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iner der erfolgreichsten Pod-
casts Amerikas ist WTF, ein In-
terview-Format des Comedians
Marc Maron, aufgenommen in
dessen Garage in Kalifornien. So-
gar Barack Obama war einmal zu Besuch,
noch als Präsident, was Aufsehen erregte.
Ansonsten kommen hauptsächlich Musi-
ker vorbei, Schauspieler oder der Talk-
showhost Stephen Colbert. Maron führt
keine feinsinnig durchkomponierten Ge-
spräche, seine Gesprächstechnik ließe sich
vielleicht am ehesten als mutiges Drauflos-
plaudern bezeichnen, wobei er selbst min-
destens so viel redet wie sein jeweiliger
Gast, und zwar sehr laut, den Eröffnungs-
monolog schreit er fast. Dabei wirkt er auf
eine hemdsärmelige Art sehr sympa-
thisch, wie ein Mann, der gut am Grill ist.
Im Juni gab es eine außergewöhnliche
Folge. Zu Gast hatte Maron die amerikani-
sche Autorin, Dramatikerin und ausgewie-
sene Feministin Eve Ensler, 66. Sie hat
Theaterstücke, Gedichte und Essays veröf-
fentlicht, vor allem aber „The Vagina Mono-
logues“.
„Die Vagina Monologe“, 1994 auf einer
winzigen New Yorker Bühne weit weg vom
Broadway uraufgeführt, werden seither un-
aufhörlich irgendwo auf der Welt gespielt,
auch wer das Stück selbst nie gesehen hat,
kennt es dem Titel nach. Es basiert auf In-
terviews, die Ensler mit Frauen über Sexua-
lität geführt hat. Vergewaltigungen kom-
men genauso vor wie erotische Fantasien,
und daran, wer vor Premieren protestiert,
lässt sich ablesen, wo die Kämpfe um Frau-
enrechte gerade geschlagen werden. Vor
20 Jahren fand die katholische Kirche das
Stück sündig, heute sind Transgender-Ver-
bände gekränkt, denen das Frauenbild zu
eng gefasst ist. Insgesamt lässt sich sagen,
dass sich seit der Uraufführung unbefange-
ner über Vaginen sprechen lässt als vorher,
zumal im englischsprachigen Raum, wo
das Wort nicht so verdammt nach Gynäko-
logie klingt.
Nun hätte man Marc Maron nicht unbe-
dingt mit den „Vagina Monologen“ in Ver-
bindung gebracht, auch nicht zum Beispiel
mit dem V-Day, einer von Ensler gegründe-
ten Bewegung gegen Gewalt an Frauen
und Mädchen, die auch in Deutschland viel
Zulauf hat. Ihm war Enslers neues Buch
auf den Schreibtisch geflattert, und die
Lektüre hatte ihn umgehauen. Es heißt
„The Apology“, „Die Entschuldigung“ (Ver-
lag Bloomsbury, bisher nur auf Englisch),
ein schmaler Band, nur knapp mehr als
100 Seiten, in Form eines Briefes. Adres-
siert ist dieser Brief an die Autorin selbst,
und sie hat ihn aus Sicht ihres toten Vaters
geschrieben. Es ist der Versuch einer
Befreiung.
Eve Ensler wurde als kleines Mädchen
von ihrem Vater sexuell missbraucht. Es be-
gann, als sie fünf Jahre alt war und endete,
als sie zehn war. Danach schlug die Stim-
mung ihres Vaters um, er wurde sehr wü-
tend auf sie, verprügelte sie, misshandelte
sie nun seelisch. Als Teenager hatte sie
schwere Drogen- und Alkoholprobleme.
Als sie endlich trocken war, bot er ihr bei je-
dem Treffen als Erstes ein alkoholisches
Getränk an. Er starb vor mehr als 30 Jah-
ren als alter Mann. Bis zum Ende seines Le-
bens blieb ihr Verhältnis kompliziert, noch
auf dem Totenbett bezeichnete er sie als
Lügnerin. Entschuldigt hat er sich bei ihr
nicht. Ensler hat nie ein Geheimnis daraus
gemacht, dass ihr Vater sie missbraucht
hat, ihr neues Buch hat jedoch zum ersten
Mal den Missbrauch zum zentralen The-
ma. Es ist keine Anklage, keine Vernich-
tung, keine Rache. Es ist, wenn man so will,
die Weiterschreibung von #Me Too. Die
nächste Stufe.
