Süddeutsche Zeitung - 05.10.2019

(Ron) #1
interview: moritz baumstieger
und julia rothhaas

SZ: Frau Tolu, was machen Sie am kom-
menden Freitag?
Meşale Tolu: Sie meinen wegen meines Pro-
zesses? Ich hatte den Gerichtstermin fast
vergessen. Als er mir wieder einfiel, habe
ich tatsächlich einen Moment überlegt, hin-
zufahren – aber wirklich nur einen Mo-
ment. Seit Anfang September sind viele
Leute überraschend freigekommen, außer-
dem vermisse ich die Türkei. Aber unsere
Prozessbeobachterin hat Angst um mich,
also bleibe ich daheim.
Auf dem Höhepunkt der deutsch-türki-
schen Spannungen wurden Sie im April
2017 verhaftet und saßen acht Monate im
Gefängnis. Sie hatten für eine sozialisti-
sche Nachrichtenagentur inIstanbulgear-
beitet, die Justiz wirft Ihnen die Mitglied-
schaft in einer Terrororganisation vor.
Der Prozess ist seit zweieinhalb Jahren
kein bisschen vorangekommen. Anfangs
habe ich viele Anträge eingereicht, um Din-
ge zu beweisen oder zu widerlegen. Die
Staatsanwaltschaft hingegen macht gar
nichts, jedes Mal wird der Prozess nach ei-
ner halben Stunde wieder um sechs Mona-
te vertagt. Die Justiz ist darauf aus, das Ver-
fahren in die Länge zu ziehen, bis das öf-
fentliche Interesse abnimmt.
Ihr Mann Suat Çorlu wurde 2017 ebenfalls
inhaftiert und ist nach seiner Freilassung
fürseinen Prozess im Mai in die Türkei ge-
reist –dann wurde ihm der Pass abgenom-
men. Waren Sie sauer auf ihn?
Ja, weil ich befürchtet hatte, dass so etwas
passieren könnte. Was wir als Familie
durchgemacht haben, möchte ich nicht
noch einmal erleben. Wenn wir durch unse-
re Anwesenheit so viel Aufmerksamkeit er-
regen, fühlen sich die Richter gestört. Zum
Glück konnte Suat nach knapp zwei Wo-
chen nach Hause.


Als Sie als deutsche Staatsbürgerin inhaf-
tiert wurden, verhielt sich die Türkei völ-
kerrechtswidrig, weil sie Deutschland
nicht darüber informierte. Das Auswärti-
ge Amt empfiehlt, in solchen Fällen zu
schweigen und Berlin die Dinge regeln zu
lassen.
Diplomatie hinter verschlossenen Türen?
Das wurde mir damals auch empfohlen.
Ich habe die Diplomaten damals gefragt,
ob sie mir garantieren können, dass ich so
freikomme.
Und?


Konnten sie nicht. Da war mir klar, dass ich
mein Schicksal nicht in fremde Hände le-
gen kann, vor allem nicht als Mutter eines
kleinen Sohnes. Ich habe Briefe an alle tür-
kischen Medien geschrieben und von mei-
ner Situation berichtet. Ich wurde bedroht,
aus meiner Wohnung entführt – wer konn-
te mir garantieren, dass die mich nicht
auch vergewaltigen und danach in einen
Wald schmeißen?
Ihr Kollege Deniz Yücel, der ebenfalls in
der Türkei im Gefängnis saß, bekam so-
fort große Aufmerksamkeit. Bei Ihnen hat
das eine Weile gedauert. Hat Sie das ent-
täuscht?
Nein. Deniz hatte einen riesigen Verlag im
Rücken, wir hingegen mussten den Druck
erst selbst aufbauen. Das ging los mit den
Freitagsdemos hier in Ulm, die meine ehe-
malige Schule organisiert hat. Was mich
sauer gemacht hätte: wenn mich die Diplo-
matie anders behandelt hätte als ihn.
Kurznach Ihrer Inhaftierung holten Sie Ih-
ren zweijährigen Sohn zu sich ins Gefäng-
nis. Warum?
Ich wollte, dass Serkan bei einem Elternteil
ist – mein Mann war da ja auch in einem Is-
tanbuler Gefängnis in Haft. Und es gab
noch einen Grund. Meine Mutter kam bei
einem Autounfall ums Leben, als ich sechs
Jahre alt war. Ich hatte immer Angst, dass
mein Sohn ohne Mutter aufwachsen könn-
te. Im Gefängnis wurde diese Angst riesig.
Ich wollte alles tun, was in meiner Macht
steht, um das zu verhindern.
Hatten Sie jeSkrupel, ihn in derÖffentlich-
keit als emotionalen Hebel zu nutzen?
Als mein Fall publik wurde, habe ich eigent-
lich versucht, die Familie herauszuhalten,
aber das ging nicht. Jeder wollte die Frau
mit dem Kind sehen. Ich habe versucht,
Grenzen zu ziehen, etwa indem ich verhin-
dert habe, dass mein Sohn gefilmt oder fo-
tografiert wird.
Hat Serkan damals verstanden, warum er
im Gefängnis leben musste?
Verstanden hat er es nicht, aber er wusste,
dass wir nicht freiwillig dort waren. Das
Wort Gefängnis habe ich nie benutzt, auf
Türkisch heißt es Strafanstalt. Ich wollte
nicht, dass er denkt, wir würden bestraft,
weil wir etwas falsch gemacht haben.
Wie konnten Sie einen Zweijährigen hin-
ter Gittern bei Laune halten?
Wann immer er sich langweilte, wollte er
raus. Also durfte er sich nie langweilen. Ich
habe Hilfe von meinen Mithäftlingen be-
kommen: Die eine hat mit ihm Fußball ge-
spielt, die andere mit ihm gebastelt. So
ging das reihum, er war durchgängig ausge-
lastet. Und ein paar Spielsachen haben wir
nach und nach über unsere Anwälte reinge-
schmuggelt.
Serkan ist inzwischen vier Jahre alt.
Spricht er noch von der Zeit im Gefängnis?
Er erinnert sich nicht direkt daran, son-

