er Terrorismus folgt einem
stillen Gesetz. Er versetzt
in Schrecken nur, wenn er
neue Grenzen des Grauens
überschreitet. In Frank-
reich war das der Fall, als im Juni 2016
ein Polizistenpaar bei sich zu Hause in
Magnanville ermordet wurde. Ein isla-
mistischer Terrorist hatte den Eheleu-
ten die Kehlen durchgeschnitten, im
Wohnzimmer ihres Einfamilienhauses,
vor den Augen ihres dreijährigen Soh-
nes. Polizeibeamte, die sich im Dienst
nicht mehr sicher fühlen konnten seit
Beginn der Terrorserie, mussten nun
auch noch zu Hause Angst haben.
VON MARTINA MEISTER
Mit dem Attentat vom Donnerstag,
verübt im Hauptsitz der Pariser Polizei-
behörde „von einem von uns“, so der
Präfekt Didier Lallement, hat der Ter-
ror in Frankreich einen neuen Grad er-
reicht. Der Verwaltungsbeamte Mickaël
Harpon, 45, hatte am Vormittag vier
Kollegen an seinem Arbeitsplatz ermor-
det und eine fünfte Person lebensge-
fährlich verletzt. Er war von seinem
Schreibtisch aufgestanden, als würde er
zur Mittagspause gehen, schnitt einem
Kollegen die Kehle durch und stach den
anderen Opfern mehrfach „wie verses-
sen“, so ein Augenzeuge, in den Brust-
korb. Er wurde später im Hof der Prä-
fektur von einem Polizisten erschossen.
Harpon hatte sich die Tatwaffe am sel-
zelnen Beamten.“ Hat der Täter vor sei-
nem Angriff Informationen an radikale
Glaubensbrüder weitergegeben?
Mitarbeiter mit Zugang zu Staatsge-
heimnissen werden regelmäßig über-
prüft. Der Präfekt sagt, es habe keine
Versäumnisse gegeben. Doch es gab
mehrere Hinweise. So hatte Harpon
nach dem Attentat auf die Redaktion
von „Charlie Hebdo“ im Januar 2015 vor
einem Kollegen gesagt: „Gut gemacht!“
Auch hatte er das Video eines Imam ge-
teilt mit der Botschaft: „Was zählt, ist
für den Islam zu sterben.“
Warum hat es knapp 30 Stunden ge-
dauert, bis das Attentat als terroristisch
eingestuft wurde? Die Hinweise, so viel
ist inzwischen klar, müssen vorgelegen
haben. Die Tageszeitung „Le Parisien“
will von Kollegen des Täters erfahren
haben, dass von Vorgesetzten Druck auf
sie ausgeübt worden sei, besagte War-
nungen den Ermittlern gegenüber nicht
zu erwähnen. „Einige von ihnen haben
das der Kripo mitgeteilt, aber verlangt,
dass ihre Aussagen nicht im Verhörpro-
tokoll erscheinen“, schreibt die Tages-
zeitung weiter.
Am Tag nach dem Anschlag haben im
Hof der Präfektur zahlreiche Polizisten
ihrer ermordeten Kollegen gedacht und
eine Schweigeminute eingelegt. Frank-
reichs Polizeibeamte, die am Vortag des
Dramas wegen katastrophaler Arbeits-
bedingungen auf die Straße gingen, sind
nicht mehr „Polizisten in Wut“, es sind
jetzt Menschen in Trauer.
ben Morgen in der Nähe der Präfektur
besorgt, ein Küchenmesser mit 33 Zen-
timeter langer Keramikklinge. Kurz vor
der Tat schickte er seiner aus Marokko
stammenden Frau eine SMS. Diese soll,
laut französischen Zeitungsberichten,
sinngemäß geantwortet haben: Gott al-
lein wird über Dich richten. Allahu Akbar.
Die Auswertung seiner Handydaten
brachte zudem Hinweise über regelmä-
ßige Kontakte zu Mitgliedern islamisti-
scher Kreise, vor allem zum extremisti-
schen Imam einer Moschee seines
Wohnortes Gonesse. Und am Samstag
erklärte Chefermittler Jean-François
Ricard, Harpon, der vor zehn Jahren
zum Islam konvertierte, habe zu mut-
maßlichen Salafisten Kontakt gehabt.
Es ist eine Art Erdbeben, das die Poli-
zeibehörde erschüttert, dessen seismi-
sche Wellen sicher noch lange und weit
ausstrahlen werden. Innenminister
Christophe Castaner hatte zunächst vor
der Presse versichert, dass der Täter
„keinerlei Verhaltensauffälligkeiten“
gezeigt und es „nicht den geringsten
Warnhinweis“ gegeben habe. „Die Tat-
sache, dass man zum Islam konvertiert,
kann nicht als ausreichendes Zeichen
für Radikalisierung gelten“, sagte auch
Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye.
Inzwischen gibt es jedoch Anlass an-
zunehmen, dass die Behörden den Fall
absichtlich kleingehalten oder zumin-
dest die Ankündigung eines Terroraktes
zu verzögern oder zu verschleiern ver-
sucht haben. Wenn sich das bestätigten
sollte, wäre das ein politischer Skandal
höchsten Niveaus.
ZUGANG ZU SENSIBLEN DATENEs
häufen sich Berichte, dass Harpon
durchaus mehrmals mit problemati-
schen Äußerungen aufgefallen war.
Mehrere Male seien diese gemeldet
worden, ohne Konsequenzen. Harpon
war seit 2003 als Informatiker beim Ge-
heimdienst der Polizei tätig und besaß
die höchste Sicherheitsberechtigung
mit Zugang zu hochsensiblen Informa-
tionen. Er hatte Zugriff auf rund 1000
Computer von Kollegen, die verdeckt
ermitteln, unter anderem im Milieu des
radikalen Islam. Einer seiner Kollegen,
der anonym bleiben will, sagt: „Er war
im Besitz der Privatadressen jedes ein-
Was vertuscht die
Regierung?
Die Hinweise
verdichten sich, dass
der Messerstecher
von Paris Islamist
war. Und dass die
Behörden das
verschleiern wollten
Das Hauptquartier
der Polizei in Paris
Hier tötete Attentäter
Harpon vier Kollegen
AP
/KAMIL ZIHNIOGLU
D
12 DEUTSCHLAND & DIE WELT WELT AM SONNTAG NR.40 6.OKTOBER