SEITE 18·MONTAG, 7. OKTOBER 2019·NR. 232 Briefe an die Herausgeber FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
Zu dem Artikel „Warum Kirche?“ (F.A.Z.
vom 28. September): Danke für Ihre klare
strukturelle Analyse des katholischen
Skandals. Als „misogyne Sekte“ (Deckers)
verstößt die katholische Kirche mit ihrer
Verweigerung der Frauenordination ge-
gen die Menschenrechte, als zölibatäre
Zwangsinstanz gegen den Freiheitsgrund-
satz.
Daraus resultieren, wie ich im letzteren
Fall seit drei Jahrzehnten in der liebevol-
len Betreuung zahlreicher betroffener Kle-
riker erfahre, schwere ekklesiogene Neuro-
sen: Ängste, Bindungsschwächen, Einsam-
keit, Suchtstrukturen. Priester werden see-
lisch krank und/oder flüchten in ein un-
würdiges heterosexuelles oder homosexu-
elles Geheimleben.
Das Schicksal dieser liebesbedürftigen,
spirituell engagierten und wundervollen
Männer erschüttert mich. Wenn die Amts-
kirche in ihrem Machtanspruch so weiter-
macht, könnte sich das Wort der früheren
katholischen Theologieprofessorin Uta
Ranke-Heinemann erfüllen: „Die Kirche
ist eine Konserve von vorgestern, deren
Verfallsdatum längst überschritten ist.“
DR. MATHIAS JUNG, LAHNSTEIN
Im Leitartikel „Warum Kirche?“ in der
F.A.Z. vom 28. September heißt der letz-
te Satz: „Die Frage lautet vielmehr: War-
um welche Kirche – und für wen?“
Grundsätzlicher kann man die bestehen-
de römisch-katholische Kirche nicht in
Frage stellen. Ich möchte meiner Skepsis
Ausdruck geben, dass dem Papst in der
gegenwärtigen und seit Jahrhunderten
gültigen Verfassung der römischen Kir-
che keine Reform gelingen wird – und ge-
lingen kann. In ihrem System steckt die
grundlegende Veränderung der Kirche
durch die Übernahme der römischen
Staatsordnung unter Konstantin.
Die Anerkennung der christlichen Kir-
che durch den Caesar hat für die Chris-
tenheit eine Veränderung der Machtver-
hältnisse eingeleitet, die im Grunde heu-
te noch wirksam ist, natürlich mit den
Jahrhunderten entwickelt wurde. Man
kann es zum Beispiel an der Papstge-
schichte ablesen, wie der „Stellvertreter
Christi“ keine geistliche Funktion mehr
wahrnahm, sondern ein weltlich ausge-
richteter Machtmensch gewesen ist.
Heute müsste in der römischen Kirche
eine Reformation stattfinden, die über
die Martin Luthers und der anderen Re-
formatoren weit hinausgeht. Der „syno-
dale Weg“ erschreckt den Vatikan, weil
das Wort im evangelischen Raum seinen
Platz hat. Indem Luther die Kirche an
das Wort Gottes gebunden hat, wurde
die Gemeinschaft aller Glaubenden di-
rekt an ihren Herrn gebunden. Dafür
muss die römische Kirche heute sorgen.
Die „sakralen Zwischenmächte“ haben
in die gegenwärtige Situation geführt.
Die „Freiheit eines Christenmenschen“
ist eine Gabe des Glaubens an Jesus
Christus.
KLAUS ILLMER-KEPHALIDES, BIELEFELD
Der Leitartikel „Warum Kirche?“ (F.A.Z.
vom 28. September) von Daniel Deckers,
in dem er in teils maliziösem Tenor die
Notwendigkeit des sogenannten „synoda-
len Weges“ der katholischen Kirche in
Deutschland mit den ewig wiederkehren-
den Forderungen nach Frauenpriester-
tum, Aufhebung des Zölibats sowie Ände-
rung der Sexualmorallehre begründet,
wirft einige Fragen auf.