dern eher an manche Routinen aus der
Zeit. Einige Frühsportübungen macht er
zum Beispiel immer noch und sagt dann:
„Mama, das haben wir doch in der Türkei
gelernt!“ Und wenn er einen Streifenwagen
sieht, will er wissen, ob die Polizei auch Waf-
fen trägt.
Siesind seit einem Jahr wieder in Deutsch-
land. Wissen Sie noch, was Sie als Erstes
nach Ihrer Rückkehr gemacht haben?
Ich war mit meiner Familie Pizza essen. Piz-
za können sie nicht so in der Türkei, die ha-
be ich dort immer gehasst.

In Ihrem Buch schreiben Sie: „Es war
schwer, sich wieder an die Freiheit zu ge-
wöhnen.“ Was genau meinen Sie damit?
Bevor wir nach Deutschland konnten, leb-
ten wir nach der Haft noch acht Monate in
Istanbul. So komisch das auch klingen
mag: Im Gefängnis hatte ich Wände und
Mitgefangene um mich, fühlte mich sicher.
Nun waren wir wieder schutzlos der Staats-
macht ausgeliefert. Ich wusste nie, ob die
Polizei nachts auftaucht oder ob ich von
der Straße weg entführt werde. Es war
schwer, Ruhe zu finden.
Wie sah Ihr Leben nach der Haft aus? Sie
waren zwar frei und lebten wieder in Istan-
bul, doch die Justiz hatte eine Ausreise-
sperre erlassen.
Wir wollten dem repressiven Staat bewei-
sen, dass er uns nicht gebrochen hat. Ich
war innerlich verwundet, habe aber immer
versucht, ihnen zu zeigen, dass ich weiter-
mache. Jetzt erst recht! Ich bin auf Demos
gegangen und habe für Menschenrechte
demonstriert. Wir waren auch im Urlaub
und sind abends ausgegangen. Ich habe
versucht, das Leben zu genießen.
Konnten Sie schlafen?
Nein, ich habe keine Nacht durchgeschla-
fen. Wir lebten ja wieder in der Wohnung,
aus der mich die Anti-Terror-Polizei ent-
führt hatte.
Hat Sie die Haft verändert?
Das Gefängnis hat mich selbstbewusst ge-
macht. Früher habe ich mir nicht viel zuge-
traut und hatte große Ängste, dass mir
etwas Unerwartetes zustoßen könnte. Und
genau das ist dann passiert. Im Gefängnis
habe ich gelernt, dass ich nicht allein bin
mit meinen Ängsten und dass ich sie über-
winden kann.
War die Angst in Deutschland weg?
Nein. Anfangs habe ich immer noch die Tür
hinter mir abgeschlossen. Und kurz nach
meiner Rückkehr hat ausgerechnet hier in
Ulm vor meinem Haus eine riesige Drogen-