Aus den Fenstern ihres New Yorker
Wohnzimmers könnte man direkt aufs
Flatiron Building sehen, den verrücktes-
ten Wolkenkratzer der Stadt, wären nicht
die Vorhänge zugezogen, um die Hitze
draußen zu lassen. Sanft fällt das Licht
durch den dünnen Seidenstoff und taucht
den großen Raum, der mit seinem lackier-
ten Parkett etwas von einem teuren Yoga-
Studio hat, in die Farben Rot und Gold. Es
ist die Sorte Wohnung, in die einen der Lift
direkt bringt. Hohe Decke, weitläufige Flu-
re, viel Holz.
Ensler sitzt wie ein junges Mädchen auf
dem Sessel am Kopfende des langen Essti-
sches, die nackten Füße hat sie auf dem
Sitz, ein Bein angewinkelt, das andere dar-
um herum gelegt. Sie trägt ein rotes
T-Shirt, enge Jeans, Silberschmuck. Mit ih-
ren kurzen grauen Haaren und den kajal-
umrandeten Augen hat sie etwas von der
Folksängerin Joan Baez. „Mit diesem Buch
passieren erstaunliche Dinge“, sagt Ensler,
nachdem sie einem etwas zu trinken ange-
boten und sehr freundlich etwas Small
Talk gemacht hat, „Marc Maron war eine
der ersten Überraschungen.“
Um kurz zu beschreiben, was in der Sen-
dung geschah: Marc Maron redete ein-
gangs lange über sich, ohne dass man ge-
nau verstand, was er sagen wollte. Er klang
aufgewühlt und betroffen, ein bisschen
wie jemand in einer Therapiestunde, der
plötzlich eine wichtige Erkenntnis über
sich hat, diese aber noch nicht ganz in Wor-
te zu fassen kriegt. Irgendetwas in Enslers
Buch hatte ihn offensichtlich völlig durch-
einandergeschüttelt. Er bekannte, sich in
dem Spektrum toxischer Männlichkeit,
das Eve Ensler am Beispiel und aus Sicht ih-
res Vaters beschreibe, wiederzuerkennen.
Dieses Spektrum reicht für Maron von
Missachtung der Gefühle anderer, man-
gelnder Empathie über alle möglichen For-
men von Missbrauch bis hin zum Mord.
Nicht jeder Mann sei natürlich ein Verge-
waltiger oder Mörder, aber Maron zufolge
findet sich so gut wie jeder Mann irgendwo
in diesem Spektrum wieder. Dieses Buch
habe sein Leben verändert, sagte er.
Die Idee zu diesem Buch kam ihr in Afri-
ka, im Ostkongo, genauer: in dem Zentrum
für missbrauchte Frauen, das sie 2011 dort
mitgegründet hat. Die kriegserschütterte
Region hält seit Jahren den traurigen Welt-
rekord der meisten Vergewaltigungen.
City of Joyheißt das Zentrum, auf Netflix
gibt es eine Dokumentation darüber. Ens-
ler ist oft Monate dort und tut, was sie seit
mehr als zwanzig Jahren sehr oft tut: Sie
hört sich die Geschichten der missbrauch-
ten Frauen an. „Und auf einmal dachte ich:
Warum tun wir das immer noch, was än-
dert sich eigentlich? Ja, wir haben das
Schweigen gebrochen, ja, Frauen können
das Wort Vagina nun aussprechen, ja, Frau-
en erzählen ihre Geschichten, aber war es
das jetzt? Ist das jetzt eine Welt, in der Frau-
en ihre Geschichten erzählen und Männer
einfach mit ihrem Verhalten weiterma-
chen? Warum hat sich noch nie ein Mann
entschuldigt?“
Eve Enslers Stimme wird lauter, wenn
ihr etwas wichtig ist. Es blitzt dann schon
mal eine Träne in ihrem Augenwinkel auf,
die Gefühle sitzen bei ihr locker. „Wann ha-
ben wir jemals von einem Mann gehört, ei-
nem Täter, der an die Öffentlichkeit getre-
ten ist und sich ehrlich für seine Taten ent-
schuldigt hat, wann?“ Sie wartet wirklich
auf eine Antwort. „Ich meine eine ehrliche
Entschuldigung“, sagt sie, Betonung auf
ehrlich, und lässt Louis C.K. nicht gelten.
(Der amerikanische Komiker, einer der pro-
minentesten „Me Too“-Fälle, veröffentlich-
te nach Bekanntwerden der Vorwürfe an
ihn rasant schnell ein Statement, das beim
Nachlesen tatsächlich an keiner Stelle eine
Entschuldigung enthält. Er werde sich nie
verzeihen, so der Tenor. Geht nur um ihn.
