Nina Poelchau findet ermutigend, was
sich in der Forschung immer klarer
herausstellt: Wer es wagt, neue Erfah-
rungen zu machen, kann auch noch
als Erwachsener Wunden der Kindheit heilen FOTO: DAVID MAUPILÉ
Nicole Strüber
studierte in Bremen Neurobiologie
und Psychologie. Nach mehrjähriger
Kinderpause mit eineiigen Zwillingen
promovierte sie bei Professor Gerhard
Roth in Bremen und schrieb mit ihm
zusammen Bücher. Ihr neuestes Buch
heißt „Risiko Kindheit“ (Klett-Cotta).
Strüber unterrichtet Psychologie
im Studiengang Hebamme an der
privaten Fachhochschule Buxtehude
nal leer fühlen, sie auf andere abgestumpft
und nicht erreichbar wirken.
Die Zeit als Embryo und die frühe Kind-
heit bestimmen, wie ein Mensch später
zurechtkommt – das klingt für alle, die
keinen einfachen Start hatten, nach dem
Urteil „lebenslänglich“. Was lässt sich
später noch reparieren?
Erlebt ein Kind nach einer belasteten
Schwangerschaft feinfühliges und zuge-
wandtes Verhalten, kann es sich oft gut er-
holen. Und vieles spricht dafür, dass ein
Umbau der Synapsen auch in der späteren
Kindheit und sogar noch im Jugendalter
gelingen kann – wenn Erfahrungen nach-
geholt werden. Das erfordert aber einen
neuen Blick auf Therapien: Kinder und Ju-
gendliche müssen entwicklungsgerecht
gefördert werden. Und nicht, was meistens
passiert, altersgerecht.
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen wir einen sehr aggressiven Sie-
benjährigen. Als Erwachsener würde man
dazu neigen, an seine Vernunft zu appel-
lieren. Man würde ihm vielleicht sagen:
„Dass du dich jetzt so aufführst, ist unan-
gemessen“, und dann würde man ihm die
Situation erklären. Wenn dieses Kind aber
als Säugling nie erlebt hat, dass es schrei-
en, toben und wüten kann und trotzdem
geliebt wird – dann muss man an die Sa-
che anders herangehen. Es toben lassen,
trotzdem da sein, Halt bieten, trösten. So,
wie man es bei einem Säugling tun würde.
Dann kann ein Kind auch nachträglich
noch so etwas wie Urvertrauen entwickeln.
Für Eltern und Erzieher ist das nicht
einfach.
Das stimmt. Tatsächlich kommt es deshalb
oft zu einem Teufelskreis: Hat ein Kind, das
etwa als Ungeborenes belastet wurde oder
in der frühen Kindheit Misshandlungen
erlebt hat, ein überempfindliches Stress-
system, dann reagiert es sehr schnell ge-
reizt. So provoziert es bei Erwachsenen oft
abwehrendes Verhalten. Darauf reagiert es
wieder wütend ... und so weiter.
Was können Erwachsene tun, deren
Gehirn auf Stress programmiert ist?
Die gute Nachricht: Auch wenn vieles
frühkindlich und spätestens in der Jugend
geprägt wird, ist das Gehirn auch bei Er-
wachsenen noch veränderbar. Neue Erfah-
rungen können es dazu bringen, Ersatz-
pfade zu schaffen und positiv zu besetzen.
Allerdings werden die alten Verknüpfun-
gen nicht gelöscht, und gerade in sehr he-
rausfordernden Situationen verdrängen
sie gern wieder alles, was man neu gelernt
hat. Zum Glück meistens nur so lange, bis
sich alles wieder beruhigt hat.
Wie geht das, neue Pfade zu bahnen?
Man kann sein Stresssystem schon mit
einfachen Mitteln entscheidend verbes-
sern – mit Meditation, Yoga oder Massa-
gen. All dies bewirkt, dass der Cortisol-
pegel sich normalisiert und Entspannung
eintritt, nachweisbar im Gehirn. Bei
schwerwiegenden Problemen sind Verän-
derungen aber am besten zusammen mit
einem Therapeuten zu erreichen. Wichtig
ist, dass die Therapie emotional ansetzt,
dass sie bindungsorientiert ist und nicht
zu kurz. Kurze Therapien haben langfris-
tig wenig Wirkung, das belegen verschie-
dene Studien. Nur durch Wiederholung
können die neuen Wege und Assoziatio-
nen vom Gehirn gespeichert werden.
Eltern mit Kriegstraumata, Kinder, deren
Bedürfnisse mit Füßen getreten werden –
das sind heute Ausnahmen.
Wir haben jetzt andere Probleme. In den
meisten Familien arbeiten beide Elterntei-
le außer Haus. Das ist im Prinzip ja auch gut
so – allerdings ist die Betreuung in Kinder-
krippen oft erschreckend schlecht. Der Be-
treuungsschlüssel sollte bei den unter
Dreijährigen bei eins zu drei liegen. Be-
rücksichtigt man Krankheitsausfälle,
Urlaubsvertretungen, Elterngespräche und
Teamsitzungen, liegt er faktisch bei etwa
eins zu sechs, in Sachsen sogar bei eins zu
zehn. So ist es auch für die engagiertesten
Erzieherinnen nicht möglich, feinfühlig
und zuverlässig für die Kinder da zu sein.
Ich warne immer wieder davor: Eine
schlechte Betreuung in der Krippe kann
Kindern schaden.
Sie halten auch digitale Medien für ein
Risiko unserer Zeit.
Jetzt könnte man denken, ich hätte gern,
dass alle Kinder wie in Bullerbü aufwach-
sen, ganz in der Natur, ohne Smartphone.
So radikal sehe ich das nicht. Die digitalen
Medien gehören zu unserem Leben, in
Maßen eingesetzt habe ich kein Problem
damit. Mag sein, dass die Nutzung die
Menschen verändert, vielleicht werden
sie künftig schneller denken und lesen,
dafür aber etwas vergesslicher werden.
Das ist dann eben so.
Wo sehen Sie dann das Problem?
Mein Problem ist der Umgang der Eltern
mit diesen Medien. Neulich habe ich in
einem Park diese Szene beobachtet: Ein
Kind ließ seine Reiswaffel fallen und war
offensichtlich traurig. Die Mutter amüsier-
te sich gerade über irgendwas auf ihrem
Handy und sagte mit einem Grinsen im
Gesicht ganz unkonzentriert: „Oh je, das ist
aber traurig für dich.“ Für das Kind kann
so etwas, wenn es sich immer wiederholt,
eine ähnliche Wirkung haben wie das
Verhalten einer Mutter, die nach trauma-
tischen Erlebnissen nicht mehr zur Anteil-
nahme fähig ist und dem Kind seine Ge-
fühle nicht spiegelt.
Sind Kinder heute also einem ähnlichen
Risiko ausgesetzt wie diejenigen ein,
zwei Generationen zuvor?
Nein, die Ausgangslage ist viel besser, in
Deutschland jedenfalls. Es gibt vor allem
diesen Unterschied: Vieles von dem, was die
Entwicklung von Kindern bedroht, können
ihre Eltern mit etwas Selbstdisziplin ohne
Weiteres ändern. Sie können für ihre eige-
ne Entspannung sorgen – und ihre Smart-
phones einfach aus der Hand legen. 2
AUCH BEI
VERÄNDERBAR“
NOCH
IST DAS
GEHIRN
ERWACHSENEN
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