Mittwoch, 2. Oktober 2019 FEUILLETON 39
New Glarus verteidigt den Schweizerstil
Das amerikanische Städtchen will das typisch Helvetische in Ha usfassaden bewahren
SABINEVON FISCHER
Die Bauvorschriften stellen sicher, dass
das Dorf NewGlarus im amerikanischen
BundesstaatWisconsin auch in Zukunft
schweizerisch er als die Schweiz bleibt.
Tausende von Kilometern von unseren
Landesgrenzen entfernt, bewahrt es eine
Tradition, die in dieserForm hier über-
haupt erst erfunden wurde.
Schon auf der offiziellenWebsite
überlagernsich alte und neueTraditio-
nen. Unter einemFoto von vier Alp-
hornbläsern ist der Alltag geregelt:Re-
cyclingvorschriften, Baustellen, die lo-
kale Brauerei hat ein neues Sprungbrett
für das öffentliche Schwimmbad gestif-
tet. Es gibt ein Oktoberfest undWil-
helm-Tell-Spiele.
Zwei junge Architekten wollten
es genauer wissen und fuhren hin. Sie
dokumentierten die Häuser und studier-
ten dieBauordnung. Die beiden Grün-
der des inTexas ansässigen Architecture
Office, die Schweizerin Nicole McIntosh
und der AmerikanerJonathan Louie,
fanden in der transkulturell adaptier-
ten Schweizer Architektureine Inspi-
ration. Unvoreingenommen zeichneten
sie, was die New GlarnerVorschriften
hervorgebracht haben, und phantasier-
ten dann, wasdiese Bauordnung sonst
noch alles zulassenkönnte.
Heimat alsFassadenbild
Das 1845 von Schweizer Siedlern gegrün-
deteNewGlarushatderzeitgut2000Ein-
wohner, liegt an der Kreuzung der High-
ways 69 und 39 und ist vor allemein be-
liebtesReiseziel. Nur schon deshalb lohnt
es si ch, das SchweizerThemaals Mar-
kenzeichen des Dorfs sorgfältig zu pfle-
gen. Käsereien undFondue-Restaurants
reihen sich zwischen Souvenirshopsein.
Auch wenn die Bewohner von heute
zur Mehrheit Zuzüger sind oder schon
in der sechsten Generation gebürtige
Amerikaner, nehmen dieReverenzen
an die erinnerte Heimateinen grossen
Stellenwert in der Identität ein. Hei-
mat ist hier nicht ein Ort, zu dem man
zurückkehrt oder an den man sich mit
einem Familienalbum erinnert.Viel-
mehr ist Heimat hier eineKonstruktion,
in der sich die zeitgenössischen Lebens-
formen mit einer lebensfrohen Nostal-
gie überlagern.Wie genau die Schweizer
Vorfahren gelebt haben,ist z war etwas
unscharf geworden, umso schärfer wird
mittelsVorschriften und Bewilligungs-
verfahren das schweizerische Erbe im
Dorfbild verteidigt.
Nach dem ArtikelIder Bauordnung
im Chapter 118 der Gemeindeordnung
von New Glarus, welche dieKonstruk-
tion und die elektrischen und sanitären
Leitungenregelt, gibt es einen ausführ-
lichenArtikel II, der das «Swiss Archi-
tecturalTheme» definiert: «Alle Häu-
ser und sonstigenBauten,Gehwege und
Beleuchtungen in der Gewerbezone C-1
und in der Highway-Gewerbezone C-2
im Dorf von New Glarus sollen in ihrer
äusseren Gestaltung dem schweizeri-
schen Architekturthema entsprechen.»
Wer weiterliest,erfährt,dass dies erst seit
Inkrafttreten des Artikels imJahr 1999
gilt und dass die Bestimmungen über
Farbe, Fo rm und Material nur die vor-
dereFassade betreffen.Und lässt sich ein
Sch weizer Erbe wirklich überFenster-
und Dachformen festschreiben?
SolcheRegeln, die das erzeugte Bild
und sogarden Stil von Architektur vor-
schreiben, gibt es auch andernorts: In
Frankenmuth, Michigan, entscheidet das
«BeautificationCommitee» darüber, ob
die Stadt ihre deutschenVorbilder wür-
dig imitiert.Undim kalifornischen Sol-
vang diktiert die dänische traditionelle
Architektur das städtebauliche Leitbild.
