Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

lich insgesamt ca. 210 Mio. Euro steigen
auf ca. 247 Mio. Euro an.« Hinzu kamen
geplante Ausgaben von knapp 50 Millio-
nen Euro für externe Berater.
Zugleich hatte das Ministerium ein Pro-
blem auf der Einnahmenseite. Man hatte
mit der EU-Kommission ausgehandelt,
dass für schadstoffarme Autos eine gerin-
gere Maut fällig würde. Da sich immer
mehr Deutsche solche Pkw zulegten, ver-
merkten die Beamten in einer Vorlage:
»Insgesamt zeigt sich, dass die ISA-Einnah-
men sinken.« Womöglich wäre die Maut
am Ende als ein großes Minusgeschäft ge-
endet, das Ministerium allerdings beharrt
bis heute darauf, dass das Projekt mehr
Einnahmen als Ausgaben erzielt hätte.
Höchst optimistisch war man im Ver-
kehrsministerium auch, als am 18. Juni
2019 die Verkündung des EuGH-Urteils
anstand. Der Minister hatte die Presse in
einen Konferenzraum am Münchner Flug-
hafen eingeladen, er rechnete offenbar mit
einer positiven Nachricht aus Luxemburg.
Doch dann der Schock. Die Richter erklär-
ten das Vorhaben für rechtswidrig. EU-
Ausländer würden verbotenerweise be-
nachteiligt. Die Abgabe verstoße zudem
gegen die Grundsätze des freien Waren-
verkehrs und des freien Dienstleistungs-
verkehrs im EU-Binnenmarkt.
Im München reagierte Scheuer schmal-
lippig: »Die Pkw-Maut ist in dieser Form
vom Tisch«, sagte der Minister und nahm
den nächsten Flieger nach Berlin. Dort er-
wartete ihn im Ministerium eine Taskforce,
die er noch vom Flughafen aus zusammen-
getrommelt hatte. Sie bestand aus den
engsten Mitarbeitern im Hause. Auch »Mr.
Maut« Gerhard Schulz soll anwesend
gewesen sein, allerdings nicht mehr als


Staatssekretär, sondern als Manager. Er
war schon vor einigen Monaten von Scheu-
er belohnt worden, mit dem Geschäftsfüh-
rerposten bei Toll Collect, dem bundes -
eigenen Unternehmen für die Lkw-Maut.
Die Taskforce lotete die Möglichkeiten
aus: Konnte man die Maut nach den Vor-
gaben des EuGH ausrichten? Konnte das
Herzensprojekt der CSU noch gerettet
werden? Doch der Koalitionspartner SPD,
das war allen Beteiligten offenbar klar,
würde ein weiteres, europarechtskonfor-
mes Mautgesetz nicht mehr mitmachen.
In diesem Moment fasste Scheuer einen
folgenschweren Beschluss: kündigen – und
zwar so schnell wie möglich. Das offen-
kundige Ziel des Ministers: Mit allen Mit-
teln sollte verhindert werden, dass dem
Betreiber die erwarteten Gewinne für die
zwölf Jahre ausgezahlt werden müssen.

Am späten Abendhatten die Anwälte des
Ministeriums das Schreiben fertig. An ers-
ter Stelle standen nicht die »ordnungspoli-
tischen Gründe« für die Kündigung, wie
man nach dem Urteil der EuGH-Richter
hätte meinen können. Stattdessen führten
Scheuers Rechtsberater zuerst das Fehlen
einer »freigabefähigen Feinplanungsdoku-
mentation« an. Zwar lief die verlängerte
Frist noch drei Tage, doch bislang lagen die
geforderten Unterlagen nicht vor. Mit der
Expresskündigung wollte das Ministerium
dem Betreiberkonsortium wohl die Chance
nehmen, seiner Pflicht nachzukommen.
In die verzweifelte Stimmung mischte
sich Hoffnung. Im Ministerium ging man
davon aus, dass die Betreiberfirmen gegen
die Kündigung juristisch vorgehen würden.
Ein privates Schiedsgericht müsste dann,
wie in solchen Fällen üblich, die Frage klä-

ren, ob die Betreiber tatsächlich eine
»Schlechtleistung« abgegeben haben. Im
schlechtesten Fall, so rechneten Scheuers
Beamte dem Minister vor, kämen auf die
Steuerzahler Hunderte Millionen Euro
Schadensersatzzahlungen zu. Doch mit ei-
ner Entscheidung des Gerichts sei frühes-
tens in zwei, drei Jahren zu rechnen. Dann
werde Scheuer wohl längst kein Verkehrs-
minister mehr sein.
Die eigenen Unterlagen lassen bezwei-
feln, ob der Kündigungsgrund »Schlecht-
leistung« wirklich zutrifft. Noch am Nach-
mittag des EuGH-Urteils schickte der Pro-
jektleiter im Kraftfahrtbundesamt eine
E-Mail an seinen Kollegen bei Autoticket.
Es ging um ein Problem in der Feinplanung:
Die »vorformulierten Textbausteine sind
so in Ordnung und stimmen mit dem
überein, was in der Besprechung vom
13.06.2019 vereinbart wurde«, schrieb der
Beamte. Es klang so, als wäre man auf
einem guten Weg. Auch das externe Gut-
achten einer Aachener Prüffirma und eine
eigene Risikobewertung des Ministeriums
entlasten den Betreiber. Das Verkehrsminis -
terium verteidigt die Vertragskündigung
wegen angeblich schlechter Leistung der
Auftragnehmer auf Anfrage damit, dass das
Ministerium »zunächst im Interesse einer
erfolgreichen Projektentwicklung bemüht«
gewesen sei, »den Unzulänglichkeiten der
Auftragnehmer durch andere Maßnahmen
als durch Kündigungen zu begegnen«.
Letztlich habe aber keine »freigabefähige
Feinplanungsdokumentation« vorgelegen.
Am Tag nach seiner großen Niederlage
lud der Minister den Eventim-Chef Schu-
lenberg ins Ministerium ein, wie sein Res-
sort auf Anfrage bestätigte. Scheuer wollte
dem Unternehmer jenes Versprechen ab-
ringen, öffentlich zu erklären, dass Schu-
lenberg ebenfalls darauf gedrängt habe,
den Mautvertrag bis Ende 2018 zu un -
terschreiben. Es war wohl der Versuch
Scheuers, seine Verteidigungsstrategie für
das Mautdebakel zu unterfüttern.
Der Milliardär aus Bremen wich der un-
moralischen Aufforderung laut Insidern
elegant aus. Auf dem Weg ins Ministerium
muss er am benachbarten Naturkunde -
museum vorbeigekommen sein. Jedenfalls
soll er Scheuer auf seine Bitte hin geant-
wortet haben, dass er da eben beim Her-
laufen ein großes Plakat von Alexander
von Humboldt an dem Museum gesehen
habe. Eine der zentralen Erkenntnisse des
Naturforschers sei ja gewesen: »Alles
hängt mit allem zusammen.«
In diesem Moment muss der Minister
verstanden haben, dass der Milliardär von
nun an sein Gegner sein würde.
Sven Becker, Peter Müller,
Gerald Traufetter
Mail: [email protected],
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DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019 37

MUIR VIDLER

Eventim-Chef Schulenberg: Schadensersatzansprüche von Hunderten Millionen Euro?
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