Großes, riesiges Selbstmitleid.) Irgend-
wann unterbricht Eve Ensler die Denkpau-
se. „Es gibt kein Beispiel. Kein einziges.
Und das gilt nicht nur für die jüngere Zeit.
In Tausenden Jahren Patriarchat hat sich
noch nie ein Mann dafür entschuldigt, ei-
ner Frau oder Frauen Gewalt angetan zu ha-
ben. Vielleicht privat, das ja. Aber nicht öf-
fentlich, nicht vor allen anderen.“
Ihrem Buch ist ein kurzes Vorwort voran-
gestellt. „Mir reicht’s mit Warten“, geht es
los. „Mein Vater ist schon lange tot. Er wird
die Worte nie zu mir sagen. Er wird sich
nicht entschuldigen. Also muss ich es mir
ausdenken. Kraft unserer Einbildung kön-
nen wir uns über Grenzen hinwegträu-
men, Geschichten vertiefen und andere En-
den erfinden.“ Sie habe das Buch geschrie-
ben, um sich endlich zu befreien, sagt Ens-
ler. Denn auch noch Jahrzehnte nach dem
Tod ihres Vaters fühlte sie sich gefangen in
der Rolle, in die der Missbrauch sie ge-
bracht hatte. Sie war das Opfer. Und alles,
was sie tat, habe sie aus diesem Selbstver-
ständnis heraus getan. Aus Trotz. Um es
ihm, dem Täter, zu zeigen. Um sich selbst
zu beweisen, dass sie kein Opfer war. „Es
war ein ewiger Dialog, aus dem ich alleine
nicht aussteigen konnte“, sagt sie. „Die Ge-
schichte betraf uns ja beide.“
Eve Ensler will ihr Buch gerne als Blau-
pause für eine richtige Entschuldigung ver-
standen wissen, das Täter lesen können,
um zu erfahren, was ihr Opfer von ihnen hö-
ren muss. Wie das eigentlich geht: sich zu
entschuldigen. „Das ist eben nicht einfach
nur ,I’m sorry‘ – das ist eine innerliche
Revolution“, sagt Ensler, die in diesem Zu-
sammenhang von der Alchemie einer Ent-
schuldigung spricht, von ihrer transformie-
renden Kraft, die jedoch nur wirken könne,
wenn ihr ein Prozess der Selbsterkenntnis
vorausgehe. Sie erklärt ganz praktisch die
Schritte: „Man muss zunächst seine Taten
im Detail ansehen, und ich glaube wirk-
lich, dass das im Detail sein muss. Man
muss verstehen, was man getan hat und
warum man es tat. Warum ist man jemand
geworden, der Frauen erniedrigt, miss-
braucht, vergewaltigt. Was war die Ab-
sicht. Was in der Familie, der Religion, der
Kultur hat das vielleicht gefördert.“ Dann
müsse man sich in sein Opfer hineinverset-
zen, sich fragen, wie das für sie war, welche
Folgen es für ihr Leben hatte. Und schließ-
lich müsse man die Verantwortung für sei-
ne Taten übernehmen. „Nur so ist sicher“,
sagt sie, „dass man so etwas nie wieder tun
wird.“
Ihre eigene Methode, sich die Entschul-
digung selbst zu schreiben, findet sie nicht
ideal und bestimmt nicht für jede richtig,
aber in ihrem Fall ging es ja nun nicht an-
ders, und glücklicherweise habe es ge-
reicht. „Es ist jetzt sieben Monate her, dass
ich das Manuskript abgegeben habe, und
mein Vater ist seit sieben Monaten weg. Er
war immer da, jetzt fühle ich seine Präsenz
nicht mehr. Es ist ganz friedlich, wenn ich
an ihn denke. Es ist wundervoll. Jetzt bin
ich frei.“
Im Buch hat sie ihren Vater in einer Art
Vorhimmel oder Vorhölle geparkt. Von
dort schreibt er ihr, auch um sich selbst zu
befreien. Der Brief ist seine Selbstbefra-
gung, seine biografische Untersuchung
darüber, wie aus ihm, der doch auch ein-
mal ein unschuldiges Kind war, ein Mann
werden konnte, der seine eigene kleine
Tochter missbraucht.