Immer geht es dabei um die äussere Er-
scheinungund das erzeugte Bild.Konse-
quenterweise besteht deshalb derArtikel
zumSchweizer Architekturthema in der
Bauordnung von New Glarus vor allem
aus demVerweis auf sieben Bildbände
und einen Sammelordner, zum Beispiel
zu BernerBauernhäusern oderdem
Bauen in denAlpen.UmLandesgrenzen
kümmern sich die «New Glarner» we-
nig, bemalteFassaden in ganz Europa ge-
hören genauso zu dieser Bildersammlung
wie dieArchitektur vonBayern.
Was wäre, wenn...?
Schaut man um die Ecke, folgen die
Häuser von New Glarus dann ohnehin
nicht mehr dem SchweizerThema, son-
dern sehen aus wiesonst fast überall in
der amerikanischenLandschaft. Gerade
deshalbhaben sich die Architekten, die
beide auch eine Assistenzprofessur be-
setzen, besonders für die Ecken interes-
siert und diese mithilfe ihrer Studenten
genau dokumentiert.
Auch dasTeam selber überspannt
den Atlantik: Die Schweizer Architek-
tin ist im zürcherischen Urdorf in einer
Siedlung der1970erJahre, ihr amerika-
nischerPartner in Hawaii gross gewor-
den.Aus dieserKonstellation ergibt sich
ihr kritischer Blick auf sozialeTransfor-
mationen im globalenKontext, der hier
in einer präzis geführtenFallstudie auf
Chalet-Nachbauten in einem nordame-
rikanischen 2000-Seelen-Dorf trifft.
Das Resultat ist im erstenTeil derAus-
stellung zu besichtigen,die nach einer Sta-
tionan der Universität von Milwaukee
nun imKulturgüterschuppen desKunst-
hauses Glarus zu sehen ist. Mit Linden-
holzmodellen und feingliedrigen Strich-
zeichnungenunternimmt die Schau eine
präziseAnalysederTraditionen.Imrealen
New Glarus allerdings ist dieKonstruk-
tion teilweise handwerklich adaptiert:
Einzelne Chalets sind auchmit Fotoprint
auf Kunststoffrealisiert und mit direktem
Highway-Anschluss schliesslich doch ge-
nauso amerikanisch wie schweizerisch.
Vom Chalet in die Zukunft
EbendieseFixierung derBauordnung
auf die Oberfläche faszinierte die beiden
Architekten. Der zweiteTeil zeigt dann
die gleichen achtzehn Häuser von New
Glarus in derRundum-Ansicht alsFalt-
bastelbögen. Und weil sie damit schon
fast beim Eisenbahnmodellbau ange-
langt waren, führten sie ihreRecherche
an Modellhäusern der deutschen Spiel-
zeugfirmaFaller weiter: die Enzian-
Apotheke mit ihrer bemaltenFassade,
Wohnhäuser mit Sonnenschirmchen und
Solarpaneelen auf demDach.
DieDetailstudieninHolz unddiebun-
tenEisenbahnmodellhäuschen warender
Fundus, aus dem schliesslich einFeuer-
werk von Ideen sprühte. Die Modelle im
drittenTeil (der für die derzeitigeAus-
stellungin Glarus sogar mit Zeichnun-
gen ergänzt wurde) machen deutlich, wie
viel Spass und Spielwitz inBauvorschrif-
tenundnostalgischenBilderweltenliegen
kann,wenn siekonsequent und bis an die
Grenze desAbsurden weitergeführt wer-
den. Steildächer sind vervielfältigt, einst
für Heimarbeit angepassteBauernhaus-
typen mit einemBasketballplatz erwei-
tert, Scheunen auf Stelzen gestellt.
Die Frage ist nur, wen die Architek-
ten zuerst von ihren Entwürfen überzeu-
gen werden: die Modellbaudesigner von
Faller oder dieBaukommission von New
Glarus? Oder aber, falls diese den Ernst
hinter diesen Spielereien nicht erkennen,
sind es dann die aufgeschlossenen Glar-
ner, die sich schon beim ersten Besuch
des amerikanischen Architecture Office
für dessen neugierigen Blick auf den
Umgang mitTraditionen begeisterten?
«Swissness Applied», bis 10.November 2019,
Kultur güterschuppen Glarus , geöffnet am
Wochenende, ab dem 25.Oktober gleiche
Öffnun gszeiten wie das Kunsthaus Glarus.
