Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1
von volker kreisl

M


an könnte es auch umdrehen.
Wäre man zynisch, dann könn-
te man sich nach diesem Som-
mer überlegen, wie der ideale
Sport für Knieverletzungen aussähe.
Eine Schanze wäre schon mal gut, wei-
te Sprünge müssten zu sehen sein, bis ins
Flache. Und dem großen Landedruck dürf-
te der Springer zwar mit beiden Beinen
wie ein Abfahrer begegnen, aber Siegchan-
cen hätte er nur, wenn er im Ausfallschritt
aufkommt, leicht wie ein Tänzer. Und weil
das immer noch zu sicher erscheint, müss-
te man ihm noch in die Bindung mittels ei-
nes gebogenen Stabes einen Effekt ein-
bauen, der ihn nicht gerade, sondern
x-beinig landen lässt.

Aber den Skisprungsport mit all seiner
Faszination gibt es ja schon. Nicht mehr
lange, zirka acht Wochen sind es noch,
dann beginnt die neue Saison. Mit in die
nächste Winterrunde wird auch das be-
herrschende Thema des Sommers genom-
men. Wieder einmal geht es im Skisprin-
gen um das Gesundheitsrisiko, diesmal
speziell um Knieverletzungen. Genauer:
um Kreuzbandrisse, kurz KBR.
Der KBR unterbricht die Karriere für
mindestens neun Monate. Alle Nationen
hatten zuletzt solche Rückschläge, beson-
ders betroffen war aber die Mannschaft
des Deutschen Skiverbandes (DSV). Drei
Männer (Severin Freund, der Weltmeister
von 2015, zudem David Siegel und Olym-
piasieger Andreas Wellinger) und drei
Frauen (Ramona Straub, Gianina Ernst
und Olympiasiegerin Carina Vogt) hatten
insgesamt sieben Kreuzbandrisse, denn
Freund erwischte es gleich zweimal. „Es
hat uns schon besonders gebeutelt“, sagt
Frauen-Bundestrainer Andreas Bauer.
Das deutsche Skispringen hat gerade also
einen Verletzten-Stab, der das Kniepro-
blem dieses Sportes von allen Seiten ver-
anschaulicht: Ursachen und Folgen des
KBRs, die Vorbeugung, aber auch die gan-
ze Spannweite des Schadens, vom heimtü-
ckischen, fast nicht spürbaren Riss bis hin
zum Sturz mit Totalknieschaden wie bei
David Siegel im Januar in Zakopane.
Er war da erst 22 Jahre alt, saß oben auf
dem Balken und befand sich in Bestform.
Siegel segelte und segelte, über die grüne
Linie, hinein ins Flache, und als er eigent-
lich landen sollte, stand er immer noch
mehr als einen Meter in der Luft, was ei-
nen jungen Skispringer schlagartig er-
schrecken kann. „Er vergisst dann alles,
was er gelernt hat“, sagt Mark Dorfmüller,
der DSV-Teamarzt. Anstatt den Sprung
trotz des hohen Tempos von 80, 90 Kilo-
metern pro Stunde sauber zu landen, such-
te er reflexartig Schutz in der Rücklage.
Seinen Skiern – lange Bretter ohne ge-
schliffene Kanten – fehlte der Druck von
oben, sie schlugen im Schnee aus. Siegel
verlor die Kontrolle und kippte seitlich
um. Im rechten Knie rissen: das vordere
Kreuzband, das Innen- und Außenband,
der Innen- und Außenmeniskus.

Siegel hatte einen Anfängerfehler be-
gangen, aber die Wut richtete sich gegen
die Männer im Schanzengebäude, gegen
die Wettkampfjury. Wieder einmal, so die
Klage, war da ein Entscheider gesessen,
der spektakuläre Flüge mag, und daher
trotz Aufwindes den Anlauf nicht ver-
kürzt, den Flug nicht gebremst hatte. Und
wieder war der ganze Sport mittendrin in
seiner Grundsatzdebatte, nämlich was
wichtiger ist: Das Senden von Bildern toll-
kühner Flieger oder das Vermeiden von
Bildern regungslos im Schnee liegender
Sportler, denen gerade die Bretter um die
Ohren geflogen sind.
„Jeder Fall sieht anders aus“, sagt Horst
Hüttel, der Sportliche Leiter des DSV, über
die Kreuzbandrisse. Und doch ist klar,
dass der Sport viel sicherer werden könn-
te, wenn alle wollten. Frauen-Trainer Bau-

