Mittwoch, 2. Oktober 2019 SPORT43
Ein Mann aus Pech und Schwefel
Der Leichtathletik-Trainer Alberto Salazarwird nach einem Dopingverfahren für vier Jahre gesperrt
REMO GEISSER,DOHA
Die ersten Anschuldigungen von ehe-
maligenAthleten und Mitarbeitern wur-
den 2012 erhoben.Jetzt, nach sieben-
jähriger Ermittlungs- undVerfahrens-
arbeit, ist endlich einVerdikt da: Der
Trainer Alberto Salazar wird von einem
amerikanischen Schiedsgericht für vier
Jahre gesperrt. Mit ihm stürztauch sein
medizinischer Handlanger, derArztJef-
frey Brown.Auch er erhält eine vier-
jährige Sperre. Travis Tygart, der Chef
der US-Antidoping-Agentur (Usada),
schri eb dazu in einem Communiqué:
«Bei ihrer Arbeit haben Herr Salazar
und Dr. Brown demonstriert, dass Ge-
winnenwichtiger war als die Gesundheit
und dasWohlergehen der Athleten.»
Mit Millionen von Nike
Salazar ist eine der schillerndstenTrai-
nerfiguren der Leichtathletik, und er
steht für das ambitionierteste Projekt
der Gegenwartin dieser Sportart. 2 001
überzeugte er Nike davon, Millionen in
seinenVersuch zu investieren, die ame-
rikanischenLäufer wieder an dieWelt-
spitze zu führen und die Dominanz der
Ostafrikaner zu brechen. Seither ist das
Nike Oregon Project zueiner inter-
nationalen Leistungsschmiede gewor-
den. Unter Salazar wurde der Brite Mo
Farah viermal Olympiasieger und sechs-
mal Weltmeister auf denLangstrecken,
besiegte derAmerikaner Matthew Cen-
trowitz an den Sommerspielen 20 16
sämtlicheAfrikaner, gewann die Nieder-
länderin Sifan Hassan dieserTage WM-
Gold über10 000 m.
Salazar war einst selbst ein Mara-thonläufer der Extraklasse, und als er
sein Oregon Project lancierte, kündigte
er an, dasLauftraining zurWissenschaft
zu erheben.Tatsächlich wirkte es bald
einmal, als betreibe er eine Art Leis-
tungslabor. Der US-Coach war der erste,
der seine Athleten aufLaufbändern mit
reduzierter Schwerkraft oder imWasser
trainieren liess. Und während der Som-
merspiele 2012 wurdeFarahs Hotel-
zimmer so modifiziert, dass beim Schla-
fen einAufenthalt in der Höhe simuliert
werden konnte.
Die Läufer folgten Salazar wie einem
Guru, und Salazar kannte kein Par-
don. 2013 kamer nach dem Diamond-
League-Meeting in London mit MoFarah und GalenRupp ins längst leere
Stadion zurück.Die Spitzenathleten hat-
ten kurz zuvor einen hartenWettkampf
gelaufen, nun absolvierten sie mit Sala-
zar spätabends einBahntraining.DerTrainer stand mit der Stoppuhr da und
trieb sie an.Wie ein Guru erhebt er auch
einen absoluten Machtanspruch. Als er
2007 einen Herzanfall erlitt, holte erden UniversitätscoachJoel Schumacher
als Trainer insTeam. DreiJahre später
gewannein von Schumacherbetreuter
Athlet einRennen vor Salazars Muster-
schülerRupp. Salazar sagte danach über
Schumacher: «Er ist meinTodfeind.»
