Süddeutsche Zeitung - 05.10.2019

(Ron) #1

FREI VON


ANGST


Wie Journalistin
Meşale Tolu
mit ihrem Kind
die Haft
in der Türkei
überstand

Gesellschaft


AM WOCHENENDE


WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HMG MÜNCHEN, SAMSTAG/SONNTAG, 5./6. OKTOBER 2019 75. JAHRGANG /40. WOCHE / NR. 230 / 3,70 EURO


BLUTGELD


Mexikaner
spenden
ander Grenze
zu den USA
Plasma – auf
Kosten ihrer
Gesundheit

Wissen


Friede war Mohandas K. Gandhi am gro-
ßen Jubiläumstagnicht gegönnt. Indien
feierte am 2. Oktober den 150. Geburtstag
ihres legendären Freiheitskämpfers. Es
sollten besinnliche Momente der Erinne-
rung an den Mahatma sein, die „große
Seele“, wie ihn die Inder nennen. Hetze
und Hass sollte es nicht geben, aber es
kam dann doch anders. Zumindest in
Madhya Pradesh, wo jetzt nach jenen Un-
bekannten gefahndet wird, die eine Ge-
denkstätte von Mahatma schändeten.
Während die Feierlichkeiten für den
Nationalhelden überall im Land im Gange
waren, brachen Unbekannte in eine Ge-
denkstätte in Zentralindien ein und be-
schmierten ein Bild von Gandhi mit den
Worten „Gegner der Nation“. Das ruft düs-
tere Erinnerungen daran hervor, dass der
Freiheitskämpfer nicht nur Verehrer hat,
sondern auch teils sehr militante Gegner.
Verwirrung gab es außerdem um Gandhis
Asche: Nationale und internationale Medi-
en hatten berichtet, dass bei dem Ein-
bruch auch dessen Überreste entwendet

wurden. Die Polizei konnte dies zunächst
nicht bestätigen, die Vorwürfe werden
noch untersucht. Nach seiner Ermordung
1948 war der Mahatma in Delhi verbrannt
worden, seine Asche verteilte man auf
mehrere Orte in Indien, teils wurden sie
auch im Ganges verstreut.
Gandhi war Hindu, und der Ausgleich
zwischen den Religionen war für ihn im-
mer auch Ausdruck seines Glaubens. Wer
den Hinduismus praktiziert wie er, fühlt
sich der Toleranz verpflichtet. Sie war lan-
ge prägend für das pluralistische Indien.
Allerdings kollidierten Vorstellungen, wie
sie Gandhi vertrat, schon früh mit der Po-

sition anderer Hindu-Gruppen. Sie haben
es dem Anführer des zivilen Ungehor-
sams gegen die Briten nie verziehen, dass
er auf Ausgleich mit Muslimen bedacht
war. Aus Sicht der Gegner war Gandhi na-
iv und untergrub die Ziele einer Hindu-Na-
tion, sie sahen ihn als Verräter und gaben
ihm die Schuld, dass der Subkontinent in
zwei Staaten geteilt wurde. Historisch ist
das fragwürdig, denn es war vor allem die
Schwäche der Briten, die Indiens Dekolo-
nisierung so chaotisch machte.
Kurz nach der Unabhängigkeit feuerte
der Fanatiker Nathuram Godse im Januar
1948 drei Kugeln auf Gandhi ab, das tödli-

che Attentat überschattet das Gedenken
bis heute. Für die seit 2014 regierenden
Hindu-Nationalisten ist dies besonders
kompliziert. Der Gandhi-Biograf Rama-
chandra Guha nannte es einmal „para-
dox“, wie Premier Narendra Modi versu-
che, sich das Erbe des Freiheitskämpfers
anzueignen. Historiker deuten auf die gro-
ße Kluft, die zwischen der Philosophie
des Mahatma und der Weltanschauung
der Hindu-Nationalisten herrscht. Deren
Partei BJP und ihre rechtsnationale Ka-
derorganisation RSS steuern einen Kurs,
der Minderheiten einschüchtert, was gar
nicht zu Gandhis Idealen passt.
Dennoch bemühen sich führende Zir-
kel der Partei BJP darum, Gandhis Erbe in
ihre Kampagnen einzubauen und den
Werbeeffekt der Ikone zu nutzen. Gleich-
zeitig lassen sie kaum Eifer erkennen, ra-
dikale Kräfte in den eigenen Reihen an
die Leine zu legen. Die Eiferer verehren
nicht Gandhi, sondern seinen Attentäter:
Ihn sehen sie als den großen indischen Pa-
trioten. arne perras

