Berliner Zeitung - 21.09.2019

(Ron) #1

Berlin


10 * Berliner Zeitung·Nummer 220·21./22. September 2019 ·························································································································································································································································································

Gefräßiges


Loch


I


ch habe in dieserWoche wieder
sehr gelacht.Denn das schwarze
Loch imZentrum unseresSonnen-
systemshatesbisindieTagesschau
geschafft. Dortwurde erzählt, das
Lochstrahleplötzlichungewöhnlich
hell und habe sich offenbar „ein
reichhaltigesMahl“gegönnt.
„Und? Watisdaran so lustich?“,
fragt mein innerer Berliner.„Stellste
dirvor, wieditLochtonnenweiseEi-
erkuchenundBullettenfrisst?“Nein,
natürlichschlucktso ein schwarzes
Loch Sterne oder interstellares Gas.
Ichamüsiertemichüberdas„Plötzli-
che“ dieser Gefräßigkeit.Denn das
Mahl fand ja nicht gesternoder vor-
gesternstatt,sondernvor26000Jah-
ren.SolangbrauchtedasLicht,umzu
uns zu gelangen.Vielleicht ist das
Loch inzwischengar nicht mehr da,
sondernhatsichtotgefressen.
„Dit is wie bei de Schneckenpost
im Mittelalter“,sagt mein innerer
Berliner.„DerBotekommterschöpft
int letzte Dorfjeritten und kräht:
,DerKönichisdot!‘Dabeiwarlängst
der nächsteKönich dran, hatte die
Omades Drachen jeheiratet, sich
beim Pilze-Essen verjiftet. Undnun
herrschtederDracheuffdeBurgund
machtesichdran,alleuffzufressen.“
IchhabeEinsteinundseineRela-
tivitätderZeitniesorichtigverstan-
den.Aberhierwirdmirklar,wierela-
tivdieZeitfürunsMenschenist.Wir
reden von„plötzlich“,wenn etwas
vor26000Jahrenpassierte.Undwir
sagen „Kommt Zeit, kommtRat“,
wenn wir registrieren, dass um uns
dasEisschmilztundwirzumfünften
MalhintereinanderdasheißesteJahr
seitderWetteraufzeichnunghaben.
Dannrettenwirunsgerneingrö-
ßereDimensionenundbeklagendie
„Klimahysterie“. „Ja, es steht außer
Frage,dass sich das Klima ändert“,
sagtejüngstderBerlinerAfD-Frakti-
onschefGeorgPazderski.„Vor
Jahrenwardasso,undeswirdauch
inZukunftsobleiben.“
Ja,das stimmt.Er könnte sogar
noch ein paar Nullen ranhängen.
Seit2,6 MillionenJahrennämlichle-
ben wir im ständigenWechsel von
Kalt- und Warmzeiten. DerRhyth-
mus wir dbeeinflusstvonVerände-
rungen derErdbahn und derErd-
achse,genanntMilankovic-Zyklen.
Nunist aber leider wasDummes
passiert.DieaktuelleErderwärmung
lässt sich nämlich offenbarweder
mitdiesenZyklenerklärennochmit
derAktivitätderSonne–wieandere
verg leichbarePhasen derVergan-
genheit.Erstmalsseit 2000 Jahren
findetdieErwärmungauchnichtre-
gionalzuunterschiedlichenZeiten
statt, sondernglobal einheitlich.
UnddasbeizurückgehenderSon-
nenhelligkeitseit1980.Dashaben
Forscherherausgefunden.DerTem-
peraturanstieg der vergangenen
Jahrzehntelassesichnurerklären,
wenn man menschlicheEinflüsse
miteinbeziehe,sagensie.
Pfui!Wissenschaftlersindeinfach
fieseSpielverderber.Siesitzendamit
ihren Messungen undComputer-
modellen und machen einem das
ganzeschönesorgloseLebenkaputt.
„Aberpassmauff“,sagtmeinin-
nerer Berliner,„vielleicht jibts ja ’ne
Lösung. Vielleicht kriegt ja dit
schwarze Loch sorichtich Riesen-
hunger,kommtanjerollertundsaugt
beiuns’nbisschenWärmeab!“Nee,
mein Lieber,das erleben wir wohl
nicht mehr,nicht in Millionen Jah-
ren. Undwie ich das Loch kenne,
würdeesunsauchgleichganzweg-
saugen,dasverfresseneDing.

Neuerscheinungund Lesung:
Torsten Harmsen:Der Mond ist ein Berliner.
Wunderliches aus dem Hauptstadt-Kaff,
be.braVerlag,Berlin. 224S., 14 Euro.
Buchpremiere:26. September,20Uhr,Forum
Köpenick, Bahnhofstr.33–38, 12555 Berlin.
KartenvorverkaufvorOrt in derThalia-Filiale.


