Der Spiegel - 28.09.2019

(Ann) #1

Dieses Verbrechen steht am Beginn ei-
ner Ereigniskette, welche die frühere bri-
tische Kronkolonie Hongkong in eine tiefe
Krise stürzt, ihre Bevölkerung entzweit
und ihre Wirtschaft bedroht. Hongkongs
Bedeutung als drittgrößter Börsenplatz der
Welt und sein exponierter Status als Son-
derverwaltungsregion der Volksrepublik
China zwingt Regierungen von London
über Berlin bis Washington, in dem Kon-
flikt Stellung zu beziehen.
Die Ereignisse, die mit dem Tod von
Poon beginnen, erwecken eine Protest -
bewegung wieder, die nach dem Scheitern
der Regenschirm-Proteste 2014 am Ende
schien, nun aber mit einer solchen Wucht
zurückkehrt, dass sie die Führung der
Supermacht China herausfordert.
Wie ist es zu dieser Krise gekommen?
Was waren die Szenen und Entscheidun-


gen, die sie vorantrieben, was die verpass-
ten Chancen, sie zu entschärfen? Der
SPIEGELhat den Kon flikt seit Monaten
beobachtet, von friedlichen und gewalt-
tätigen Demonstrationen berichtet, mit
zahlreichen Vertretern beider Lager ge-
sprochen, aber auch mit Menschen, die
zwischen diesen Lagern stehen.
Es ist zu früh, die Geschichte des tur -
bulenten Sommers von Hongkong ab-
schließend zu beschreiben. Doch nach
mehr als 100 Tagen des Protests ist es Zeit,
sich ein möglichst umfassendes Bild zu
machen.
An diesem Samstag jährt sich zum
fünften Mal der Beginn der Hongkonger
Regenschirm-Proteste von 2014. Am kom-
menden Dienstag begeht die Volksrepu-
blik China den 70. Jahrestag ihrer Grün-
dung, mit einer großen Militärparade im
Zentrum von Peking. Tatsächlich werden
die Blicke der meisten Beobachter am


  1. Oktober nicht auf den Platz des Himm-
    lischen Friedens gerichtet sein, sondern
    auf die Entwicklung in Hongkong.


Nach dem Tod von Poon Hiu-wing dau-
ert es Monate, bis der Fall Schlagzeilen
macht. Der Grund ist ein juristischer: Zwi-
schen Hongkong und Taiwan besteht kein
Auslieferungsabkommen. Chan hat zwar
gestanden, seine Freundin getötet zu ha-
ben, doch die Justiz kann ihn nicht nach
Taipeh überstellen. Stattdessen wird er im
Juni 2018 angeklagt und zu 29 Monaten
Haft verurteilt – aber nur wegen Geld -
wäsche, dem einzigen Vergehen, das ihm
in Hongkong nachzuweisen ist.
Sie verstehe die Frustration, sagt die
Richterin in ihrer Urteilsbegründung, dass
»das Geständnis eines Angeklagten, jeman-
den außerhalb dieser Gerichtsbarkeit ge-
tötet zu haben, keine Grundlage für eine
Mord- oder Totschlagsanklage in Hong-
kong« biete. Doch Hongkong sei ein
Rechtsstaat. Unter Anrechnung der Un -
tersuchungshaft könnte
Chan schon im Oktober
2019 wieder auf freiem
Fuß sein.
Während Chans Pro-
zess läuft, schreiben die
Eltern des Opfers fünf
um Hilfe bittende Briefe
an die Frau, die zur
Schlüsselfigur der Krise
von 2019 werden soll:
Carrie Lam, 62, seit 2017
Regierungschefin von
Hongkong.
Lam ist eine Karriere-
beamte. Ihr Fleiß, ihr
Ehrgeiz und ihre Durch-
setzungsfähigkeit haben
sie in das höchste Amt
der Stadt gebracht. Sie
ist bekannt dafür, dass

sie auch private Petitionen liest und sich
ihrer persönlich annimmt.
Den Fall Poon nimmt sie zum Anlass,
eine massive Gesetzesänderung einzubrin-
gen: Sie will Hongkongs Auslieferungs -
abkommen nicht nur auf Taiwan, sondern
auch auf das chinesische Festland auswei-
ten – wo praktisch jede Anklage zu einer
Verurteilung führt und Angeklagte kein
faires Verfahren erwarten können.
Die Frage, was Carrie Lam zu diesem
verhängnisvollen Schritt bewegt, trägt ent-
scheidend zum Ausbruch der Krise bei, ist
aber bis heute umstritten. Politische Geg-
ner unterstellen ihr, sie habe auf Pekings
Anweisung gehandelt. Lam bestreitet das,
und vieles deutet darauf hin, dass sie tat-
sächlich selbst die Initiative ergriffen hat.
Jedenfalls setzt sie sich von Anfang an ent-
schieden und ungeduldig für die Novelle
ein, ohne sich mit der Opposition zu bera-
ten: »Wir haben keine Zeit zu verlieren.
Wir müssen uns bemühen, das Gesetz im
Parlamentsjahr 2018/19 einzubringen –
das heißt, noch diesen Sommer. Seit dem
Mordfall in Taiwan tickt die Uhr. Wir wol-
len nicht, dass der Verdächtige entwischt.«
Anfang Februar wird die Staranwältin
Margaret Ng, 71, auf das neue Gesetz auf-
merksam. Sein Inhalt kommt ihr merkwür-
dig bekannt vor. Ng saß nach der Rück -
gabe Hongkongs an China 1997 im Parla-
ment und erinnert sich, dass schon damals
darüber debattiert wurde, ob man Ver-
dächtige an China ausliefern solle. Aus Sor-
ge, ein solcher Schritt könne das Vertrauen
internationaler Investoren in Hongkongs
Rechtsstaatlichkeit erschüttern, wurde der
Plan verworfen. Nun hat ihn Lam wieder
aufs Tapet gebracht.
»Also nahm ich meine Unterlagen aus
der Zeit damals unter den Arm, ging zu
einer Zeitung und erzählte, was ich wuss-
te«, sagt Ng. Ihre Warnung, ein Ausliefe-
rungsabkommen mit China bedrohe nicht
nur Investoren und Geschäftsleute, son-
dern jeden Hongkonger,
alarmiert eine breite
Öffentlichkeit. Der Wi-
derstand gegen Lams
Gesetz, bislang auf weni-
ge Experten beschränkt,
ziehtKreise. Langsam
kommt eine Protestbe-
wegung in Gang.
Am 27. März trifft sich
der Demokratieaktivist
Joshua Wong, 22, mit
dem SPIEGELzu einem
Interview. Es geht um
dieBemühungen Pekings,
Hongkong politisch, recht-
lich und wirtschaftlich
immer enger an das Fest-
land zu binden, zuletzt
mit einem Plan, die gro-
ßen Städte des Perlfluss-

DER SPIEGEL Nr. 40 / 28. 9. 2019 91


Ausland

ATHIT PERAWONGMETHA / REUTERS

Paar Chan, Poon um 2017
Ein Mord als Auslöser
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