 Buch Zwei, Seite 11


Böse Glückwünsche


Indien gedenkt seines Nationalhelden Gandhi: Am Rande
der Feierlichkeiten gibt es Verwirrung um seine Asche

Xetra Schluss
12013 Punkte

N.Y. Schluss
26572 Punkte

22 Uhr
1,0977 US-$

Der Regen lässt im Osten, über den Mittel-
gebirgen und im Süden bis zum Abend
nach. Im Nordwesten wird es hingegen
häufiger sonnig, und es bleibt meistens
trocken. Die Temperaturen erreichen
fünf bis 16 Grad.  Seite 14 und Bayern

Washington – US-Präsident Donald
Trump hat mit seiner Forderung, neben
der Ukraine solle auch China gegen den
Demokraten Joe Biden und seinen Sohn
ermitteln, Empörung bei den Demokra-
ten ausgelöst. Es gibt keine Beweise, dass
die Bidens politischen Einfluss mit Ge-
schäften verquickt haben. sz  Seite 2

von michael bauchmüller,
nico fried und mike szymanski

Der größte Gegner sitzt wieder in den eige-
nen Reihen, diesmalheißt er Karl Lauter-
bach. Professor Lauterbach. Er sei Wissen-
schaftler, hat er jüngst betont, deshalb kön-
ne er beurteilen, dass der Klima-Kompro-
miss „ein Mega-GAU für das Klima“ sei.
Von allen Kandidaten für den SPD-Vorsitz
lehnt Lauterbach die große Koalition am
entschiedensten ab. Der Klima-Kompro-
miss soll ihm und seiner Mitkandidatin Ni-
na Scheer als Beweis für die Unzulänglich-
keit des Bündnisses dienen. Das Motiv ist
durchschaubar. Doch allein ist er nicht.
Die SPD-Spitze hat registriert, wie ent-
setzt auch die eigene Basis teilweise auf
den Klima-Kompromiss reagierte. Nun ist
man selbst zerknirscht, manch einer auch
verbittert. Die Verhandler – so lautet eine
Erkenntnis aus der Parteispitze – hätten
falsch eingeschätzt, mit welcher Symbo-
lik vor allem die Höhe für die künftige Be-
preisung von Kohlendioxid zuvor aufgela-
den worden war. 30 Euro lautete die Min-
destforderung mancher Experten, 180 die
der Klima-Aktivisten. Der „große Wurf“,
das war die Ankündigung von Vizekanzler
Olaf Scholz. Da mussten zehn Euro zum
Einstieg fast zwangsläufig durchfallen.
Mit den 17 Euro, die nun maximal auf Flug-
tickets aufgeschlagen werden sollen, dürf-
te es nicht anders gehen.
Am kommenden Mittwoch soll das Ka-
binett die Eckpunkte des Gesamtpakets
verabschieden, die Finanzierung ist schon
beschlossen. Die ersten Gesetzentwürfe
sind in Arbeit, danach muss verhandelt
werden, vor allem mit den Grünen, die im
Bundesrat auf einzelne Punkte Einfluss
nehmen können. Doch schon jetzt hadern
die Sozialdemokraten mal wieder mit sich
selbst. Die Union hadert mit der SPD, weil

sie nicht geschlossen steht. Und die Union
selbst setzt auch unterschiedliche Signa-
le. Sie reichen von den jüngsten Angriffen
der Vorsitzenden Annegret Kramp-Kar-
renbauer auf die Grünen („Nur zu sagen,
das reicht nicht, reicht eben gerade
nicht“), bis zu den Flötentönen des Frakti-
onschefs Ralph Brinkhaus, der für einen
„breiten Konsens“ warb.
Doch unterschwellig geht es um eine
grundsätzliche Frage: Welchen Wert hat
der Kompromiss bei einem existenziellen
Thema wie dem Klimaschutz? In ihrer Re-
de zum Tag der Deutschen Einheit warnte
Kanzlerin Angela Merkel: „Es ist falsch,
im Kompromiss nur etwas Faules zu se-
hen, ihn gar als Verrat am eigentlich Richti-
gen zu schmähen.“ Andererseits dient der

Zwang zum Kompromiss der Politik auch
schnell mal als Ausrede, schmerzhafte
Entscheidungen zu vermeiden.
Matthias Miersch ist SPD-Fraktionsvi-
ze, ein renommierter Umweltpolitiker und
nicht im Verdacht, durch Macht korrum-
pierbar zu sein. Miersch nennt das Klima-
paket eine „belastbare Arbeitsgrundlage“.
Und er sagt: „Ich frage mich ernsthaft, in
welcher Zeit wir eigentlich leben, wie viel
Differenziertheit wir uns noch leisten kön-
nen.“ Es gebe im Klimaschutz „eine
Polarisierung zwischen denen, die gar
nichts, und denen, die sofort den Hebel um-
legen wollen“. Er mache sich, so Miersch,
ernsthaft Sorgen um die Demokratie.
Dazu kommt, dass in Zeiten von hohem
Tempo und kurzen Botschaften manches