Ensler hat sich in ihn hineingedacht,
wie Schriftsteller das eben tun, und Erklä-
rungen gefunden, die ihr richtig vorkom-
men, und damit Antworten auf ihre ewige
Frage nach dem Warum. Beim Schreiben
hatte sie Erkenntnisse, die sie überrasch-
ten. Zum Beispiel, dass ein Mann von der
Liebe für sein Kind überwältigt werden
kann. Und wenn er nie gelernt hat, mit Ge-
fühlen eigener Bedürftigkeit umzugehen,
Schwäche, Unsicherheit, Angst, flüchtet er
möglicherweise in sexuelle Handlungen,
weil das ein Terrain ist, das er kennt, auf
dem er sich sicher fühlt, das er kontrollie-
ren kann. Andere Erklärungen fand sie in
seinem Elternhaus. Und in der Kultur des
Patriarchats, in der Jungen beigebracht
wird, dass sie nicht zärtlich sein dürfen,
nicht verloren, nie schwach.
In der Maron-Sendung kam die Sprache
auf Narzissmus. Wenn Männer offenkun-
dig nicht fähig sind zu Empathie und nur
sich sehen, heißt es schnell, sie seien Nar-
zissten. Interessanterweise heißt es das sel-
ten oder nie über Frauen. Scheint ein
männliches Krankheitsbild zu sein. Ensler
glaubt, dass wir Narzissmus als Entschuldi-
gung vorschieben. Sie wisse nicht, wo das
Patriarchat endet und der Narzissmus be-
ginnt. Auf Nachfrage erklärt sie es noch
mal: „Frauen oder Angehörige einer Min-
derheit sind sich stets bewusst, in wel-
chem Kontext sie gerade agieren. Frauen
sind Mutter, Freundin, Chefin, immer der
jeweiligen Situation angepasst. Männer
mit Macht sind immer Männer mit Macht.
Picasso ist immer Picasso. Es sitzt derselbe
Mann zu Hause am Abendbrottisch, der
morgens in der Konferenz saß.“
Empathie sei für sie keine lebenswichti-
ge Fähigkeit, schön, wenn sie welche hät-
ten, sei aber kein Muss. „Die Frage ist halt,
wie man diese Empathielosigkeit bricht.
Wie man diese Männer dazu kriegt, sich Ge-
danken darum zu machen, wie es anderen
geht. Das ist ehrlich gesagt ein ziemlich ent-
scheidender Punkt. Denn wenn einem an-
dere egal sind, Frauen egal sind, also eine
Hälfte der Menschheit, dann ist einem
auch die Erde egal.“
Als Beispiel erwähnt sie Donald Trumps
neuen Feldzug gegen all jene, die ihm den
Plastikstrohhalm wegnehmen wollen. Als
Antwort auf das wachsende Bewusstsein
für die Verschmutzung der Weltmeere ließ
er Plastikstrohhalme mit seinem Namen
bedrucken, die er nun auf seiner Website
verkauft. Zehn Stück kosten 15 Dollar, die
Einnahmen fließen in seine „Make Ameri-
ca Great Again“-Wahlkampagne.
„Ich wuchs auf in einer Zeit, in der Män-
ner dafür gepriesen wurden, wenn sie ihre
Gefühle kontrollierten und zurückhielten“,
lässt Eve Ensler den Vater schreiben. „Sie
wurden bewundert für stählerne Stand-
haftigkeit und das Wissen, wo’s langgeht.
Sie entschuldigten sich nie. Man stellte ih-
nen keine Fragen. Sie erklärten sich nie-
mals. Sie ließen sich nicht in die Karten bli-
cken. Sie redeten nicht. Ihr Schweigen war
Ausdruck ihrer Stärke und Männlichkeit.
Man erwartete von ihnen, die Welt zu meis-
tern und mit Entschiedenheit und Selbstsi-
cherheit zu führen. Der Sinn der männli-
chen Existenz bestand darin, die Stellung
zu wahren.“
Das Buch ist vor allem im letzten Drittel
mit amerikanischem Pathos geschrieben,
beinahe kann man beim Lesen dramati-
sche Filmmusik dazu anschwellen hören.
„Who are you, Eve? I missed everything.
I missed you. I miss you.“ Aber es ist effek-
tiv. Man versteht, worum es geht. Und es
ist auch sehr rührend. Weil ihr wirklich ge-
lungen ist, sich in den Mann hineinzuver-
setzen, der ihr so viel angetan hat. Sie hat
ihm vergeben. Die alles verwandelnde
Macht der Empathie.
Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist
die häufigste Menschenrechtsverletzung
weltweit. Es wird geschätzt, dass mehr als
die Hälfte der 87 000 Frauen, die im Jahr
2017 absichtlich getötet wurden, von ih-
rem Partner oder einem Familienmitglied
ermordet wurden. Weltweit gibt es an die
15 Millionen Mädchen im Alter zwischen
15 und 19 Jahren, die irgendwann zu Sex
oder sexuellen Handlungen gezwungen
wurden. Die Zahlen sind von den Vereinten
Nationen.
