Till Brönner: „Melting Pott“
Die Bilder werden noch bis zum 6. Oktober
im Museum Küppersmühle in Duisburg
ausgestellt. Der Katalog ist im Wienand Verlag
erschienen, 224 Seiten, 35 Euro
R
uhrgebiet? Kennen wir doch. Und
das nicht erst seit Grönemeyer. Tief
im Westen, wo die Sonne verstaubt,
und so weiter. Schweiß und Stolz,
Maloche und Melancholie, Seele,
Liebe, raue Herzlichkeit. Braucht
das Land einen neuen fotografischen Blick
auf diese Welt? Kann man diesen Lebens-
raum von fünf Millionen überhaupt noch
unbefangen betrachten? Wie erzählen von
diesen Menschen, die Wandel schon (er)leb-
ten, als die Worte Globalisierung und Digi-
talisierung noch gar nicht erfunden waren?
Auch Till Brönner stellte sich diese Fra-
gen, als er damit begann, sich sein eigenes
Bild vom Ruhrgebiet zu machen. Was such-
te er eigentlich? Und würde es überhaupt
noch von Belang sein in einem Zeitalter der
Überfülle an Bildern? Gedanken eines
Mannes, dessen Kunst sich eigentlich aus
dem Augenblick speist, aus Intuition und
einem sicheren Gefühl für den fälligen
nächsten Schritt. Denn nichts anderes ist
Jazz im Grunde: Feier des Augenblicks,
spontanes Verständnis für Raum, Zeit,
Rhythmus. Der Trompeter Till Brönner,
1971 in Viersen am Niederrhein geboren,
zählt zu jenen Musikern, die sich auf ihre
Intuition immer verlassen konnten.
Das Angebot, das Ruhrgebiet zu fotogra-
fieren, bekam Brönner 2017 von der Essener
Brost-Stiftung. Erich Brost war einer der
Gründer der „Westdeutschen Allgemeinen
Zeitung“, aus der sich ein großer Medien-
konzern mit Stammsitz Essen entwickelte.
„Das Thema reizte mich eben deshalb, weil
ich so viele Klischees über das Ruhrgebiet
im Kopf hatte. Würde ich sie alle vorfinden?
Trafen sie immer noch zu? Und wenn ja, wer
brauchte dann noch weitere Fotos davon?
Die Wahrheit lag in der Mitte.“
Brönner beschäftigt sich seit etwa 20
Jahren ernsthaft mit Fotografie. Damals
schrieb er die Musik zu einem Film über
das Leben des amerikanischen Fotografen
William Claxton. Die Schnittpunkte von
mit Argwohn betrachtet wird, geschieht sie
im Ruhrgebiet seit Generationen.“
Natürlich zeigt Brönner in seinen Fotos
viel Vertrautes: den Taubenzüchter, den
Hundesalon, den türkischen Friseur. Berg-
männer, Fußballfans, Senioren im Park,
Kneipen. Spuren des Verfalls und des
trotzigen Weitermachens, aber auch reine
Idylle. Kontrastierend dazu hielt er Spuren
des Wandels fest, etwa eine Plasma-
Beschichtungsanlage in der Universität
Duisburg-Essen.
Verglichen mit Brönners Musik, durch
die häufig eine wohlige Sanftheit strömt,
erscheinen seine Fotografien stellenweise
geradezu schroff. Die Porträts von schwer
verletzten Kindern, die im Friedensdorf
International in Dinslaken medizinisch
behandelt werden, ehe sie in ihre Heimat-
länder zurückkehren, gehören zu den här-
testen und gleichzeitig be rührendsten
Aufnahmen.