Es bleibt wohl ein Rätsel, warum die
Evangelische Kirche in Deutschland un-
ter denselben Zerfallserscheinungen wie
die katholische leidet, obwohl doch dort
alle aufgeführten Forderungen erfüllt
sind. Weiterhin stellt sich die Frage, ob
denn tatsächlich von einem „Priester-
mangel“ gesprochen werden kann. Man
kann es auch so sehen: Im Jahr 1990 hat-
te ein Priester 402 Gottesdienstbesucher
zu betreuen; im Jahr 2018 waren es nur
noch 160. Ist es nicht vielmehr so, dass
die rückläufige Priesteranzahl auf eine ra-
pide Entfremdung unserer Gesellschaft
(inklusive Kirchenvolk) von Gott zurück-
zuführen ist? Evangelisierung tut not!
Zur Rolle der Frau in der Kirche und
zur „Machtfrage“ nur ein Denkanstoß:
Christus hat in seinem Umgang mit Frau-
en keine Rücksicht auf Tabus der damali-
gen Gesellschaft genommen (beispiels-
weise: Joh. 4, 1–28; Lk. 7, 36–50). Er hät-
te leicht statt des nicht immer perfekten
Petrus seine Mutter als Stellvertreterin
auf Erden bestimmen können. Er hat es
nicht getan. Sie nimmt aber als Mutter
der Kirche den höchsten Platz über allen
Engeln und Menschen ein.
MARKUS GRAF VON BALLESTREM, BERLIN
Zu dem Artikel „Neue Heimat in Alanya“
(F.A.Z. vom 1. Oktober): Vielen Dank
für den Artikel über Deutsche in Alanya.
Als jemand, der dort zehn Monate in der
Kirchengemeinde arbeitete, möchte ich
ein paar Dinge ergänzen. Viele mögen
denken, dass die „ökumenische Gemein-
de“ in Alanya von ihrer Heimatkirche
kräftig unterstützt wird. Für die evangeli-
sche Seite muss ich sagen, dass solche fi-
nanzielle Unterstützung immer mehr
schrumpft.
Die Frage ist, ob aus Gründen der
Geldknappheit. Mir scheint es eher so zu
sein, dass diese Sache klein gehalten
wird, um nicht in einem muslimischen
Land aufzufallen, so dass dann die Ange-
legenheit als „antiislamisch“ interpre-
tiert werden könnte. Wie das auch sein
mag, im Umkreis Alanya/Antalya leben
(Schätzung 2011) etwa 15 000 Deutsche.
Man fragt sich bei dieser Zahl doch, wes-
halb die EKD dort keine volle Arbeits-
kraft, sondern nur pensionierte Pfarrer
und Pfarrerinnen einsetzt. Wir hatten da-
mals, im Jahr 2011, zum Teil bis zu 100
Gottesdienstbesucher pro Sonntag, das
heißt, viele Deutsche in der Türkei emp-
finden, wie die Leiterin der Gemeinde
sagte, die Kirchengemeinde als ein Stück
(deutsche) Heimat.
Natürlich schließen sich Heimatsehn-
sucht und Glauben an Jesus Christus
nicht aus. Und die Kirche hat ja in erster
Linie nicht für Rettungsschiffe zu sorgen,
sondern dafür, dass unser flackernder
Glaube nicht erlischt und dass Gemein-
schaft wächst, wo Gott es will. Die Ge-
meinde in Alanya/Antalya muss sich in-
zwischen mehr und mehr selbst finanzie-
ren. Die das tun, sind zum großen Teil
Christen, die ihr Leben lang Kirchensteu-
ern zahlten und nun teilweise auch des-
halb in der Türkei leben, weil ihre Rente
knapp bemessen ist.