Salazar lebte von demRuf, gute Ath-
leten noch besser zu machen.Als Farah
nach der Saison 2010 zu ihm wechselte,
war er europäische Spitze. Er sagte,er
verspreche sich vom neuen Coach die1bis 2 Prozent,die ihm noch fehlten,um
weltweit ganz vorne zu sein.Tatsächlich
verbesserte sich der Brite über 10000 m
um 2,5 Prozent.2018 stiess die Deutsche
Konstanze Klosterhalfen zum OregonProject, sie steigerte sich in einemJahr
über 1500 m um2,9 und über 5000 m so-
gar um 4,2 Prozent. Bei Hassan ist der
Sprung seit ihremWechsel 2016 weniger
augenfällig.Aber sie lief im 10000-m-Final von Doha die letzten1500 m in3:59. Das wäre schon auf der Mittelstre-
cke eineWeltklassezeit und ist mit über
20 Rennrunden in den Beinen eigent-lich unmöglich.
Nicht ohneAsthmaspray
Farah, Klosterhalfen, Hassan – sie allemussten sich immer wieder kritischeFragen gefallen lassen. Denn seit 20 15ist öffentlich bekannt, dassFarah nicht
nur dieWissenschaft nutzt, sondern auch
den Medizinschrank. DieRecherche-Plattform Pro Publica und derTV-Sen-
der BBC legten offen, was Insider derUsada bereits dreiJahre zuvor geklagt
hatten: Im Oregon Project geht man zu-
mindest weit in den Graubereich.Läufer
sollen untereinander gewitzelt haben,dass man nicht nur schnell sein müsse,
um bei Salazar mitzumachen,man brau-
che auchRezepte fürAsthmasprays und
Bauchspeicheldrüsenhormone.
Hier spielte der ArztJeffre y Brown
eine traurigeRolle. Er verschrieb Ath-
leten die Medikamente, auch wenn sie
diese gar nicht brauchten. Pro Publicagegenüber sagten einzelneLäufer, sieseien von Salazarregelrecht dazu ge-drängt worden und Brown habe dannallfällige Nebenwirkungen herunter-gespielt.Bauchspeicheldrüsenhormonewurden früher von Bodybuildern miss-
braucht, um dasKörperfett zureduzie-
ren. Für Salazar ist das Gewicht fastschon eine Obsession,sein e Athletenwirken selbst in einem Sport der schlan-
ken Menschen besonders hager.
Doch Salazar ging anscheinend über
den Graubereich hinaus. Er hat zuge-geben, dass er einen seinerSöhnemiteiner Testosteron-Crème behandelnliess und ihn dann einem Antidoping-Test unterzog. Mutmasslich ging esdarum,die Grenzen von Mikrodosenauszuloten.Ausserdem existiert ein Bild
von einem Protokoll, in dem Medika-mente aufgeführt sind, die GalenRupp
in jungenJahren nahm.Dazu gehört die
verbotene SubstanzTestosteron.LautUsada haben frühere Sportler und Mit-
arbeiter des Nike Oregon Project in dem
langenVerfahrensolche Anschuldigun-
gen bestätigt. Die Faktenlagereichte für
eineVerurteilung. Doch Salazar bestrei-
tet alles, er will gegen das Urteilrekur-
rieren – und: Nike hat angekündigt, den
Rekurs zu unterstützen.
Alberto Salazar und seine Stoppuhr:Der Coacherhebt wie ein Guru einen absoluten Machtanspruch. DON RYAN/AP
Ein Alleskönner auf einer Mission
Der Zehnkämpfer Kevin Mayer ist ein Pop-Star der Leichtathletik – er tut viel dafür, dass seine Disziplin wieder mehr Aufmerksamkeit erhält
ANDREASBABST, DOHA
Der letzte Zehnkampf, den Kevin
Mayer absolvierte, war jener, in dem er
die Grenzen seiner Disziplin sprengte:
Weltrekord, 9126 Punkte. Das war vor
mehr als einemJahr. Die Zehnkämpfer
sind die Alleskönner der Leichtathletik:
100 m sprinten,Weitsprung, Kugelstos-
sen, Hochsprung, 400 m sprinten. Und
am zweitenTag: 110 m Hürden, Diskus-
wurf, Stabhochsprung, Speerwurf – und
am Ende, wenn derKörper schon nicht
mehr kann, ein1500-m-Lauf.
Was so ein Zehnkampf ihm abver-langt, erklärte Mayer kürzlich auf der
Website desWeltverbandes IAAF. Ge-
fragt, wieso er so langekeinen komplet-
ten Zehnkampf mehr absolviert habe,
sagte Mayer: «Ich möchte in Doha eine
Medaille gewinnen,und meinKörper ist
nichtfähig, mehr als einen Zehnkampf
im Jahr auszuhalten.» Mayer ist erst 27.