razzia stattgefunden. Überall war die Poli-
zei, drei Straßen waren abgesperrt, das
Blaulicht leuchtete in mein Schlafzimmer.
Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen,
obwohl ich wusste, dass es nicht um mich
geht. Ich kann meine Angst gut verdrän-
gen, aber sie sitzt tief.
Wie war es, plötzlich wieder zu dritt unter
einem Dach zu leben?
Wir mussten uns neu finden. Als Familie
und als Paar. Serkan hatte sich nur an mich
gewöhnt und fand es schwierig, plötzlich
zwei Eltern zu haben, die unterschiedliche
Regeln aufstellen. Während der Gefangen-
schaft haben wir uns aber auch als Paar aus-
einandergelebt. Man kann sich an die Ein-
samkeit gewöhnen. Und merkt, dass es
manchmal angenehmer ist, wenn man kei-
ne Kompromisse eingehen muss.
Aus dem Paar waren also zwei Einzel-
kämpfer geworden.
Ja – und das war am Anfang schwer. Im Ge-
fängnis habe ich nur mit Frauen zusam-
mengelebt, plötzlich musste ich mein Bade-
zimmer wieder mit einem Mann teilen. So
etwas wie die Diskussion um den nicht her-
untergeklappten Klodeckel mag banal klin-
gen. Aber auch um solche Sachen ging es.
Man könnte meinen, dass einen die Zeit
im Gefängnis über Kleinigkeiten hinweg-
sehen lässt.
Der Alltag kehrt schnell wieder ein. Und
man vergisst.
Sie arbeiten seit Juni als Volontärin bei der
„Schwäbischen Zeitung“, obwohl Sie zu-
vor schon als Journalistin gearbeitet ha-
ben. Warum wollten Sie wieder von vorne
beginnen?
Ich habe gemerkt, dass meine Arbeit in der
Türkei sehr einseitig war. Ich habe viele Ko-
lumnen geschrieben und über politische
Themen berichtet, aber das normale jour-
nalistische Handwerk ist dabei untergegan-
gen. Jetzt frische ich auf, was ich verlernt
habe. Und hole nach, was ich damals nie ge-
lernt habe.
Wir haben mal nachgesehen, womit Sie
sich so beschäftigen: Bierdeckel, Biogas-
anlagen, Biberacher Apotheken. Aus der
Weltpolitik in den Lokaljournalismus –
auch verrückt, oder?
Komisch ist eher, dass ich die Menschen
manchmal nicht verstehe, weil sie so schwä-
beln. Aber viele der Themen beschäftigen
die Menschen bundesweit, ich behandele
sie halt auf lokaler Ebene. Ich glaube, ich
brauche das hier eine Zeit lang, um runter-
zukommen. Und um einen geregelten All-
tag mit meiner Familie zu leben.
Es heißt, dass man sich als Journalist mit
keiner Sache gemein machen sollte. Sogar
nicht, wenn sie gut ist. Haben Sie sich in
der Türkei als Journalistin gesehen oder
eher als Aktivistin?
Bei der Nachrichtenagentur, für die ich ar-
beitete, habe ich zunächst nur Texte über-

setzt und mich nicht mit der Meinung der
Kollegen identifiziert. Aber jede Oppositi-
on in der Türkei gilt als links. Ich habe
schon eine politische Meinung, als Aktivis-
tin würde ich mich aber nicht bezeichnen.
Ich war nie in einer Partei oder Organisati-
on. Außer bei den Pfadfindern.
Cem Özdemir hat sich mal beschwert, dass
er seit einem Telefonat mit Ihnen das Ge-
fühl hat, abgehört zu werden. Bespitzelt
man Sie noch?
Er hatte nicht nur das Gefühl, sondern wur-
de tatsächlich abgehört. Nachdem wir SMS
schrieben, spielte sein Telefon plötzlich ver-
rückt. Dass da etwas nicht stimmte, haben
ihm Leute einer Sicherheitsbehörde dann
bestätigt. Ich sage immer aus Spaß: Ist
doch schön, wenn noch mehr Leute wissen,
was ich gerade mache.

Beeinträchtigt Sie das im Alltag?
In der Türkei wurde ich ständig beobach-
tet. Die Beamten sind uns in der Türkei
nach meiner Haft sogar bis ins Kino gefolgt
und mussten sich mit mir und Serkan Kin-
derfilme anschauen. Aber in Deutschland
möchte ich mich nicht einschüchtern las-
sen. Ich merke zwar, dass bestimmte Leute
zu meinen Lesungen kommen, um mich zu
beobachten. Aber das ist mir egal.
Glauben Sie, dass sich in der Türkei etwas
an der politischen Lage ändert?
Ich habe immer Hoffnung für die Türkei,