Im Artikel wurde mit Recht darauf hin-
gewiesen, dass die armen Rentner in die
Türkei und die reicheren nach Spanien
gehen. Merkwürdigerweise werden die
Gemeinden in Spanien, ich war zehn Mo-
nate in Fuerteventura, besser finanziell
unterstützt als die in der Türkei. Für
mich heißt das, man möchte in der Tür-
kei bitte nicht zu bemerkbar werden,
etwa indem man Kreuze anlegt, in die-
sem Fall Gemeinden baut, die entstehen
würden, wenn eine oder mehrere Voll-
kräfte die Arbeit dort aufnehmen wür-
den. Nebenbei, damals, im Jahr 2011,
war es der EKD nicht einmal gelungen,
mit den türkischen Behörden die Arbeit
eines evangelischen Seelsorgers auf Dau-
er in Alanya zu vereinbaren. Ich kann ver-
sichern, dass diese Behörden unglaub-
lich zuvorkommend sind und waren. Mei-
ner Ansicht nach verfährt man in Hanno-
ver auch da nach dem Motto: Leise, leise,
leise.
MARTIN BRUNNEMANN, PFARRER I. R., ZELL
In dem Artikel „Abrechnung mit einem
früheren Weggefährten“ in der F.A.Z.
vom 16. September schreibt Philip Pli-
ckert zu Recht, dass Großbritannien in
der Frage des Brexits handlungsunfähig
ist, weil nicht nur die Tories in sich zer-
stritten sind, sondern auch die wichtigs-
te Oppositionspartei, die Labour Party.
Gestatten Sie einem Anglisten den Ver-
such, das zu präzisieren.
Die Mehrheit der Wähler im Vereinig-
ten Königreich für den Brexit kam durch
die Addition zweier sehr unterschiedli-
cher Wählergruppen mit je sehr unter-
schiedlicher Motivation zustande. Da
sind zum einen große Teile vor allem der
Labour Party, besonders aus der indus-
triellen Mitte und aus dem Norden Eng-
lands, mit ihrem – nicht ganz unberech-
tigten – Hass als Abgehängte auf die poli-
tische, wirtschaftliche und kulturelle Eli-
te (Oxbridge, einflussreiche Privatschu-
len, das reiche, multiethnische und multi-
kulturelle London). Und des Weiteren
sind da große Teile der Conservative and
Unionist Party, vor allem in England
und Nordirland, die der früheren Welt-
geltung Großbritanniens nachtrauern
und Brüssel hassen, Letzteres auch nicht
ganz unberechtigt. Diese beiden so ver-
schiedenen Wählergruppen sind eine un-
heilige Allianz eingegangen, weil sie je-
weils glauben, mit dem Votum für den
Brexit – und nur so – endlich einmal ih-
rer Wut auf das Establishment Ausdruck
geben zu können.
Für die Tories, die die Regierung stel-
len und insofern die größte Verantwor-
tung für das Chaos haben, stellt sich, si-
cher etwas verkürzt, die Lage so dar: Da
hat Britannien seit 200 Jahren einen
Krieg nach dem anderen gewonnen, die
Kriege gegen Napoleon, den Burenkrieg,
den Ersten und den Zweiten Weltkrieg,
den Falkland-Krieg, den Krieg gegen
Saddam Hussein – und nun soll es nur
noch eine Mittelmacht in einem von ei-
ner selbstherrlichen Bürokratie zusam-
mengehaltenen Staatenbund sein? Ein
Deutscher wird dem Vereinigten König-
reich schlecht wünschen können, einen
dieser Kriege verloren zu haben, aber
ein Problem für eine realistische Selbst-
einschätzung scheinen die vielen Siege
doch zu sein. Man denkt an Nietzsches
Mahnung an die Deutschen nach dem
Sieg über Frankreich in dem Krieg
1870/71: „Ein großer Sieg ist eine große
Gefahr. Die menschliche Natur erträgt
ihn schwerer als eine Niederlage.“
PROFESSOR DR. ROLF BREUER, PADERBORN
Die Kirchengemeinde als Heimat
Briefe an die Herausgeber
Unheilige Allianz
Verfallsdatum überschritten?