In Deutschland hat jede vierte Frau min-
destens einmal in ihrem Leben körperliche
oder sexuelle Partnerschaftsgewalt erlebt,
wie das Bundesministerium für Familie
und „das ganze Gedöns“, wie Gerhard
Schröder all das einmal nannte, 2018 be-
kannt gab. Derselben Veröffentlichung
war zu entnehmen, dass in Deutschland
statistisch täglich ein Mann versucht, sei-
ne Frau zu töten, und dass dies statistisch
an jedem dritten Tag gelingt.
Frankreich hat gerade eine telefonische
SOS-Kurzwahl, wie sonst nur für Polizei
und Feuerwehr, für Frauen eingeführt, die
Opfer häuslicher Gewalt sind. Sie können
zum Gratistarif die 3919 anrufen und mit
jemandem reden.
Die „Me Too“-Bewegung, sagt Ensler,
könne nur ein erster Schritt sein. Natürlich
sei es gut und wichtig, dass Frauen die Tä-
ter nun öffentlich nennen und Gehör fin-
den. Aber damit sich wirklich etwas verän-
dert, brauche es mehr als das. „Jetzt sind
die Männer dran“, sagt Eve Ensler. „Gewalt
gegen Frauen ist ein Männerthema. Wir
vergewaltigen uns ja nicht selbst.“ Bisher
sieht sie allerdings noch keine Anzeichen
dafür, dass etwas in Bewegung gekommen
wäre. „Weinstein, Cosby, Epstein, wirkte
einer von denen geläutert? Alle wütend,
dass sie verhaftet wurden, alle hauptsäch-
lich in Kontakt mit ihren Anwälten. Von
Epstein werden wir es nicht mehr erfah-
ren, aber die anderen wirkten nicht so, als
ob sie sich groß schuldig fühlen, oder? Die
sind eher beleidigt, dass sich der Wind auf
einmal gegen sie gedreht hat.“
Warum tun sich die Männer mit dem
Entschuldigen so schwer?
Einer der Grundpfeiler des Patriarchats
sei es, sich nie zu entschuldigen, sagt Eve
Ensler. Würde nun ein Mann hervortreten
und sich öffentlich zu seiner Schuld beken-
nen, wäre das ein Verrat an allen Männern.
„Sobald einer sagen würde, es tut mir leid,
und ich erkenne an, dass es falsch war, was
ich im Wissen darum, dass es falsch ist,
getan habe, würde die gesamte Erzählung
des Patriarchats in sich zusammenfallen.
Die Erzählung geht ja so, dass es das Recht
der Männer ist, sich so zu benehmen. Dass
es in ihrer Natur liegt. Dass sie einen An-
spruch haben. Und deshalb ist das mit der
Entschuldigung so von Bedeutung. Das ist
nicht einfach nur nebenbei. Das ist
entscheidend. Das würde die Welt ver-
ändern.“
Und dann klingelt das Handy, das die
ganze Zeit vor ihr auf dem Tisch lag, neben
der Tasse Tee, aus der sie kein Mal getrun-
ken hat und der bestimmt längst kalt ist.
Sie müsse rangehen, sagt sie und zeigt ent-
schuldigend auf den Apparat, das nächste
Interview. „Wir brauchen jetzt die mutigen
Männer“, sagt sie noch, begleitet von der
Melodie ihres Klingeltons. Es ist Marvin
Gayes „Sexual Healing“. Echt wahr.
„Gewalt gegen Frauen ist ein Männerthema. Wir vergewaltigen uns ja nicht selbst.“:
Eve Ensler wurde mit den „Vagina Monologen“ berühmt. „Me Too“, sagt sie, habe viel erreicht, aber damit
sich wirklich etwas ändert, seien jetzt die Männer an der Reihe.FOTO: MAMADI DOUMBOUYA/NYT/REDUX/LAIF
Im Namen des Vaters
Die amerikanische Autorin Eve Ensler über Missbrauch und „Me Too“ und die Frage,
warum Männer sich lieber selbst bemitleiden, als sich zu entschuldigen
von johanna adorján
Frauen seien Mutter, Freundin,
Chefin,„Männer mit Macht
sind immer Männer mit Macht.“
DEFGH Nr. 230, Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019 DIE SEITE DREI 3
Es wäre eine Revolution, sagt
sie, würde sich ein Täter
endlich öffentlich entschuldigen
Sie ist oft im Ostkongo, wo sie
ein Zentrum für vergewaltigte
Frauen mitgegründet hat
Ihr Vater hat sie missbraucht.
Darum geht es jetzt. Sie will
nicht Rache, sondern Befreiung