er sitzt im Technischen Komitee des Welt-
verbandes und schlug dort neulich die
90-Prozent-Idee vor. Die würde den Spiel-
raum der Trainer erweitern, ihre Springer
zu schützen, wenn mal wieder der Ob-
mann das Risiko liebt. Nach Bauers Vor-
schlag dürfte der Anlauf individuell ver-
kürzt werden, und selbst schlechtere
Springer erhielten einen Punktausgleich,
nämlich auch, wenn sie statt bislang 95
nur 90 Prozent der aktuellen Bestweite er-
reichen. Bauer glaubt, dies würde Verlet-
zungen verhindern – nur die Mehrheit im
TK fand das nicht.
Doch Knieverletzungen können die
Top-Leute aller Nationen treffen. Die Ursa-
chen für Kreuzbandrisse sind so vielfältig,
dass die Deutschen eine Studie an der Uni-
klinik München in Auftrag gegeben haben
und die Norweger eine in Oslo. Alles, fin-
det Bauer, müsse untersucht werden. Vor
allem die Frage, wie es sein kann, dass Ski-
springer wie selbstverständlich weit über
demHill Sizelanden, dem Punkt, ab dem
die Landung gefährlich wird. Und warum
in den wenigsten Fällen diskutiert wird,
den Anlauf zu verkürzen, obwohl dies laut
Regel geboten wäre.
Auf den Prüfstand müsste nicht nur die
Anlauflänge, sondern auch die Schneeprä-
paration und das Material, etwa die Bin-
dung, bei deren Entwicklung auf Ab-
sprung und Fluglage geachtet wird, aber
kaum auf die Landung. Dabei sieht diese,
seit Simon Ammann den gebogenen Bin-
dungsstab erfunden hat, wegen des Ein-
knickens auch bei Topleuten x-beinig aus.
Wenn aber nicht alles stimmt, wenn die
Nerven nicht wach sind und den Muskeln
die richtigen Befehle erteilen, dann wird
es riskant. Dorfmüller kennt das Problem
auch von Slalomfahrern: „Wenn die neuro-
muskuläre Ansteuerung nicht stimmt,
dann genügt für einen Sturz schon eine
klitzekleine Rille oder Bodenwelle.“

So versteckt läuft das ab, dass einer
nicht mal stürzen muss, damit ihm das
Kreuzband reißt. Severin Freund, Carina
Vogt und auch Andreas Wellinger hatten
lockere Trainingssprünge absolviert. Die
Frage ist also, ob neben einer Übermü-
dung auch ein langfristiger Verschleiß
schuld sein kann. Gesprungen wird ja den
ganzen Winter über, außer an Weihnach-
ten. Verschleiß als Ursache für Kreuzband-
risse sei ihm zwar nicht bekannt, sagt
Dorfmüller, aber Bauer würde sich wün-
schen, dass das mal untersucht wird.
Denn es steht für den einzelnen Ski-
springer viel auf dem Spiel. Er muss sich
anders als andere Sportler zweimal rege-
nerieren: körperlich und mental. Denn die
besten Skispringer schweben nicht nur
auf Luftkissen, sondern auch auf einer
Form, die sie oft selber nicht ganz verste-
hen. Vor allem der Absprung ist von Abläu-
fen abhängig, die gar nicht mehr bewusst
gesteuert werden, die am besten ohne Ge-
danken funktionieren. Bis es dann so weit
ist, kann es ebenfalls Monate dauern.
Aber derzeit sind die sechs Rekonvales-
zenten auf gutem Wege. Freund war ja
schon im vergangenen Winter wieder fit,
hat sich dann eine leichtere Knieverlet-
zung zugezogen, und ist nun wieder auf
Formsuche. Ernst, Siegel, Straub, Wel-
linger und Vogt haben sich in dieser Rei-
henfolge zwischen Januar und Juli ver-
letzt. Die meisten machen Fortschritte, be-
sonders David Siegel, den es so schlimm
erwischt hatte.
Es ist zwar ein schwacher Trost, aber
eben auch der Vorteil in einem Kreuzband-
riss-Sport: Man tauscht sich untereinan-
der aus und hat viel Erfahrung für den Pro-
zess der Genesung.