An ihren Herrn gebunden
Evangelisieren tut not
ols.STUTTGART, 6. Oktober. Die Digi-
talisierung in Unternehmen klappt nur,
wenn auch die Mitarbeiter mitgenom-
men werden. Das ist für kleinere Mittel-
ständler oft eine große Hürde, denn Fort-
bildungen müssen oftmals nebenbei ab-
solviert werden. „Wir haben viele Ideen
und sind da weit fortgeschritten“, sagt
Korhan Zeyrek von dem Blechbearbei-
tungsunternehmen Mauser + Co. GmbH
mit Sitz in Ditzingen bei Stuttgart. Er ist
bei dem Familienunternehmen mit sei-
nen 100 Mitarbeitern für das Personalwe-
sen zuständig und widmet sich dort zu-
gleich dem Thema Digitalisierung. Der
Betriebswirt fungiert bei dem Zulieferer
als eine Art Digital-Lotse, um die Verän-
derungen zu begleiten.
Zeyrek nennt als ein Beispiel die Be-
diener von Abkantmaschinen, mit deren
Hilfe Blech gebogen wird. „Da haben wir
geschaut, wie der Ist-Zustand ist und wo-
hin sich das in den nächsten Jahren ent-
wickeln wird.“ Denn die entsprechenden
Maschinen sind in den letzten Jahren im-
mer komplexer geworden. Und die zehn
Mitarbeiter, die an ihnen arbeiteten,
müssten den Wandel durchführen. Bei
der Vernetzung und Digitalisierung gehe
es nicht um die Wegrationalisierung von
Arbeitsplätzen, sondern darum, wie sich
die Prozesse und Aufgaben an den Ar-
beitsplätzen änderten. Und genau bei die-
sem Thema setzt Zeyrek an. Er versteht
sich als Impulsgeber und Begleiter von
solchen Vorgängen und gleichfalls als
Vermittler. Der Betriebswirt ist einer
von 26 Teilnehmern eines Lehrgangs mit
dem etwas sperrigen Titel „Fit für die di-
gitalisierte Arbeitswelt“ (F4DIA) gewe-
sen, bei dem „Multiplikatoren für die di-
gitalisierte Arbeitswelt“ weitergebildet
worden sind.
Denn: Digitale Kompetenzen sind ei-
ner Studie zufolge in der deutschen Indus-
trie vor allem in großen Konzernen, eher
im Süden und nicht bei älteren Führungs-
kräften zu finden. Das ist das Ergebnis
der Analyse des Münchner Ifo-Instituts
in Zusammenarbeit mit dem Internet-
netzwerk Linkedin. „Die Betrachtung un-
terschiedlicher beruflicher Positionen im
Unternehmen ergab: Je höher die Posi-
tion eines Mitglieds ist, desto geringer
sind die digitalen Kompetenzen“, heißt
es in der Analyse. Dies könne am Alter
liegen und mit der Zeit abnehmen. „Es
besteht aber die Gefahr, dass Unterneh-
menslenker die Herausforderungen und
Chancen der Digitalisierung nicht früh
genug erkennen.“ Die Industriebetriebe
kommen hierzulande auf einen Umsatz
von 2,2 Billionen Euro im Jahr und be-
schäftigen 7,4 Millionen Menschen. Der
technologische Wandel und die Digitali-
sierung sind für viele Unternehmen mo-
mentan eine große Herausforderung.
Deshalb kommt der Weiterbildung in
diesem Bereich eine große Bedeutung
zu. Das vom Landeswirtschaftsministeri-
um bezuschusste Modellprojekt aus Ba-
den-Württemberg soll möglicherweise in
naher Zukunft bundesweit ausgerollt
werden. Oliver Heikaus, Bereichsleiter
Weiterbildung vom Deutschen Industrie-
und Handelskammertag in Berlin, sagt:
„Spezifisches Fachwissen und Kompeten-
zen werden für die Fachkräfte, aber auch
für die Unternehmer immer wichtiger,
um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Pro-
dukte und Dienstleistungen im globalen
Wettbewerb zu sichern.“ Der spezielle
Lehrgang ist mit vom Lasertechnik-Spe-
zialisten Trumpf angestoßen und von
mehreren Partnern konzipiert worden.