Der Franzose katapultierte sich imSommer2016 mit dem Silber-Gewinn an
den Olympischen Spielen auf die ganz
grosse Bühne. Jahrelang hatte der Ame-
rikanerAshton Eaton den Zehnkampf
dominiert, keiner konnte mit ihm mit-halten, wie es Mayer in Rio deJaneiro
tat.Am Ende gewann Eaton und trat zu-
rück – einJahr später war MayerWelt-
meister.
Posterboy im Anachronismus
Die Spiele in Rio waren auch die Geburt
des Leichtathletik-Pop-Stars Mayer.Damals nahm die breite französischeÖffentlichkeit erstmals Notiz von ihm.Er nutzte das Momentum geschickt.Nur sechsTage nachdem er in Rio die
Medaille entgegengenommen hatte, prä-
sentierte er sich am Diamond-League-
Meeting inParis, er war im Speerwurfgemeldet und fühlte sich ausgelaugt,aber es ging nicht um die Leistung, son-
dern darum,sich dem französischenPublikum zu zeigen.
Mayer will den Zehnkampf neu be-
leben. Die Alleskönner waren einstdie Könige der Leichtathletik, aber sie
mussten ihrenThron schon vor länge-rem für die Sprinterräumen. Der Mehr-
kampf findet nicht Platz in den grossen
Meetings, weil er zweiTage dauert und
eigentlich ein Anachronismus ist: Zehn
Disziplinen, das braucht Geduld undSachverstand des Publikums, und dieIAAF versucht gerade, die Leichtathle-
tik zu verschlanken, einfacher zu ma-chen – lieber weniger Disziplinen undkurzeWettkämpfe. Die Zehnkampf-Meetings finden nicht in London, Doha
oder Zürich statt, sondern in Götzis,Ta-
lence oderRatingen.
Aber Mayer ist ein guterPosterboy
für seine Disziplin. Es hilft, dass er aus-
sieht wie ein blonder Alain Delon, der
französischeFilmstar der1960er Jahre,
und dass er neben dem Zehnkampfauch Surfer ist – seinKörper ist immer
sonnengebräunt, sein Haar immer son-
nengebleicht, als wäre er gerade ausdem Wasser gestiegen. Klavier spielt er
auch noch.UndMayersteht für Spek-
takel,an den EM im vergangenen Som-
mer war erFavorit, aber er schied im
Weitsprung nach drei ungültigenVer-suchen aus – er hatte alles riskiert, weil
er nicht nur irgendwie Europameister
werden, sondern dem Publikum auchetwas bieten wollte.
Tipps vom Speer-Olympiasieger
In dieser Saison hat Mayer auch ohneZehnkampf wieder einenWeg gefun-den, sich in einem grossen Stadion zuzeigen: Die Veranstalter der DiamondLeague inParis organisieren seit 20 17einen Dreikampf für ihn, Kugelstossen,
Weitsprung und 110 m Hürden. Mayer
stellte inParis sowohl imWeitsprungwie auch imKugelstossen persönlicheBestwerte auf. Er hat im Sommer mitSpezialisten der einzelnen Disziplinentrainiert, hat sich bei den BestenTipps
geholt:beiThomasRöhler zum Beispiel,
dem Olympiasieger im Speerwurf.
An den WM in Doha wird parallelzum Zehnkampf der Männer der Sieben-
kampf derFrauen ausgetragen, die Mehr-
kämpfer und Mehrkämpferinnen wech-
seln sich jeweils ab. Das Programm istso zwar dichter, aber das letzteRennen
findet doch erst um 0 Uhr 25 Lokalzeit
statt.Fraglich, ob das Publikum in Doha
so lange ausharrt.Mayer nannte dieWM-
Organisation gegenüber der Zeitung«L’Equipe» eine «Katastrophe», es seien
kaum Zuschauer da,und auf die Hitze sei
man auch nicht richtig vorbereitet.