Melbourne/München –Bevor Andy Bren-
nan die Nachricht verschickte, die so vie-
les in seinem Leben veränderte, schmierte
er sich Erdnussbutter aufs Toastbrot. Er
setzte sich aufs Sofa, stellte den Teller ne-
ben sich ab. Dann, so schildert er es, nahm
er das Smartphone in die Hand – und ver-
öffentlichte einen Text, den er Wochen vor-
her vorbereitet hatte. „Ich bin schwul“,
war nun auf seinem Instagram-Profil zu le-
sen: „Ich will komplett offen damit umge-
hen.“ Die Nachricht verbreitete sich ra-
sant. Denn der 26 Jahre alte Australier ist
Fußballprofi – und Homosexualität im
Fußball noch immer ein Tabuthema.
Wenn sich Brennan mit vier Monaten
Abstand an jenen Nachmittag im Mai erin-
nert, erzählt er, wie nervös er war, wie
groß seine Angst war, wie er mit dem
Schlimmsten rechnete. Was seitdem pas-
siert ist? „Es fühlt sich einfach nur großar-
tig an“, sagt Brennan im Telefongespräch:
„Mein Leben ist nun ein viel besseres.“
Der Stürmer Brennan ist beim Zweitli-
gisten Green Gully Soccer Club in Mel-
bourne unter Vertrag. Er hatte zuvor in der
ersten australischen Liga gespielt, doch
Verletzungen warfen ihn zurück. In Austra-
lien ist Brennan der erste Fußballspieler,
der sein Schwulsein öffentlich gemacht
hat, weltweit gibt es nur sehr wenige Fuß-
ballprofis, die ein öffentliches Coming-
out hatten. Der frühere deutsche National-
spieler Thomas Hitzlsperger ist der be-
kannteste unter ihnen, allerdings sprach
er erst nach seinem Karriereende darüber.
Viele schwule Fußballer ziehen es vor,
nicht über ihre Sexualität zu reden. Zu
groß ist die Unsicherheit, wie Mitspieler,


Gegner, Zuschauer und Sponsoren auf die
Nachricht reagieren werden.
Brennan, der vor kurzem angefangen
hat, Psychologie zu studieren, wollte lange
selbst nicht akzeptieren, dass er schwul
ist. Auch weil im Fußball Härte zählt und
in der Umkleide immer mal wieder ein blö-
der Spruch fällt. Er verdrängte seine Ge-
fühle. „Ich glaubte, dass ich sonst mit dem
Fußball hätte aufhören müssen“, sagt er.
Doch als er sich im vergangenen Jahr im-
mer klarer über seine Sexualität wurde,
merkte er, dass er diese nicht mehr ver-
heimlichen wollte. Er sprach mit seiner Fa-
milie, redete mit seinen Freunden – und
schließlich mit den Teamkollegen. „Von da
an stand fest, dass ich es auch öffentlich
machen werde“, sagt Brennan: „Ich wollte
selbst derjenige sein, der die Geschichte er-
zählt. Und nicht andere meine Geschichte
erzählen lassen.“