„Die Maschinen werden immer vernetz-
ter, und so müssen aus den Maschinenbe-
dienern Prozessmanager werden“, sagt
Gerd Duffke, der ehemalige Gesamtbe-
triebsratsvorsitzende, der bei dem Ma-
schinenbauer in der Personalentwick-
lung für Sonderprojekte zuständig ist.
Das Bundesarbeitsministerium schätzt,
dass bis 2025 durch Automatisierung
und Künstliche Intelligenz rund 1,6 Mil-
lionen Arbeitsplätze in Deutschland ver-
schwinden, zugleich aber rund 2,3 Millio-
nen neue Jobs geschaffen werden. Der
Staat kann Firmen durch Zuschüsse bei
solchen Weiterbildungsprogrammen un-
terstützen. Das ermöglicht das seit Jah-
resbeginn geltende Qualifizierungschan-
cengesetz. Doch Personalchef Oliver
Maassen hält das Gesetz für zu bürokra-
tisch: Um einen Antrag zu stellen, wären
bei Trumpf drei Mitarbeiter sechs Mona-
te gebunden, klagt er.
sup. STUTTGART, 6. Oktober. Die
Nachricht kommt unscheinbar daher:
Ein österreichisches Unternehmen na-
mens Sky Plastic Group AG wird von der
Schwarz-Gruppe gekauft, die man als
Holding für die Filialketten Lidl und
Kaufland kennt. Nur 150 Mitarbeiter hat
Sky Plastic, verschwindend wenig vergli-
chen mit den 430 000 Mitarbeitern der
Schwarz-Gruppe. Doch die strategische
Bedeutung ist eine deutlich andere:
Durch Sky Plastic kommt Green-Cycle,
das dritte Standbein der Schwarz-Grup-
pe neben Lidl und Kaufland der echten
Kreislaufwirtschaft ein entscheidendes
Stück näher. „Für uns ist das der Grund-
stein dafür, Rezyklate zu produzieren“,
erklärt Geschäftsführer Dietmar Böhm.
Als Rezyklat bezeichnen Fachleute aufbe-
reiteten Kunststoff, der zur Herstellung
neuer Kunststoffe verwendet werden
kann, meist als Beimischung zu neuem
Granulat.
Bisher ist bei Green-Cycle der Kreis-
lauf dort zu Ende gewesen, wo er häufig
zu Ende ist: beim Sortieren von einge-
sammelten Wertstoffen, zum Beispiel
aus Gelben Säcken. „Wenn ich so eine Jo-
ghurtbecher-Fraktion habe, muss ich
auch was damit anfangen können“, er-
klärt Böhm und betont ausdrücklich:
„und das heißt nicht, das ins Ausland zu
schicken. Unser Ziel ist die weitere Ver-
wertung als Rohstoff.“ Bei Sky Plastic
wird der sortierte Plastikmüll erhitzt, die
Schnipsel werden durch einen beheizten
Extruder geschickt, die heiße Masse wird
dann durch Filter gedrückt und unter Va-
kuum gesetzt, auf dass am Ende ein sau-
beres Rezyklat entsteht, das einem neu-
en Granulat sehr ähnlich ist.
Die Vorstellung, dass auf diese Weise
aus einem alten Joghurtbecher wieder
ein neuer wird, ist gleichwohl abwegig.
Was einmal im gelben Sack war, darf in
Deutschland nicht zu Lebensmittel-Ver-
packungen verarbeitet werden. Allen-
falls im Non-Food-Bereich tauchen die
einstigen Joghurtbecher wieder auf, bei-
spielsweise als Waschmittelflaschen
oder neuerdings auch im Kosmetik-Be-
reich. „Das Gesetz muss den technischen
Entwicklungen folgen. Ich glaube, dass
da ein Umdenken in der Politik einsetzt“,
beobachtet Böhm, der als Green-Cycle-
Chef nicht nur das eigene Geschäft vor
Augen hat, sondern auch die möglichen
Synergien mit den Schwester-Gesell-
schaften Lidl und Kaufland. Doch dort
ist der Einsatz von Rezyklat für den eige-
nen Gebrauch allenfalls ein längerfristi-
ges Ziel. „Es gibt genügend andere An-
wendungen für Rezyklate. Unmengen an
Kunststoffen werden allein in der Bauin-
dustrie gebraucht“, gibt Böhm zu beden-
ken. „Es geht darum, das Rezyklat zu ver-
wenden. Ob man eine Verpackung oder
ein Bobby-Car draus macht, ist egal“, so
seine Meinung.
