Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1
von katja auer

S


eit es in Bayern keinen König mehr
gibt und keinen Prinzregenten und
nicht einmal Karl-Theodor zu Gut-
tenberg nennenswert in Erscheinung
tritt, muss sich das Volk mit weniger
glanzvollen Gestalten begnügen. Das of-
fenbar vorhandene Bedürfnis nach fähn-
chenschwenkender Untertänigkeit wird
bei den seltenen Besuchen ausländischer
Monarchen bedient oder halt beim politi-
schen Aschermittwoch und den Landpar-
tien bayerischer Spitzenpolitiker.
Das heißt umgekehrt, wer gelegent-
lich beklatscht werden will, der muss
mangels Thron entweder Filmstar wer-
den – oder Minister. Das, so dachte man
wenigstens bislang, sei das ultimative Be-
rufsziel aufstrebender Politiker aller Par-
teien. Und jetzt will Bauminister Hans
Reichhart Landrat von Günzburg wer-
den. Ein junger Mann, 37 Jahre alt, dem
vielfach großes politisches Talent be-
scheinigt wurde. Ins Kabinett berufen oh-
ne Mandat, das sah nach einer langen Kar-
riere in der Landespolitik aus. Die haben,
nebenbei gesagt, sogar solche gemacht,
die im Kommunalen gescheitert sind.
Winfried Bausback, Barbara Stamm,
Günther Beckstein, alle verloren sie OB-
Wahlen, alle schafften sie es ins Kabinett.
Umgekehrt gab es nicht wenige Abge-
ordnete, die kommunale Spitzenämter er-
rangen – einen Kabinettsposten gab da-
für aber nur Franz Meyer auf, der vom Fi-
nanzstaatssekretär zum unangefochte-
nen Landrat in Passau wurde. Die Posten
sind beliebt, nicht ohne Grund werden
Landräte in Bayern als Provinzfürsten be-
zeichnet. Heinrich Trapp etwa wechselte
1991 aus dem Maximilianeum ins Land-
ratsamt nach Dingolfing und wird es erst
im nächsten Jahr nach fast 30 Jahren ver-
lassen – ohne zu wissen, wie oft sie ihn oh-
ne Altersgrenze wieder gewählt hätten.
Oder Deggendorfs Christian Bernreiter,
der Chef des Landkreistags. Er wird auch
in München gehört, bei Kabinettsbildun-
gen fällt sein Name standardmäßig.
Und schließlich, das sei nicht verges-
sen, war es eine Landrätin, die das Ende
von Edmund Stoiber als Ministerpräsi-
dent einläutete. Gabriele Pauli avancierte
damit für kurze Zeit selbst zu einer auf ih-
re Weise glanzvollen Gestalt, bis sie dann
doch die Bedeutungslosigkeit verschluck-
te. Sollte Hans Reichhart also tatsächlich
Landrat werden, kann er sich an unter-
schiedlichsten Vorbildern orientieren.


von andreas glas

H


ans Thurner ist noch mal zu-
rückgekehrt. An den Ort, über
den er sagt: „Das war mein Le-
ben.“ Er steht jetzt da, in ei-
nem kleinen Raum, zwischen
nussbaumfurnierten Möbeln, unter einer
nackten Glühbirne. Da war sein Büro. „Für
die Kumpel war meine Tür immer offen“,
sagt Thurner, 82, weißes Haar, die rechte
Hand auf eine Krücke gestützt. Er dreht
den Kopf zum Fenster und schaut hinaus.
Draußen krallen sich die Bagger ins Stahl-
werk und reißen gewaltige Stücke aus
dem Gebäude. „Das tut mir weh“, sagt
Thurner. Er dreht seinen Kopf schnell wie-
der weg.
Thurner war Betriebsrat in der Maxhüt-
te, dem einst größten Stahlbetrieb in Süd-
deutschland. Ende der Achtzigerjahre hat
er mitgeholfen, das Aus der Hütte abzu-
wehren. Als das Werk dann doch dichtma-
chen musste, im Juli 2002, war Thurner be-
reits in Rente. Den Kumpels, für die seine
Tür immer offen war, konnte er nicht
mehr helfen. „Ich war stocksauer, wie das
alles über die Wupper gegangen ist“, sagt
Thurner. Und jetzt? Muss er wieder zu-
schauen, wie in Sulzbach-Rosenberg ein
Stück Identität verschwindet.
Noch zwei, drei Monate, dann wird das
Stahlwerk eine einzige, ebene Fläche sein,
einen guten Hektar groß. Für die einen
wird dann nur ein Gebäude verschwunden
sein. Für die anderen wird dort gerade ein
Wahrzeichen aus dem Stadtbild radiert.
Über Jahrzehnte hinweg lebten die Men-
schen im Stadtteil Rosenberg im Schatten
der monströsen Anlage. Man kann sich
das noch gar nicht vorstellen: der Rosen-
berger Himmel ohne die markanten Hoch-
fackeln. Nur Sonne, Wolken, sonst nichts.
Schon komisch, oder?