Harmsens Berlin


TorstenHarmsen
stößtdarauf,wierelativfür
MenschendieZeitist.

DPA

DerWolf, Namensgeber undWappentier
der Bewegung,soll Kraft und Militanz
symbolisieren.

D


iefüreinigeJahreletzten
Schritte inFreiheit führ-
ten den 21-jährigenErol
Ü.am28.Mai1982über
denAlexanderplatzinBerlinsMitte.
DerjungeTürke,der als Kunststoff-
verarbeiter bei den West-Berliner
Ford-Werken arbeitete,war an die-
semMaitagüberdenBahnhofFried-
richstraße eingereist und hatte sich
dannindieS-Bahngesetzt,umzwei
StationenzumAlexzufahren.Einen
Rucksackhatteerdabei,indemsich
zehnKarabinerhakenbefanden.Da-
mit wollte er in eine kleineSeiten-
straße zwischen Alex undRosa-Lu-
xemburg-Platz.Dort,inderNäheder
Volksbühne,sollteÜ.denMannauf-
suchen,denerindenvorangegange-
nen Tagen schon zweimal getroffen
hatteunddernunaufdenRucksack
wartete .Nach der Übergabe wäre
noch ein kleinerBummel durch die
Stadt drin gewesen, vielleicht auch
einEinkaufimCentrum Warenhaus
–danach wollte Ü. wieder zurück
nachWest-Berlin.

Filmreife Festnahme
Doch als er auf denMann zuging,
dem er denRucksack übergeben
sollte,öffneten sich plötzlich Türen
in den umliegenden Häusern.Zwei
Autos brausten heran, aus denen
Männersprangen.Ü.undseinTreff-
partner DietmarS.,einEx-Stasi-Mit-
arbeiter,wurden in dieFahrzeuge
gezerrt,diedaraufhinmithoherGe-
schwindigkeit davonrasten. Nach
ein paarSekunden schon herrschte
wiederRuheaufderStraße.Alswäre
nichtspassiert.
Mitder filmreifenFestnahmeak-
tionhattedieStasigleichzweiAnlie-
gen erledigen können.Zumeinen
verhinderte sie den spektakulären
Fluchtversuch eines abtrünnigen
Ex-Kollegen, worüber noch zu be-
richtenseinwird.Zumanderenwar
dem DDR-Geheimdienst mit dem
jungenTürkenausWest-Berlinerst-
mals einMitglied dervomMfS als
„rechtsextremistisch/neofaschisti-
sche Feindorganisation“ eingestuf-
tenGrauenWölfeinsNetzgegangen.
DieExtremistengruppe Graue
Wölfe rekrutier tsich bis heute aus
ultrarechtenMitgliederntürkischer
nationalistischerParteien wie MHP
und BBP.Anfang der 80er-Jahre, als
die Stasi sie zunehmend insVisier
nahm, durften die Grauen Wölfe
nach mehrerenMordanschlägen in
Deutsc hland undWesteu ropa al ler-
dings nicht mehr offiziell inWest-
Berlinagierenundnutztendaherfür
ihreAktivitäten und Zusamm en-
künfte den Tarnmantel scheinbar
harmloser Sport-, Moschee- und
Kulturvereine.Enge Verbindungen
unterhieltensieauchzukonservati-
venMenschenrechtsorganisationen,
diesich –wiedietürkischenFaschis-