Was den Markt so richtig in Schwung
bringen würde, wäre eine verbindliche
Quote für den Einsatz von Rezyklaten:
„Dann entstünde eine große Nachfrage.“
Vorbereitet auf ein kräftiges Marktwachs-
tum wäre Green-Cycle. Mit der Sky Plas-
tic Group hat man sich die Kompetenz
gekauft, die Sorten PE, PP und PS zu Re-
zyklat zu verarbeiten, ein Geschäft, das
zu skalieren sich lohnt. Auf diese Plastik-
arten entfallen nach Böhms Einschät-
zung rund 90 Prozent des Kunststoffs,
den man im gelben Sack findet – abgese-
hen von den PET-Flaschen, die aber
durch das Pfandsystem ihren ganz eige-
nen Kreislauf haben. PET-Flaschen wer-
den in der Schwarz-Gruppe seit sieben
Jahren wieder verwertet, und zwar ganz
ohne Qualitätseinbußen bei dem Kunst-
stoff, wie Böhm betont. Dabei nimmt der
Rezyklat-Anteil ständig zu: Die Wasser-
flaschen der Lidl-Eigenmarke Saskia be-
stehen schon zu 60 Prozent aus wieder-
verwertetem PET.
Wie die Wachstumspläne für die neue
Schwarz-Sparte in der Kreislaufwirt-
schaft aussehen, will Green-Cycle-Chef
Böhm nicht konkretisieren, auch wenn
er – nach einem Umsatz in der Größen-
ordnung von 500 Millionen Euro im vori-
gen Jahr – schon das Wort „Milliarde“ in
den Mund nimmt. Ganz offiziell bezeich-
net sich Green-Cycle als „ein führendes
unter den weltweit tätigen Entsorgungs-
unternehmen“ mit 4 Millionen Tonnen
Wertstoffen, die pro Jahr gesammelt
oder verarbeitet werden. Etwa die Hälfte
davon stammt aus den Filialen von Lidl
und Kaufland. Einen deutlichen Wachs-
tumsschub gab es für die 2009 gegründe-
te Green-Cycle Stiftung & Co. KG aber
im vorigen Jahr durch die Übernahme
des Entsorgers Tönsmeier, der Nummer
5 unter den deutschen Entsorgern. Für
dieses Jahr waren für Green-Cycle Inves-
titionen im dreistelligen Millionenbe-
reich vorgesehen. Und wie Böhm berich-
tet, sind neben Sky Plastic auch schon ei-
nige andere, kleinere Firmen übernom-
men worden, deren Bedeutung aber we-
niger technologisch bedingt war.
lid.NEW YORK, 6. Oktober.Facebook
hat mit seinen Plänen für die Digitalwäh-
rung Libra einen schweren Rückschlag er-
litten. Der BezahldienstPaypalteilte am
Freitag mit, er werde nicht weiter an der
Libra Association teilnehmen, der in der
Schweiz ansässigen Organisation, in de-
ren Hand die Kontrolle über die Wäh-
rung liegen soll. Paypal war einer der pro-
minentesten Partner von Facebook bei
dem Projekt und ist nun das erste Unter-
nehmen, das sich offiziell davon verab-
schiedet. Vor einigen Tagen hatte das
„Wall Street Journal“ berichtet, dass man-
che Unternehmen ihr Engagement bei Li-
bra überdenken, darunter die Kreditkar-
tenspezialistenVisaundMastercard. Pay-
pal wurde in diesem Bericht allerdings
noch nicht genannt.