Na ja, sagt Bernhard Dobler, „ich glau-
be, dass der Großteil froh ist, wenn es weg
ist.“ Dobler ist ein drahtiger Mann mit Drei-
tagebart. Er steht auf dem Werksgelände,
neben dem Stahlwerk, und beobachtet,
wie die Bagger den Schutt in einen Contai-
ner poltern lassen. Was dort Neues ent-
steht, wenn alles plattgemacht ist? „Gewer-
be, im Randbereich auch Wohngebiete,
das ist so der Plan“, sagt Dobler, der Objekt-
manager der Maxhütte Verwertungs- und
Verwaltungs GmbH, die zur Max Aicher
Unternehmensgruppe gehört. Er ist, wenn
man so will, der Hausmeister einer Ruine.
Und neben einer Ruine, sagt Dobler, „da
will keiner leben“.

Es gibt zwei Sichtweisen in Sulzbach-
Rosenberg. Da ist zum einen der Thurner-
Blick der alten Kumpel, die in der Maxhüt-
te ein schützenswertes Denkmal sehen,
ein Symbol des Aufstiegs der Oberpfalz
zur Industrieregion. Und es gibt den Do-
bler-Blick, nostalgiefrei, nach vorne ge-
richtet. Vor allem die Jüngeren sehen im
Stahlwerk kein Denkmal, sondern einen
rostigen Schandfleck, der nicht den Auf-
stieg, sondern den Niedergang der Stahlin-
dustrie illustriert. Das ganze Werksgelän-
de als Museum konservieren? Unwirt-
schaftlich, „ein Wunschgedanke“, sagt Do-
bler. Konverterhalle und Kalksilos sind be-
reits weggerissen, auch die kleine Strang-
gussanlage. Nun arbeiten sich die Bagger
und Kräne der Abrissfirma weiter in Rich-
tung Osten des Geländes, auf dem mehr
als 60 Fußballfelder Platz hätten.
Bereits in den Nullerjahren hat die Ai-
cher-Gruppe angefangen, Teile des Inven-
tars abzubauen oder auszuschlachten.
Aber jetzt ist der Moment da, in dem die
Bagger der Maxhütte das Herz rausreißen:
das Stahlwerk. Auf dem Gelände kenne er
„jedes Loch“, sagt Hans Thurner. Angefan-
gen hat er im Rohrwerk, im Jahr 1959 war
das. Später hat er als Kranführer im Stahl-
werk gearbeitet. Zwischenzeitlich schufte-
ten 5000 Mann in der Maxhütte. Dort wur-
den die ersten bayerischen Bahnschienen
gewalzt. Das Erz dafür holten Arbeiter aus
Minen in der Region. Nach dem Krieg wur-
de in der Oberpfalz die Hälfte des bayeri-
schen Eisen- und Stahlbedarfs erzeugt.
Die Region war eine Industrieinsel im

Agrarstaat, eine Festung der Arbeiterbewe-
gung – 149 Jahre lang, bis zum letzten Ab-
stich des Hochofens am 23. September


  1. Danach war die Maxhütte endgültig
    pleite. Und die letzten 850 Arbeiter verlo-
    ren ihre Jobs.
    Dass die Hütte nicht schon in den Achtzi-
    gerjahren zusperrte, hat auch mit Hans
    Thurner zu tun. „Er hat geholfen, dass das
    endgültige Aus erst 15 Jahre später kam“,
    sagt Hans Meßmann, 69, früher Industrie-
    meister in der Maxhütte. Dann erzählt er
    vom 16. April 1987, als im Radio die Nach-
    richt vom ersten Konkurs der Hütte lief.
    Das, sagt Meßmann, habe nicht nur die
    Kumpel aufgeschreckt, auch die Lieferan-
    ten am Werksbahnhof. Statt Schweröl,
    Kalk oder Blasformen abzuladen, wollten
    die Lieferanten kehrtmachen – aus Sorge,
    auf ihren Rechnungen sitzen zu bleiben.
    Hätten die Lieferanten das Öl und den
    Kalk wieder mitgenommen, „es wäre das
    sofortige Aus für die Maxhütte gewesen“,
    da ist Messmann sicher.
    „Da habe ich zum ersten Mal in meinem
    Leben kalt geschwitzt“, erzählt Hans Thur-
    ner über jenen Gründonnerstag 1987. Als
    Thurner vom Konkurs erfuhr, saß er in sei-
    nem Betriebsratsbüro. Er rannte los, hin-
    ter zum Werksbahnhof. Der Kalklieferant
    „wollte schon ankuppeln, da bin ich zur
    Lok runter und habe gesagt: Schluss, der
    Kalk ist beschlagnahmt!“ Als der Lieferant
    wissen wollte, wer Thurner überhaupt sei,
    da habe er gesagt: „Ich bin der Vorsitzende
    vom Arbeiterkomitee.“ Das habe den Liefe-
    ranten so „eingeschüchtert, dass er sich da-