Bereut hat er diesen Schritt bislang nie.
„Es gab keine einzige negative Reaktion
aus meiner Mannschaft, von einem ande-
ren Team oder von einem Zuschauer“, be-
richtet er. Stattdessen würden ihn manch-
mal nach einer Partie Gegner umarmen
und ihm zurufen: „Gut gemacht.“ Die Mit-
spieler gehen locker damit um, ziehen ihn
manchmal damit auf, zum Beispiel wenn
er das Tor im Training verfehlt. „Das ist
toll, denn das macht es ganz normal“, sagt
Brennan. An die tausend Nachrichten aus
aller Welt hat er in den vergangenen Wo-
chen erhalten. Fast alle Zeitungen in Aus-
tralien berichteten über sein Coming-out,
aber auch Medien in den USA, England,
Spanien oder Deutschland. „Damit habe
ich nicht gerechnet“, gibt Brennan zu. Das
wichtigste für den Fußballer ist aber: „End-
lich kann ich ich sein, und das fühlt sich
überwältigend an.“
Bevor der Australier seine Sexualität öf-
fentlich thematisierte, holte er sich Rat bei
dem amerikanischen Kollegen Collin Mar-
tin, Fußballprofi bei Minnesota United in
der Major League Soccer (MLS), der diesen
Schritt im Juni 2018 gegangen war. Auch
damals war das Aufsehen groß – und die
Reaktionen sind auch bei ihm fast alle posi-
tiv. Als Martin während der ersten Partie
nach seinem Coming-out eingewechselt
wurde, erhoben sich die Zuschauer im Sta-
dion und klatschten lange. Er habe sich in
den vergangenen Monaten auf dem Platz
nie unwohl gefühlt, erzählte der US-Profi
vor kurzem in einem Interview mit dem
Fernsehsender Sky: „Meine Erfahrungen
waren nur gut.“ Ein Sportartikelhersteller
veröffentlichte vor einigen Wochen einen

Werbefilm, Hauptdarsteller: Collin Martin
in einem Trainingsanzug in Regenbogen-
farben. „Ich hatte nicht gedacht, wie sehr
die Leute meine Geschichte gebraucht ha-
ben“, sagt der MLS-Spieler in dem Video.
Martin und Brennan sind zu Vorbildern
der queeren Bewegung geworden. Bren-
nan tritt bei Veranstaltungen auf, immer
wieder melden sich schwule Sportler bei
ihm, bedanken sich und bitten ihn um Rat.
Als sich der berühmte australische Rugby-
spieler Israel Folau homophob äußerte,
schrieb der schwule Fußballer in den sozia-
len Netzwerken einen bewegenden, viel be-
achteten Beitrag an Folau: „Wenn ich 16
Jahre alt wäre, hätten deine Worte bei mir
bewirkt, dass ich mich noch einsamer ge-
fühlt und noch weiter versteckt hätte.“
Doch Andy Brennan ist nun 26 und aus
dem Versteck herausgekommen. Er wählt
seine Worte mit Bedacht, wenn er spricht.
Seine Stimme ist ruhig und klar. „Wenn
meine Geschichte Leuten helfen kann, sie
inspiriert und ihnen Mut gibt, es auch so
zu machen, dass sie auch finden, dass es
der beste Weg ist, dann ist das ziemlich
gut“, erklärt er. Er hofft, dass vielleicht
bald weitere Fußballer öffentlich über ihre
Homosexualität sprechen, er sagt aber
auch: „Es muss jeder selbst wissen. Nie-
mand weiß, was passieren wird.“
Auf Videos im Internet ist zu sehen, wie
Andy Brennan beim Training in Mel-
bourne über den Platz läuft. Das grüne Gul-
ly-Trikot flattert um seinen Körper, er
schießt den Ball, trifft ins rechte Toreck,
dreht sich jubelnd im Kreis herum und
lacht. Brennan sagt: „Auf dem Platz bin ich
endlich frei.“ lisa sonnabend

Singapur– Es ist ein Satz aus der Dämme-
rung, der 53 Wochen alt ist, aber immer
noch zutrifft, vielleicht mehr denn je:
„Mein größter Feind bin ich selbst“, sagte
Sebastian Vettel vor dem Großen Preis von
Singapur im vorigen Jahr. Damals war er
bezogen auf seine Chancen, Lewis Hamil-
ton den Weltmeistertitel wegzuschnap-
pen. In diesem Jahr sitzt der Heppen-
heimer wieder unterm Riesenrad an der
Marina Bay, die Lage ist ähnlich, nur dass
sein Gegner jetzt Charles Leclerc heißt
und sein Teamkollege ist. Das macht die Si-
tuation noch unangenehmer und noch ge-
fährlicher für den WM-Fünften aus Hep-
penheim. Emotional gesehen jedenfalls.