Der Bezahldienst nannte keine genau-
en Gründe für seinen Rückzug aus der Li-
bra-Gruppe. Er sagte lediglich, er unter-
stütze die Ziele für die Digitalwährung
weiter und freue sich auf eine mögliche
Zusammenarbeit in der Zukunft. Face-
book sei ein „langjähriger und geschätz-
ter strategischer Partner“. Die Bedenken
von Visa und Mastercard wurden in dem
Bericht mit dem Widerstand von Politi-
kern gegen Libra sowie mit Sorgen um re-
gulatorische Einwände in Verbindung ge-
bracht. Zudem habe es Beschwerden gege-
ben, dass Facebook bislang keine detail-
lierten Antworten geliefert habe, wie sich
der Missbrauch von Libra für illegale Akti-
vitäten wie Geldwäsche vermeiden lasse.
Facebook hatte Libra im Juni vorge-
stellt. Das soziale Netzwerk hat die Wäh-
rung als Gemeinschaftswerk unter der
Kontrolle der Libra Association konzi-
piert, in der es selbst eines von vielen Mit-
gliedern ist. Bei der Ankündigung im
Juni wurden mehr als zwei Dutzend Part-
ner genannt, darunter neben Paypal, Visa
und Mastercard auch Unternehmen au-
ßerhalb der Finanzindustrie wie der Fahr-
dienst Uber oder die Musikplattform Spo-
tify. Facebook peilt den Start von Libra
für die erste Hälfte 2020 an und hofft,
dass die Libra Association bis dahin 100
Mitglieder hat. Dem Bericht des „Wall
Street Journal“ zufolge haben Facebooks
Partner bisher nur unverbindliche Ab-
sichtserklärungen unterzeichnet und
auch noch nicht die 10 Millionen Dollar
überwiesen, die jedes Mitglied zur Finan-
zierung des Projekts beisteuern soll.
Die Libra-Pläne des sozialen Netzwerks
stießen schnell auf Kritik von Politikern.
Regierungsmitglieder aus Deutschland
und Frankreich kündigten an, die Digital-
währung blockieren zu wollen. In Ameri-
ka äußerten Präsident Donald Trump, Fi-
nanzminister Steven Mnuchin und Jerome
Powell, der Vorsitzende der Notenbank Fe-
deral Reserve, Vorbehalte. Im Zusammen-
hang mit Libra leistete sich vor wenigen
Tagen auch Tim Cook, der Vorstandsvor-
sitzende des Elektronikkonzerns Apple, ei-
nen Seitenhieb auf Facebook. Cook, der
das soziale Netzwerk oft kritisiert, sagte in
einem Interview, ein privates Unterneh-
men sollte nicht versuchen, sich auf diese
Weise „Macht“ zu verschaffen.
Dass ausgerechnet Paypal als erstes Un-
ternehmen abspringt, ist insofern bemer-
kenswert, weil David Marcus, der das Li-
bra-Projekt bei Facebook verantwortet,
früher für den Bezahldienst gearbeitet
hat. Ein Sprecher derLibra Association
sagte am Freitag, ein Vorhaben wie Libra
sei „kein leichter Weg“, und jede Organi-
sation müsse ihre eigenen Überlegungen
zu Risiko und Nutzen eines Engagements
anstellen. Er fügte hinzu, es gebe insge-
samt 1500 Organisationen, die „enthusi-
astisches Interesse“ an einer Teilnahme
bekundet hätten.
Mehr Wertstoffe aus dem gelben Sack
Schwarz-Gruppe kauft Wissen für die Kreislaufwirtschaft / Starkes Wachstum erwartet
Digitale Lotsen für den Mittelstand
Lehrgänge für Mitarbeiter und staatliche Förderung / Digitale Kompetenzen von Führungskräften oft gering
Paypal springt vom Libra-Projekt ab
Unternehmen
Facebook steckt einen
Rückschlag für seine geplante
Digitalwährung ein. Auch die
Kreditkartenunternehmen
überdenken ihr Engagement.
Hat wichtigen Partner verloren:Bertrand Perez, Direktor der Libra Association Foto AFP