mit abfand“, erinnert sich Hans Meß-
mann. Auch Thurner selbst freut sich im-
mer noch über diese List: „Das Arbeiterko-
mitee war ja nur ich alleine.“
Die Heldengeschichte des Hans Thur-
ner erzählen sich die früheren Kumpel bis
heute. Nur, wie lange noch? Alle zwei Wo-
chen treffen sich die Männer zum Stamm-
tisch, reden über die alten Zeiten und ih-
ren Kampf um die Arbeitsplätze. Sie tun
das seit 17 Jahren, seit dem Aus der Max-
hütte. Aber jetzt, sagt Karl-Heinz Utz, „ster-
ben ja alle weg“. Utz, 74, ist ein runder
Mann mit Siebentagebart und ohne Dau-
men an der rechten Hand. Ein Arbeitsun-
fall. Utz und ein Kollege hoben gerade eine
Stahlplatte in eine Stanzmaschine, als ei-
ner der zwei Kumpel aus Versehen den
Fußschalter berührte. Die Maschine hat
Utz den rechten Daumen zerquetscht,
dem Kollegen den linken. Die Arbeit in der
Maxhütte war ein gefährlicher Knochen-
job.

Heute ist Utz im Vorstand des Hütten-
vereins „Glück auf“, der den Kumpel-
Stammtisch organisiert. Er sitzt im Aufent-
haltsraum des Vereins, am Ecktisch, vor
ihm dampft ein Aschenbecher. Der Raum
liegt direkt neben Thurners früherem Be-
triebsratsbüro. Über den Stammtisch sagt
Karl-Heinz Utz: „Wir sind froh, wenn noch

15 Leute kommen.“ Demnächst wird sich
der Hüttenverein auflösen, das ist be-
schlossene Sache.
Der Verein, das Stahlwerk, wird alles
bald weg sein. Immerhin, der Hochofen
soll stehen bleiben. Er soll in ein Museums-
konzept integriert werden, auch die turm-
hohen Winderhitzer und die Gießhallen.
Im Stadtrat reden sie seit Jahren über den
Museumsplan, aber konkret ist noch im-
mer nichts. Im Ruhrgebiet haben sie
längst Museen gemacht aus ihren Kohleze-
chen und Stahlwerken, die so viel erzählen
über die Industriekultur einer ganzen Re-
gion. Und in der Oberpfalz? Da frisst der
Rost die Erinnerung auf.
Im Stadtrat wurde jetzt ein Nutzungs-
konzept für die verbleibenden Flächen vor-
gestellt – ein Konzept für das Museum
fehlt aber immer noch. Strittig ist, wer es fi-
nanzieren und betreiben soll. Sulzbach-Ro-
senberg hat zwar einen wirtschaftlichen
Aufschwung durchgemacht, zählt aber im-
mer noch zu den am höchsten verschulde-
ten Kommunen Bayerns. SPD-Stadtrat Jo-
achim Bender ärgert sich: „Wir machen
nichts für die Industriegeschichte.“ Vor al-
lem der Freistaat ist seiner Ansicht nach in
der Pflicht, wenn es um die Gründung ei-
ner Betreibergesellschaft geht. Bender zu-
folge würde alleine die Sicherung des letz-
ten verbliebenen Hochofens 1,2 Millionen
Euro kosten. Das gesamte Museum könn-
te leicht auf sechs bis zehn Millionen Euro
kommen.
Aber geht das überhaupt: die Stahler-
zeugung ohne Stahlwerk zu dokumentie-
ren, ohne das Herz der Maxhütte? Man
müsse da eben einen Kompromiss ma-
chen, um „sowohl der Bevölkerung ge-
recht zu werden, die mit der Maxhütte auf-
gewachsen ist, als auch der Nachwelt“,
sagt Dobler, der Objektmanager. Man kön-
ne „nur einen kleinen Bereich erhalten,
der auch finanzierbar ist“. Allerdings wird
es noch dauern, bis auf der Fläche des
Stahlwerks die ersten Gewerbebauten und
Wohnungen entstehen. Nach dem Abriss
muss der ölverseuchte Boden saniert wer-
den. Wer das zahlt, darüber verhandelt die
Maxhütte Verwertungs- und Verwaltungs
GmbH noch mit dem Freistaat, dessen An-
teile die Aicher-Gruppe in den Neunziger-
jahren übernommen hat.
In der Zwischenzeit wappnet sich Hans
Thurner für den Moment, wenn das Stahl-
werk aus dem Stadtbild von Sulzbach-Ro-
senberg verschwunden sein wird. Aus der
Lokalzeitung schneidet er alle Artikel aus,
die den Abriss der Maxhütte dokumentie-
ren – und heftet die Ausschnitte in dicken
Ordnern ab. Thurner macht das seit Jahr-
zehnten. Immer, wenn etwas über die Max-
hütte in der Zeitung steht. Es ist seine Art,
die Erinnerung an Bayerns letztes Stahl-
werk festzuhalten.