sie hat schon vor Erdoğan harte Zeiten
durchgemacht. Das Land hat eine lange
Widerstandstradition, nach jedem Putsch
und jeder Niederlage hat sich Neues gebil-
det. Die Wahl in Istanbul vom Juni, bei der
Erdoğans AKP den Oppositionskandidaten
Ekrem İmamoğlu nicht schlagen konnte,
selbst als die Wahl aus fadenscheinigen
Gründen wiederholt wurde, zeigt ja, was
möglich ist, wenn alle zusammenhalten.
Fehlt Ihnen das Land?
Oh ja. Ich habe Sehnsucht nach dem Bospo-
rus. Ich möchte an einem Raki-Tisch sitzen
und aufs Meer gucken. Ich vermisse die Of-
fenheit, die Kultur, das Vielfältige. Vergli-
chen damit ist mein Leben hier monoton.
WeilUlmim Vergleich zu der 15-Millionen-
Einwohner-Metropole Istanbul langwei-
lig ist?
Nein, dafür habe ich auch hier viel zu viel zu
tun. Ich liebe Istanbul, dort ist alles in Bewe-
gung. Aber man verliert auch viel Zeit. Al-
lein auf dem Weg in die Arbeit habe ich je-
den Tag anderthalb Stunden verloren.
Wurden Sie nach Ihrer Haft von Ihrer Fa-
milie gebeten, beruflich lieber was ande-
res zu machen?
Nein, sie steht hinter mir. Meine Familie
war während dieser Zeit sehr hartnäckig.
Sie wissen, dass ich mit meinen Texten und
meinem Buch auf das Unrecht in der Tür-
kei aufmerksam machen will. Weil es mir
ein Anliegen ist, den Menschen eine Stim-
me zu verleihen, die selbst nicht sprechen
können.
Ihr Buch ist auch ein Dokument der liebe-
vollen Beziehung einer Mutter zu ihrem
Sohn. Sie beschreiben etwa, wie Serkan
mit einfachsten Mitteln im Gefängnis
spielte. Kann er das heute noch?
Leider nein. Irgendwann wollte er in die
Freiheit, meine Schwester hat ihn dann auf-
genommen und ihm sofort ein iPad ge-
kauft. Und ein schickes Bett, das wie ein Au-
to aussieht. Plötzlich hatte er alles im Über-
fluss. Jetzt versuche ich, ihn ab und zu ein
wenig zu belohnen, aber so, dass er es nicht
zu sehr merkt. Er ist mein Weggefährte, er
hat die schlechte Zeit mit mir durchge-
macht und dabei Größe gezeigt, obwohl er
noch so klein war.
Bislang kann er sich und seine Mutter mit
seinem iPad nicht googeln. Irgendwann
wird er das aber tun.
Natürlich werde ich unsere Geschichte
nicht vor ihm verstecken können. Neulich
hat er hat mich im Fernsehen gesehen und
zu seinem Vater gesagt: Guck mal, die Ma-
ma redet gerade über mich. Ich habe alle
Briefe aus dem Gefängnis aufgehoben, da-
mit ich ihm später alles besser erklären
kann. Vielleicht ist es gut für ihn, wenn er
sieht, auf welche Art wir damit umgegan-
gen sind – auch wenn es keine schöne Zeit
war. Denn es ist vor allem seine Geschichte.
Es ging ja immer nur um ihn.

„Wir mussten uns
neu finden. Als Familie,
aber auch als Paar.“

58 GESELLSCHAFT DAS INTERVIEW Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober 2019, Nr. 230DEFGH


Der Biergarten in Neu-Ulm ist an


diesem milden Herbstabend gut besucht.


Meşale Tolu kommt gerade von der


Arbeit und bestellt sich ein Radler.


Hunger? Nein, die 35-Jährige möchte


gleich loslegen. Denn um 20 Uhr


muss die Journalistin wieder zu Hause sein,


um ihrem vierjährigen Sohn


Gute Nacht zu sagen. Auf dieses Ritual


mag sie nie mehr verzichten


Meşale Tolu, geboren 1984 in Ulm, ist
eine deutscheJournalistin mit Eltern
kurdischer Herkunft. Nach dem Abitur
studierte sie Ethik und Spanisch auf
Lehramt in Frankfurt. Danach arbeite-
te sie für den privaten Nachrichtensen-
der Özgür Radyo in Istanbul sowie als
Übersetzerin für die Nachrichtenagen-
tur ETHA. Ende April 2017 wurde sie
nachts gewaltsam in ihrer Wohnung
verhaftet, vor den Augen ihres damals
zweijährigen Sohns. Ihr wird die Mit-
gliedschaft in einer Terrororganisation
vorgeworfen. Weil ihr Ehemann be-
reits kurz zuvor inhaftiert worden war,
holte sie ihren Sohn mehrere Monate
zu sich ins Gefängnis. Sie selbst wurde
schließlich im Dezember 2017 entlas-
sen. Tolu lebt seit einem Jahr wieder
mit Mann und Sohn in Ulm.

„Die Türkei hat schon
vorErdoğan harte Zeiten
durchgemacht.“

FOTO: BRADLEY SECKER/LAIF

„Mein Sohn durfte sich im
Gefängnis nie langweilen,
sonst wollte er raus.“

MEŞALE TOLU


ÜBER


GEFANGENSCHAFT


Zur Person

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