Ergebnis schwer zu erläutern ist. Die SPD
hält sich zugute, Großes erreicht zu ha-
ben: einen Mechanismus, der künftig Mi-
nisterien unter Druck setzt, wenn in ih-
rem Bereich die Klimaziele gefährdet
sind. Den Vorschlag von Umweltministe-
rin Svenja Schulze hatte die Union lange
abgelehnt. Nun kommt er. Ein SPD-Erfolg


  • doch in den Eckpunkten steht er auf der
    vorletzten Seite, hinter der „KfW als trans-
    formative Förderbank“. Auch bleibt der
    Mechanismus abstrakt, der Erfolg ist
    nicht leicht zu erklären.
    Besonders bitter muss der SPD aufsto-
    ßen, dass ihr Eintreten für sozialen Aus-
    gleich kaum Resonanz findet. Fraktions-
    chef Rolf Mützenich sagt: „Es geht mit
    dem Klimapaket auch darum sicherzustel-
    len, dass sich die Gesellschaft nicht weiter
    ökonomisch und sozial spaltet, sondern
    so gut wie möglich zusammenbleibt.“ Was
    solle er einem Arbeiter sagen, der täglich
    mit dem Auto eine lange Strecke zum Be-
    trieb zurückzulegen hat und der sich ent-
    weder kein neues E-Auto leisten könne
    oder feststelle, dass dafür noch kaum La-
    desäulen vorhanden sind. „Dem müssen
    wir doch auch die Chance geben, sich dar-
    auf einzustellen“, sagt Mützenich.
    Jüngst hatte die SPD-Spitze einen Gast
    eingeladen: Carsten Brosda, Senator für
    Kultur und Medien in Hamburg und Ex-
    perte für Netzpolitik. Er hat ein Buch ge-
    schrieben, warum sich die Volksparteien
    heute so schwertun, mit Kompromissen
    in der Gesellschaft durchzudringen. Bros-
    das Ausführungen in der SPD-Spitze lie-
    fen Teilnehmern zufolge darauf hinaus,
    dass der Kompromiss heute nicht mehr
    nur als langweilig und vorgestrig gelte. Er
    werde geradezu als strategisches Mittel
    zur Verzögerung politischer Entscheidun-
    gen wahrgenommen. Nach Antworten
    sucht man noch in der SPD.


ILLUSTRATION: STEFAN DIMITROV, FOTOS: DPA, MAURITIUS

Dax▲ Dow▲ Euro▲


Euro-Jackpot(4.10.2019)
5 aus 50:15, 19, 20, 45, 49
2 aus 10:7, 8 (Ohne Gewähr)

Die SZ gibt es als App für
Tablet undSmartphone:
sz.de/zeitungsapp

16 °/1°


London– Die britische Regierung hat
Meldungen, wonach Boris Johnson bereit
sei, die EU um eine Verschiebung des Aus-
tritts zu bitten, zugleich bestätigt und zu-
rückgewiesen. Dieses Verwirrspiel ge-
hört zur Verhandlungstaktik Johnsons.
Das Unterhaus hatte ein Gesetz gebilligt,
nach dem Johnson die EU um eine Verlän-
gerung der Verhandlungen bitten muss,
wenn bis zum 19. Oktober kein Deal er-
reicht ist. Der Premier betont, er werde
das Gesetz nicht brechen, gleichwohl wer-
de Großbritannien am 31. Oktober austre-
ten. Regierungsdokumente belegen,
dass Johnson den erforderlichen Brief im
Zweifel schreiben werde. Downing Street
sagt aber, es sei „nicht verboten, nach an-
deren Wegen zu suchen, um diese Verzö-
gerung zu umgehen“.ck  Seite 4

Empörung


über Trump


MIT IMMOBILIEN-,
STELLEN- UND
MOTORMARKT

Wissen


mit


Lücken


Wikipediadroht am eigenen


Erfolg zugrunde zu gehen.


Die Zahl der Autoren


nimmt ab, die Macht der


wenigen Aktiven wächst. Kann man


dem Online-Lexikon noch trauen?


+ 0,73% + 1,42% + 0,

DAS WETTER



TAGS

NACHTS

Verwirrspiel


um Brexit-Termin


Britische Regierung verspricht,
Brief an Brüssel zu schreiben

Halb oder gar nicht


Vor allemdie SPD hadert mit dem Klimapaket der Bundesregierung. Bei existenziellen Themen


wie diesem stellt sich die Frage, ob der politische Kompromiss überhaupt funktionieren kann


Das Klimapaket der BundesregierungAngaben in Prozent

Als nicht weitgehend genug bewerten das Paket Anhänger von ...