ten –dem Kampf gegen denKom-
munismusverschriebenhatten.
Daswar auch einwesentlicher
Grunddafür,warum die fürTerror-
abwehr zuständigeStasi-Abteilung
XXII dasTreiben der türkischen Or-
ganisationzunehmendmitArgwohn
beobachtete.Seit die Grauen Wölfe
nämlich nicht nurTerror undRe-
pressiongegenihreind erBundesre-
publik lebenden Landsleute ausüb-
ten,sondernverstärktdenSchulter-
schluss mit westlichen Politikern
und Geheimdiensten sowierechts-
extremistischen und sogenannten
DDR-Feindorganisationen suchten,
sahdasMfSauchdenSED-Staatbe-
droht. „Aufgrund des faschistisch-
terroristischenCharaktersihrerZiel-
stellung und Aktivitäten sowie der
hohen Intensität ihrer Aktionen in
unserem westlichen Nachbarland
BRD bilden die ,Grauen Wölfe‘ ein
bedeutendes Sicherheitsrisiko so-
wohl für die DDR und ihreVerbün-
deten,alsauchfüralleprogressiven
KräfteinderBRD“,heißtesimEröff-
nungsberichtderimJanuar1984von
der Stasi angelegten „Feindobjekt-
akte(FOA)GraueWölfe“.
In dem mehrereHundertSeiten
umfassenden Dossier sind umfang-
reicheAuswertungsberichtederAb-
teilung XXII überStruktur,Arbeits-
weiseundpersonelleAufstellungder
GrauenWölfefestgehaltensowieLa-
gebeschreibungen samt Fotos der
wichtigstenStützpunkteimBundes-
gebiet und in West-Berlin. Auch
wenn die Aktivitäten der Organisa-
tion nach demPapst-Attentat 1981,
das vomehemaligenGraue-Wölfe-
MitgliedAliAgcaverübtwurde,und
nach internen Richtungsstreitigkei-
teninderdeutschenSektioninden
80er-Jahren starkzurückgingen,
schätzte dieStasi noch imMai
ein,dassdieGrauenWölfe„perspek-
tivisch eineRolle im Feindpotential
spielenwerden“.
Der21-jährigeÜ.hattesich 1981
den Grauen Wölfen angeschlossen.
1968 war er mit seinerMutter und
seinem Bruder ausIstanbul nach
West-Berlingekommen.Nachder9.
KlasseverließerdieSchule,eineBe-
rufsausbildung nahm er nicht auf,
stattdessenverrichtete erAushilfs-
jobs.AbA nfang 1982 hatte er aber
eine Anstellung bei denFord-Wer-
ken,daschienesaufwärtszugehen.
Daslagmöglicherweiseauchansei-
nenneuenFreunden,dieüberpoliti-
schen und damit auch wirtschaftli-
chenEinflussverfügten.
ErsteinpaarMonatezuvorhatte
Ü. eine Gastmitgliedschaft in der
CDU-Jugendorganisation Junge
Unionbeantragt,zuvorwarerschon
derCDU-VereinigungChristlichDe-
mokratischen Arbeitnehmerschaft
(CDA)beigetreten.Dazuhattenihm
seine Kameradenvonden Grauen

„ErolÜ.u nd


Dietma rS.w urden


in die Fahrzeuge


gezerrt, die


daraufhin mit


hoher


Geschw indigkeit


davonrasten.


Nach ein paar


Sekunden schon


herrschte wieder


Ruhe auf der


Straße.


Als wär enichts


passiert.“


DerPapst-Attentäter Ali Agca gehörte
den Grauen Wölfen an. GAMMA-RAPHOLAIF

Wölfen geraten, die guteBeziehun-
gen zu CDU-PolitikerninWest-Ber-
linpflegten,sagteÜ.späteraus.
Eine Organisation, mit der die
GrauenWölfe inWest-Berlin eng zu-
sammenarbeiteten, war dieInterna-
tionale Gesellschaft fürMenschen-
rechte(IGfM).Diestriktantikommu-
nistischeOrganisation,dieinderZeit
desKaltenKriegeswegenihrerNähe
zu Regimes in Südafrika und Chile,
aber auch zurechtsextremistischen
Gruppen umstritten war,wurde von
der Stasi als eines der zentralen
Feindobjektebearbeitet.AuchÜ.war
beteiligt an Aktionen mit der IGfM,
diesichgegendieBerlinerMauerund
sowjetischeEinrichtungen inWest-
Berlin richteten.Viel schwerer aber
wognatürlich dasVorhaben ,wegen
demÜ .inder Nähe derVolksbühne
festgenommen worden war.Esg ing
umeinespektakuläreFlucht,dievon
der IGfM organisiertund vorbereitet
worden war–sos agte es Ü. später
beim MfS aus und bestätigte damit
auch Berichte einesvonder Stasiin
dieMenschenrechtsorganisationein-
geschleustenSpitzels.
Demnachsollte Dietmar S. –ein
damals 31-jährigerEx-Stasi -Offizier,
dernachseinerVerurt eilungalsVer-
gewaltiger aus dem MfS entlassen
wordenwar–vomDacheines Hoch-
hauses auf derFischerinsel an 40,
mit einemSpezialgas gefülltenBal-
lons hängend nach West-Berlin
schweben. MitzweiJournalisten
vomZDFund BildhattendieOrgani-
satoren angeblich bereitsVerträge
zur Vermarktun gder Flucht ausge-
handelt.Um die in zweiKissen ein-
genähtenBallons sowieweitereBe-
stan dtei le der Konstruktion, wie die
Karabinerhaken,nachOst-Berlinzu
schmuggeln, baten IGfM-Mitglieder
dieGrauen Wölfe umUnterstützung.
Fürdie Kurierfahrtenwähltendie
Grauen Wölfe Ü. aus. DasMfS,d as
durchseineSpitzelinderIGfMstets
auf dem Laufenden war über den
FortgangderOperat ion,musstenur
auf eine günstigeGelegenheit zum
Eingreifen warten. Am 28.Mai
war es so weit. Derjunge Türke
wurde festgenommen undwochen-
langdurchdieStasiverhört.
IndenVernehmu ngengaberalles
zu und packte darüber hinaus auch
über dieGrauen Wölfe aus. Seine
Aussagebereitschaft zahlte sich zu-
nächst aber nicht aus:Nach einem
dreitägigenProz essvordemBezirks-
gericht Cottbuswurde Ü. wegen
staa tsfeindlichemMenschenhandel,
Hetzeund Herabwürdigung der
DDRzuneunJahren Gefängnisver-
urteilt. Verbüßen musste er seine
Strafe im „gelbenElend“,der Straf-
vollzugseinrichtungBautzenII.
Vollständig abzusitzen brauchte
derTürkeseineHaftstrafeabernicht,
weildieS tasikonkretePlänemitihm