Am Mittwoch wird Mayer trotzdem
antreten,um seinenTitel zu verteidigen.
Vor denWM erschien eine Dokumenta-
tion über seinen Sommer. Zum Ende er-
zählte er vomWeltrekord und von den
WM in Doha. Er sagte: «Ich weiss nicht,
ob mir wieder so ein perfekter Zehn-kampf gelingt. Aber ich spüre, dass ich
viel die grössere Marge habe, als ich sie
noch beimWeltrekordhatte.»Dann die
Schlussszene: Mayer läuft inBadehosen
am Strand der Abendsonne entgegen.
Das Problem
ist nicht nur Doha
Kommentar auf Seite 11
Kambundji
sprintet
in den WM-Final
Schweizer Erfolg über 200m
abb. Doha· Jetzt ist er da, der WM-Fi-
nal. Für Mujinga Kambundji einerseits,
anderseits aber auch für die Schweizer
Leichtathletik: Kambundji qualifizierte
sich am Dienstagabend über 200mals
erste Schweizerin an diesenWeltmeis-terschaften für einenFinal. «Ich wusste:
Ich bin fit, es ist machbar», sagte Kam-
bundji. Sie, die an grossenWettkämpfen
zuletzt vomPech verfolgt schien, an den
EM 2018 dreimal dasPodest verpasste
und am Sonntag nur ganz knapp denFi-
nal über 100m. Sie steht nun in ihrem
ersten WM-Final. «Ich merkeschon,dass ich ein paarRennen in den Bei-nen habe», sagteKambundji, sie ist die
Vielstarterin im SchweizerTeam, «aber
wenn ich auf derBahn bin,ist alles weg.»
Mit 22,49 lief Kambundji die viertbeste
Zeit allerFinalistinnen.
Und in diesemFinal vom Mittwoch
scheint für Kambundji plötzlich mehrmöglich, als nur mitzulaufen.Weil dieJamaicanerin ElaineThompson auf den
Start im Halbfinal verzichtete, lichtensich dieReihen derFavoritinnen lang-
sam. «Eine weniger», so sagt es Kam-bundji. Nur zwei der acht Finalteil-nehmerinnen sind in dieser Saison be-reits schnellergelaufen als Kambundji,
die Schweizerin ist mit ihren 22,26 dieNummer 3.Was sie sich für Chancenausrechne imFinal, wurde Kambundjinach demRennen gefragt.Sie antwor-
tete: «Heute freue ich mich. Ich bin im
Final, scheissegal, ich renne dort ein-fach.» Aber dannschien sie doch insNachdenken zukommen. Denn hin-ter der Dominatorin Dina Asher-Smith
dürfte dasRennen um die Medaillenoffensein. «Hin ter ihr wird es eng»,sagte Kambundji. So eng, dass vielleicht
sogar eine Überraschung drinliegt.
Die andere Schweizerin, die amDienstag startete, war erleichtert. AlsLea Sprunger vor dieJournalisten trat,
sagte sie:«Ich war sehr nervös. Ich hatte
nochkeine ganz gutenRennen in die-ser Saison. Deshalb war ich nicht so zu-
versichtlich.» Sprunger wirkte nicht ner-
vös in ihremVorlauf über 400mHür-den. Sie qualifizierte sich als Viert-schnellste für den Halbfinal, die Zeit:54,98. Zum ersten Mal in dieser Saison
blieb Sprunger unter55Sekunden. Die
letzten Meterkonnte sierelativ locker
ins Ziel laufen. In den letztenWochen
hatte sie immer wieder unsicher gewirkt,
der Vorlauf von Dohakönnte eine Be-
freiung sein. «Jetzt weiss ich, dass ich in
Form bin.Das heute war wichtig für das
Selbstvertrauen»,sagte sie.Und Sprun-
ger ist noch ein Stück entfernt von ihrer
Bestzeit,sie kann noch schneller.AmMittwoch startet sie im Halbfinal.
«Mein Körper ist
nicht fähig, mehr
als einen Zehn-
kampf im Jahr
auszuhalten.»
Kevin Mayer
REUTERS Zehnkämpfer