Das Ergebnisbewerten die Befragten als ...

13
20
53

zu weitgehend
gerade richtig
nicht weitgehend genug

CDU/CSU

39

SPD

61

28

FDP AfD

46

Linke

64

Grüne

78

Quelle: ZDF/Forschungsgruppe Wahlen (Politbarometer vom 27.9.2019)

Süddeutsche ZeitungGmbH,
Hultschiner Straße 8,81677 München; Telefon 089/2183-0,
Telefax -9777; [email protected]
Anzeigen:Telefon 089/2183-1010 (Immobilien- und
Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt),
089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte).
Abo-Service:Telefon 089/21 83-80 80, http://www.sz.de/abo
A, B, F, GR, I, L, NL, P, SLO: € 4,20;
ES (Kanaren): € 4,30; dkr. 34; £ 3,90; kn 36; SFr. 5,

TV-/Radioprogramm, Medien 42–
Forum & Leserbriefe 14
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel & Schach 36
Traueranzeigen 20, 21


(SZ) Kaum etwas beschäftigt lebende
Menschen eindringlicher als die Frage,
ob sie richtig leben oder falsch. Es ist kein
Geheimnis, dass in Felder, auf denen das
Gespenst der Unsicherheit spukt, eine
ganze Industrie von Sachverständigen
und Halunken einrückt, um dem Spuk
ein Ende zu machen und gegebenenfalls
einen neuen Spuk an seine Stelle zu set-
zen. Eine falsche Lebensweise besteht
nach Angaben von Fachleuten in der Ein-
nahme von zu viel Zucker, der Ansamm-
lung von zu viel Fett und der Gewöhnung
an zu wenig Bewegung. Eine gute Lebens-
weise beruht einerseits auf dem Gegen-
teil der schlechten Angewohnheit, ande-
rerseits speist sie sich aus Wunsch und
Willen zu Achtsamkeit und Nachhaltig-
keit, zwei wichtige Vokabeln aus dem
Wörterbuch des Reformhausmenschen.
Wenn man es genau nähme, müsste man
ein eigenes Ministerium für achtsame
Lebensweise einrichten, also eine liebe
Tangente zum Verbraucherministerium;
andererseits haben wir auch als Europäer
die Aufgabe, gemeinsam für eine, ja,
sagen wir es ruhig, europäische Lebens-
weise einzustehen.
Wir Europäer haben da auch schon
mal etwas vorbereitet, und zwar in Ge-
stalt und Programmatik des Kommissari-
ats für europäische Lebensführung, das
der Grieche Margaritis Schinas inneha-
ben soll und vielleicht doch nicht inneha-
ben wird, weil kritische Stimmen laut
werden, die in der Rubrizierung Anklän-
ge an rechte Rhetorik zu hören meinen.
Natürlich sind Belehrungen immer mit
dem Filz der Lehrerlämpelhaftigkeit
überzogen. Aber der Hinweis, dass Rech-
te von europäischer Lebensweise doch
eher nichts halten, sondern lieber die an-
gebliche Überlegenheit ihrer jeweiligen
nationalen Lebensweise beschwören, sei
zumindest als Hilfestellung in die Diskus-
sion eingebracht. Die europäische Le-
bensweise, ja, was soll man sich darunter
vorstellen? In jedem Fall wäre die Aus-
wahl an Genussmitteln schön und vielfäl-
tig, der Tag finge mit ein paar starken ita-
lienischen Espressi an, ein Croissant läge
bei und am späten Vormittag schon könn-
te ein Pfälzer Wein das ungarische Gu-
lasch begleiten, wohingegen der Slibo-
witz den Magen auf die Palatschinke vor-
bereitet, der, wenn nicht ein paar Lauf-
runden durch den Hyde Park anstünden,
spätestens beim Einspänner mit Baklava-
Begleitung zu einer leichten Saudade füh-
ren könnte.
Die europäische Lebensweise könnte
also ein Fest der Abwechslung, eine Folk-
lore der internationalen Vielfalt sein,
wenn der Kommissar nur weiter im Amt
bleiben und den Speiseplan überwachen
könnte. Die EU sei nämlich ein Leucht-
turm in einer Welt, die immer dunkler
wird, sagte Schinas kürzlich. Und es gibt
bestimmt auch schon kritische Stimmen,
die glauben, Schinas wolle deshalb, ist er
erst einmal im Amt, auch die Energiespar-
lampen abschaffen.


4 190655 803708

63040
Free download pdf