Technisch hat sich innerhalb der Jahres-
frist auch nicht viel verbessert. Noch so ein
Satz vom Gestern ins Heute, der auf eine
fortgesetzte Krise des deutschen For-
mel-1-Rennfahrers schließen lässt: „Gebt
mir etwas in die Hände, womit ich spielen
kann.“ Aber er hat jetzt wieder nur diesen
SF 90 H, mit dessen Heck er nicht richtig
klarkommt. Vettels persönliches Handi-
cap kann sich auf dem unberechenbarsten
Kurs der Saison ausgleichen – oder ver-
stärken. Ferrari war zuletzt Siegerteam,
ist diesmal aber nur Außenseiter, wegen
der vielen langsamen Kurven. Unabhän-
gig vom Ausgang des siebtletzten Ren-
nens stellen sich für Vettel Vertrauensfra-
gen, in mehrerlei Hinsicht: Kann er sei-
nem Dienstwagen vertrauen? Auf Ferrari?
In Leclerc? In seine eigenen Fähigkeiten?


Das grundsätzliche Vertrauen und der
Status dürften immer noch erschüttert
sein, nach dem, was beim Abschied der
Formel-1-Serie aus Europa in Monza pas-
siert ist. Erst fühlte er sich vom Teamkolle-
gen in einer chaotischen Qualifikation hin-
tergangen, dann unterlief ihm ein schwe-
rer Fahrfehler im Rennen, schließlich er-
löste Leclerc mit seinem zweiten Sieg bin-
nen einer Woche die Ferraristi – und dann
vergab Teamchef Mattia Binotto diesem
auch noch alle Sünden. Das muss einen
auch mit 32 Jahren immer noch überaus
ehrgeizigen, viermaligen Weltmeister wü-
tend machen. Doch das einzige, das im Pa-
villon des Rennstalls sichtlich brodelt,
sind die Kühlaggregate; elf Kameras und
rund 60 Reporter drängen sich, wo Platz
für 20 ist. Die meisten kommen wegen Vet-
tel. Lauert da doch eine Geschichte vom ge-
fallenen Helden, und vielleicht ist ja doch
irgendwas dran an den seit Wochen kursie-
renden Gerüchten vom Rücktritt. Ein paar
kommen auch nur, um zu gucken, ob sich
Charles Leclerc tatsächlich schon als Num-
mer 1 fühlt (tut er nicht, sagt er nicht).
Etwas blass, aber mit fester Stimme
und einem zum Teil sogar vergnüglichen
Tonfall kontert der viermalige Singapur-
Sieger Vettel jede verbale Attacke. Lauter
Ausweichmanöver auf Fragen wie der
nach dem Platzhirschen, seiner schlimms-
ten Formel-1-Zeit, unangenehmen Gesprä-
chen. Arbeitet er alle ordentlich ab, ohne
konkreter zu werden. Irgendwann bricht
es aber bei aller Sachlichkeit aus ihm her-
aus: „Es ist bestimmt nicht die beste Phase
meiner Karriere. Aber sicher auch nicht
die schlechteste, nicht der Tiefpunkt. Sol-
che Phasen gehören dazu. Oder habe ich ir-
gendeine Katastrophe verpasst?“

Nach der gezielten Relativierung verrät
er über die Krisenbewältigung: „Ich gehe
sehr, sehr kritisch mit mir selbst um. So ha-
be ich mich in der Vergangenheit da im-
mer rausgeboxt und werde das auch die-
ses Mal wieder schaffen. Es ist nicht groß-
artig gelaufen – aber es war auch kein De-
saster.“ Na ja. Allein, ihm bleibt nichts als
der Hinweis an alle, die einen vorzeitigen
Rücktritt nicht für ausgeschlossen halten:
„Es ist auch nichts Mentales.“ Er fühle sich
„bereit“, denn da ist noch eine große Hoff-
nung: „Dass es früher oder später endlich
,Klick’ macht, und die Dinge von da an bes-
ser laufen.“ Vettels ehemaliger Kollege Da-
niel Ricciardo unterstreicht das später in
einem Plädoyer: „So einfach verlierst du
dein Talent nicht in diesem Sport. Er
braucht nur einen Erfolg, und schon ist er
wieder da. Nach einem sieglosen Jahr 2014
mit mir bei Red Bull hat er im Jahr darauf
gleich das zweite Rennen mit Ferrari ge-
wonnen.“

