeit der Inge-
nieurgeschichte realisiert wird“, lobt der
italienische Ministerpräsident Giuseppe
Conte, „und dem ganzen Land, ohne dass
die Opfer vergessen werden, ein Beispiel
gibt.“ Wie das Viadukt heißen wird, steht
noch nicht fest. „Das werde nicht ich be-
stimmen“, erklärt der Genueser Architekt
Renzo Piano, der es so gestaltet hat, dass es
„wie ein Schiff das Tal durchzieht“, und auf
ein Honorar für seinen Entwurf verzichtet:
„Es sollte einfach ‚Il Ponte‘, die Brücke, hei-
ßen, aber geschrieben mit großem ‚P‘“. Als
„großen weißen Rumpf, der mit dem Licht
spielen und es im Tal reflektieren wird“, be-
schreibt Piano die 202 Millionen Euro teu-
re Brücke und sieht sie, den Dichter Gior-
gio Caproni zitierend („Genua aus Eisen
und Licht“), als neues Wahrzeichen der
Stadt, das für ihre „einzigartige Resilienz“
steht. Wer, wenn nicht er selbst, Jahrgang
1937 und Senator auf Lebenszeit, wäre ein
würdiger Namensgeber? aro.
Il Ponte
Renzo Piano zur Brücke in Genua
Siewusste nicht, dass arabische
Herrschaften sie einst bewundern
würden: Amedeo Modiglianis
„Portrait de Dédie“ von 1918
Foto Centre Pompidou
Wie nah ist dem Nahen Osten das Erbe der
europäischen Moderne? Eine Ortsbegehung von
Abu Dhabis Kunstwelt, zwei Jahre nach der
Eröffnung der dortigen Dependance des Louvre.