Katja Auer hat keine
politischen Ambitionen, ist
aber gespannt auf die Wahl.

Penzberg– Weil drei Jugendliche auf ei-
nem Weg Blutspuren bemerkt haben,
konnten sie einem 58-jährigen Mann das
Leben retten. Die 15- und 16-jährigen Bu-
ben kamen gerade vom Sportunterricht
im Nonnenwaldstadion im oberbayeri-
schen Penzberg (Landkreis Weilheim-
Schongau), als sie das Blut sahen. Sie folg-
ten den Spuren in den angrenzenden
Wald und entdeckten den stark bluten-
den Mann unterhalb eines Abhangs, wie
die Polizei am Freitag mitteilte. Die Schü-
ler informierten sofort Polizei und Ret-
tungsdienst. Sie blieben bei dem Mann,
bis er medizinisch versorgt werden konn-
te. Wenn sie ihn nicht gefunden hätten,
wäre der Verletzte nach Einschätzung der
Polizei wohl verblutet. Der 58-jährige
Gärtner hatte sich einige Tage zuvor bei
Arbeiten mit einer Motorsäge selbst am
Bein verletzt. Die Wunde war bereits am
Verheilen. Als sie am Montag wieder auf-
platzte, erlitt der Mann einen Schock, so-
dass er durch den Wald irrte. dpa


Bamberg– Weil sie auf einer Fete einen
Mann verprügelt haben, sind zwei Män-
ner wegen gefährlicher Körperverlet-
zung zu jeweils fünf Jahren und zwei Mo-
naten Freiheitsstrafe verurteilt worden.
Der Vorsitzende Richter am Landgericht
Bamberg sprach von einer „Gewaltorgie“
der 24 und 25 Jahre alten Männer. Auf ei-
ner Party hatte der eine Beschuldigte ei-
nem 21-Jährigen zunächst mehrfach mit
der Faust ins Gesicht geschlagen. Grund
dafür seien Geldschulden gewesen. An-
schließend gingen die drei Männer nach
draußen. Dort brachten die Angeklagten
den Mann mit Schlägen zu Boden und
schlugen und traten ihn viele Male heftig,
unter anderem gegen den Kopf. dpa


„Ich bin der Vorsitzende
vomArbeiterkomitee“,
flunkerte Thurner

Haftstrafen wegen


Körperverletzung


UNTER BAYERN

Traumjob


Provinzfürst


Ein Denkmal aus Rost


Dort begann einst die Industrialisierung Bayerns, nun reißen Bagger das Stahlwerk der Maxhütte in Sulzbach-Rosenberg ab.
Der frühere Gewerkschafter Hans Thurner reagiert wehmütig, zumal es immer noch kein Konzept für ein Museum gibt

Jugendliche retten


Mann dasLeben


Hans Thurner (links) gilt unter den früheren Kumpels als Legende. Seinem Einsatz war es
zu verdanken, dass das Werk nicht bereits 1987 in Konkurs gehen musste. Bis 2002 kämpften die
Menschen in der Oberpfalz für ihre Arbeitsplätze. Inzwischen ist der Strukturwandel gelungen,
die Arbeitslosigkeit ist auf weniger als drei Prozent gesunken.FOTOS: THILO HIERSTETTER, ANDREAS GLAS, IMAGO

Seit Jahren wird über
eine Betreibergesellschaft
diskutiert. Passiert ist nichts


DEFGH Nr. 219, Samstag/Sonntag, 21./22. September 2019 R13


BAYERN


Sticheln gegen den Chef


Alexander Dobrindt gilt als ambitioniert
und scheutauch die Konfrontation mit
Markus Söder nicht  Bayern, Seite R16
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