Haute Couture
und hohe Kunst
Zum Tod von Jessye Norman
CHRISTIAN WILDHAGEN
Man könnte es so knapp formulie-
ren wiePeter Gelb, der Generaldirek-
tor der NewYorker Met: «Jessye Nor-
man war eine der grösstenKünstlerin-
nen, die je auf unserer Bühne gesungen
haben.» Norman habe das Publikum mit
ihremTon, ihrer Kraft und ihremFein-
gefühl begeistert, so Gelb. Die Nach-
richt vomTod dieser aussergewöhn-
lichenKünstlerin nahm dieMetdenn
auch zum Anlass, ihr eineVorstellung
von Gershwins «Porgy and Bess» zu
widmen. Freilich schwang selbstin die-
ser schönen Geste,wohl unbeabsichtigt,
jener andere Cantus firmus nach, der
die Laufbahn Normans hartnäckig be-
gleitet hat: dieWahrnehmung und viel-
leicht auch das leise Erstaunen darüber,
dass es einer schwarzen,1945 inAugusta
geborenen und unter wenig privilegier-
ten Verhältnissen in Georgia aufgewach-
senen Sängerin möglich war, eine derart
weltumspannende Karriere zu machen.
Heute sollte dieslängstkein Thema
mehr sein.Jessye Norman jedoch hat
den Kampf für eine künstlerische
Gleichberechtigung unabhängig von
der Hautfarbe schon in jungen Jah-
ren bewusst aufgenommen.Vorkämp-
ferinnen wie Leontyne Price, Dorothy
Maynor und Marian Anderson hätten
sie überhaupt erst in dieLage versetzt,
freiheraus zu sagen: «Ich will französi-
sche oder deutsche Oper singen», wie sie
1983 in einem Interview erklärte – an-
statt sich immer nur, wie viele schwarze
Sänger vor ihr, auf eineRolle in «Porgy
and Bess» oder Gospel, Soul undJazz
einengen zu lassen.Norman zog aus
ihrem viel weiterreichenden Anspruch
die Konsequenz und baute ihre Karriere
von Europa aus auf. Der Gewinn des
ARD-Musikwettbewerbs in München
öffnete ihr1968 Tür undTor; 1969 debü-
tierte sieals Elisabeth inWagners«Tann-
häuser» an der Deutschen Oper Berlin,
wo man ihr umgehend einFestengage-
ment anbot. Deutschland wurde für die
Sängerin, die fliessend Deutsch sprach
und für bayri sches Bierschwärmte, eine
Heimat auf Zeit. Schon bald gastierte sie
auf allen wichtigen Bühnen in Europa:
1972 erstmals als Aida unter Abbado an
der Scala, im selbenJahr als Cassandre
in Berlioz’ «LesTroyens» in London.
1977 folgte der erste von über vier-
zig Auftritten bei den SalzburgerFest-
spielen, denen sie einVierteljahrhundert
lang verbunden blieb. Ihre auf CD doku-
mentierte Interpretation vonWagners
«Liebestod» unter Karajan zählt zu den
Meilensteinen derFestspielgeschichte.
Daneben entwickelte sie früh eine Be-
geisterung für den Liedgesang, die sie
zeitweilig sogar überJahre von Opern-
auftritten Abstand nehmenlies s. Ihre
hochartifizielle, bis in feinste stimmliche
und sprachliche Nuancenkontrollierte
Auseinandersetzung mit dem deutschen
und dem französischenRepertoire ist
auf zahlreichenAufnahmen bewahrt.
Zu ihren massgeblichen Einspielungen
gehören nicht zuletzt die«Vier letzten
Lieder» von Strauss unterKurt Masur.
IhrVerhältniszuAmerika entspannte
sich bald,auch blieb sie ein Leben lang
der Jazz- und der Gospel-Tradition ver-
bunden. Sie sang bei offiziellen Anlässen
wie den Amtseinführungen vonReagan
und Clinton sowie bei der Eröffnung der
Olympiade in Atlanta1996. Schon 1989
trat sie zur 200-Jahr-Feier derFranzösi-
schenRevolution vor einem Millionen-
publikum auf – in spektakulärer Insze-
nierung und Haute Couture, die auch in
kleinerem Bühnenrahmen eines ihrer
Markenzeichen war.Am Montag istJes-
sye Norman im Alter von74 Jahren an
den Spätfolgen einerRückenmarksver-
letzung in NewYork gestorben.
Jessye Norman
PD Sängerin
Unter den Entwürfen in derAusstellung «SwissnessApplied» gibt es auch ein ins Extrem getriebenes Emmentaler Haus und eine
Käserei, die denBauvorschriftenvon New Glarus entsprechen. ARCHITECTURE OFFICE / ALAINA MARRA