Hinten im Raum entsteht Unruhe. Lec-
lerc drängelt sich durch die Menge, weil er
seine Interviewtermine pünktlich erfüllen
will, und weil er sie momentan mehr denn
je genießt.
Vettel, der gerade noch bei der Bilanz
seines Mentalhaushaltes ist, sieht den Ri-
valen, wittert Befreiung und sagt, ehe die
Bohrerei weiter gehen kann: „Es wäre un-
höflich, ihn warten zu lassen.“ Leclerc
rutscht auf Vettels Stuhl, der 21-Jährige
spricht wie er fährt: überlegt, clever, situa-

tionsbedingt reagierend, mit Verve. Am
liebsten redet er davon, dass er trotz der
neuen Rolle „ganz normal“ geblieben sei,
erzählt vom Fabrikbesuch in Maranello,
lacht über Fotos aus dem Internet, in dem
er mit einem Tattoo zu sehen war, das er in
Wirklichkeit gar nicht hat stechen lassen.
Das Bild, das er selbst gepostet hat, zeigt
ihn auf einem Motorboot – selbstredend
das Steuerrad lässig und zugleich fest in
der Hand. Interpretationsfähig, wie alles
gerade. Wer die kurzen Talkrunden der
beiden Protagonisten miteinander ver-
gleicht, kommt zum gleichen Ergebnis wie
in der Analyse der Fahrstile: da Routine,
dort gezielte Rotzigkeit. Das markiert die
gegensätzlichen Vorgehensweisen im
Kampf um die Nummer 1.
Wie intakt die beschworene Harmonie
tatsächlich ist, kann sich schon in Singa-
pur zeigen. Leclerc hat nicht nur eine eige-
ne Interpretation der Regeln in Zweikämp-
fen, er hat sich zuletzt auch über Abspra-
chen mit Vettel hinweggesetzt. Binotto
mag ihm dafür vergeben haben, aber Vet-
tel hat für solche Respektlosigkeiten ein
Elefantengedächtnis. „Er hat ein paar
Zweifel über meine Fahrweise geäußert.
Ich habe mich ihm erklärt. Damit ist der
Fall aus der Welt“, sagt der Kontrahent
über die Aussprache.
Doch der Erfolg deckt Charles Leclerc,
und er deckt vieles zu. Mal helfe er Vettel,
mal umgekehrt, sagt der Aufsteiger prag-
matisch und behauptet: „Man muss mehr
Teamplayer sein als Egoist, das zahlt sich
am Ende aus.“ Klingt nett, aber dann
nimmt sich der Monegasse eine entschei-
dende Einschränkung heraus: „In man-
chen Situationen muss man stärker auf
sich selbst gucken.“ elmar brümmer

Prominente Patientin: Carina Vogt
FOTO: SEBASTIAN WIDMANN / GETTY

„Es ist nicht die beste Phase


meiner Karriere“, sagt Vettel,


„aber auch nicht der Tiefpunkt“


Im Kampf um die Nummer1
unterscheiden sich die Rivalen:
da Routine, dort Rotzigkeit

Vettels Vertrauensfragen


Für den deutschen Formel-1-Piloten geht es beim Großen Preis von Singapur vor allem um Krisenbewältigung


Eine Rille


genügt


Die Skisprungsaison beginnt bald wieder: Immer noch
rätseln die Deutschen über ihre vielen Kreuzbandrisse

Der Befreiungsschlag


Andy Brennan hat als aktiver Fußballprofi sein Schwulsein öffentlich gemacht: „Es fühlt sich überwältigend an“


Der Obmann am Sprungturm
bevorzugte hohes Risiko –
Siegel hielt dem nicht stand

Skispringer müssen nicht nur
das Knie neu aufbauen, sondern
auch ihre sensible Sprungform

DEFGH Nr. 219, Samstag/Sonntag, 21./22. September 2019 HF2 SPORT 39


Zu weit geflogen, falsch reagiert: David Siegel stürzt im Januar beim Teamspringen
inZakopane und verdreht sich dabei das Knie. FOTO: SAMMY MINKOFF / IMAGO

„Einfach nur großartig“: Andy Brennan
nach seinemComing-out. FOTO: PRIVAT / OH

Relativitätstheorie: Sebastian Vettel findet seine Situation vor dem Nachtrennen in Singapur gar nicht so dramatisch wie viele andere. FOTO: CLIVE MASON / GETTY

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