hatte.Welche, dasenthüllt ein im
Sommer 1984verfasster Auskun fts-
berichtder Abteilung XXIIüber den
Strafgefangenen.Demnach habe Ü.
im Untersuchungsverfahren aktiv
mitgearbeitet und „über seineStraf-
sache hinaus umfangreiche,detail-
lierteAngabenüberdieTerrororgani-
sation ,GraueWölfe‘ ,die IGfM sowie
dasZusammenwirkene inzelnerihrer
Mitglieder mit neonazistischen und
rechtsextremisti sche nGruppierun-
gen des Operationsgebietes“ ge-
macht.WährendseinerHaftzeithabe
Ü. zudem alsInformant „operativ
auswertbareErgebnisse“ erbracht,
auchhätten„seineArbeitsleistungen
(...) ständig über 200Proz ent“ gele-
gen. „Es istvorg esehen, ihn als IMB
zur Bearbeitung der ,GrauenWölfe‘
sowie (...) der IGfM u.a.rechtsextr e-
mistischerPotentialedesOperations-
gebietes zu entwickeln“, heißt es in
demAuskun ftsberichtderStasi.

Verratals Druckmittel
ZudiesemZeitpunktführtedieStasi
bereits drei sogenannteInoffizielle
Mitarbeiter mit Feindberührung
(IMB) innerhalb der türkischen Or-
ganisation. Für dieAbteilung XXII
spitzelten inWest-Ber lin IMB„Has-
san“ und im Bundesgebiet IMB
„Isa“; die fürSpionageabwehr zu-
ständigeAbteilungIIderBerlinerBe-
zirksverwaltung hatte zudem IMB
„Taruk“inWest-Ber linim Einsatz.
Ü.konnteam27.März1985,nach
fast dreiJahren Haft in der DDR,
nachWest-Berlinzurückkehren.Die
Stasi hatte ihn aber nun amHaken.
Er solle doch bitte nichtvergessen,
dass er mit seinen umfangreichen
Aussag enseineK ameradenvonden
Grauen Wölfen undvonder IGfM
starkbelastet habe,erinnerte ihn
sein Gesprächspartnervonder Ab-
teilung XXII am Entlassungstag.
Wenn er also auf denGedanken
kommen sollte,sich dem langen
Armdes MfS inWest-Berlin entzie-
hen zu wollen,werdeman schon
Mittel und Wege finden, dieGrauen
Wölfe über seinenVerrat zu infor-
mieren.
Derjunge Türkeaber war be-
müht,dieZweifelanseinerzugesag-
ten Bereitschaft zur Kooperation
baldzu zerstreuen.BisMai1986traf
ersichinsgesamtsiebenmalmitsei-
nem Führungsoffizier und lieferte
dabei „einige operativ bedeutsame
undauswertbareInformationenund
Hinweise“,heißteslobendineinem
Stasi-Vermerk.Soberichteteerüber
dreials VereinegetarnteTerror zellen
der Grauen Wölfe inWest-Berlin,
über Einzelpersonen aus der Szene
sowieüberAktivitätenderumstritte-
nenislamischenBewegungMillîGö-
rüs.DieStasiwarzufriedenundver-
pflichtete ihren türkischenZuträger
am29. Mai1986beieinemfestlichen

Unter


Wölfen


SchondieStasihieltdieultra-nationalistischen


GrauenWölfefüreinSicherheitsrisiko.Gleich


mehrereSpitzelhattedasMfSaufdietürkische


OrganisationinWest-Berlinangesetzt.


EinerwarderjungeErolÜ.EinAusflugnach


Ost-BerlinstellteseinLebenaufdenKopf


VonAndreas Förster

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