Wie hat sich Brönners Blick auf diesen
Teil von Deutschland durch sein Fotopro-
jekt verändert? „Das Ruhrgebiet verkörpert
für mich ein gutes Stück gesamtdeutscher
Identität“, sagt Brönner, „gleichzeitig galt
es immer als Hoffnungsträger für Struk-
turwandel. Wer die Städte heute besucht,
ist vielleicht enttäuscht, wie die Spuren der
Vergangenheit an vielen Stellen noch im-
mer unübersehbar sind. Das Ende des Krie-
ges liegt keine 75 Jahre zurück, das ist nicht
viel für tief greifende Veränderungen.“
In Brönner reifte im Laufe seiner Arbeit
eine Erkenntnis: „Wandel geht nicht in
Nullkommanix. Es braucht noch viel mehr
Zeit, als wir ahnten. Die Menschen hier ha-
ben dafür immer ein bisschen was auf die
Nase gekriegt. Nach dem Motto: Bei euch
sieht es ja noch immer aus wie im Nach-
kriegsdeutschland. Aber ich kann den
Zustand einer Region nicht an der Existenz
von grauen Hausfassaden festmachen.
Wandel braucht Zeit und Geduld. Das
Ruhrgebiet jedenfalls ist auf dem Weg, und
die Mentalität der Menschen wirkt auf
mich geeigneter als in jeder anderen Re-
gion Deutschlands.“
Warum wird dann das Ruhrgebiet noch
immer mit dieser Ungeduld betrachtet?
„Weil unsere eigene Zeit auf Erden end-
lich ist“, sagt Brönner. „Aber schauen wir
uns die immer noch neuen Bundesländer
an. Der Reifeprozess dauert an, trotz aller
neuen Straßen und Fassaden in Dresden,
Leipzig und Erfurt. Ich glaube, Deutsch-
land muss generell mit sich selbst gedul-
diger werden.“ 2 Tobias Schmitz
Jazz und Fotografie faszinierten Brönner:
Kommunikation, Eindringlichkeit, Per-
sönlichkeit. Sein erstes Fotobuch, „Faces
of Talent“, erschien 2014. Das Projekt über
das Ruhrgebiet begann der 48-Jährige im
Februar 2018. Damals lebte er gerade in
Los Angeles. Von der Stadt der Engel nach
Gelsenkirchen – größer hätte der Kontrast
kaum sein können. „Ich war geschockt“,
erinnert sich Brönner, „ich dachte: Was soll
ich denn hier fotografieren? Hier stehen
ja nur inhomogene, hässliche Gebäude
rum. Das Wetter ist fürchterlich. Was soll
ich denn jetzt hier finden?“
Erst als er seinen Blick auf den Pott ra-
dikal veränderte, begann sich eine Bild-
sprache zu entwickeln, die frei und zusam-
menhängend zugleich wirkt. „Ab diesem
Zeitpunkt wurde ich vom Geisterfahrer
zum Mitfahrer“, sagt Brönner, „ich suchte
nicht aktiv nach etwas, sondern fotogra-
fierte, was mir begegnete.“ Der Schlüssel
lag in den Begegnungen mit Menschen. So
entstanden innerhalb eines Jahres knapp
10 000 Fotos. Sein Projekt nannte Brönner
schließlich „Melting Pott“, eine leichte
Veränderung des englischen Worts für
Schmelztiegel.
„Ich spürte bei der Arbeit eine gewisse
Demut“, erinnert sich Brönner, „weil ich be-
griff, welche besondere Mentalität die Men-
schen hier haben. Es gibt noch immer ein
starkes Gefühl für Gemeinschaft und Ver-
lässlichkeit. Niemand versucht hier, etwas
aus sich zu machen, was er in Wirklichkeit
nicht ist. Während Integration in anderen
Teilen des Landes noch immer etwas ist, das
TIEF IM WESTEN – WO DIE
SONNE VERSTAUBT ...
... ist es besser, viel besser, als man glaubt.
Straßenkreuzung in Bochum, der Heimatstadt
Herbert Grönemeyers
Ein Mann der Intuition: Jazztrompeter
und Fotograf Till Brönner
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