Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

V


or 15 Jahren, im Frühsommer 2004,
bin ich durch Deutschland gereist:
von Buxtehude bei Hamburg bis
nach Basel, die Bundesstraße 3
hinunter, 879 Kilometer deutscher Alltag.
Damals arbeitete ich für das »Hamburger
Abendblatt«. Die B 3 führt quer durchs
Land, ich wollte wissen, was Deutschland
beschäftigt.
Gerhard Schröder war Bundeskanzler,
seine SPD lag bei 28 Prozent; Schröder
nannte 2004 »das Jahr der Innovation«.
Zehntausende demonstrierten gegen
das Hartz-IV-Gesetz, vor allem in Ost-
deutschland. Werder Bremen wurde
deutscher Fußballmeister, Griechenland
gewann die Europameisterschaft. Das
Unwort des Jahres 2004 lautete »Human -
kapital«.
Die Stationen hießen Schneverdingen
oder Butzbach, ich traf Tankstellenbesit-
zer und Winzer, Kioskbetreiber und Klein-
gewerbler; Zufallsbegegnungen. Alle rede-
ten damals über die Globalisierung, über
die Chancen, die sie bot, über das, was sie
bedrohte. Die EU begrüßte im Frühjahr
zehn neue Mitglieder. Die Konjunktur
schwächelte. In Deutschland, das war zu
spüren, ging etwas zu Ende. Wie das Neue
werden würde, wusste niemand.
In der Union machte Angela Merkel in
diesem Sommer 2004 deutlich, dass sie
das Land führen wollte. Im Jahr darauf
wählten die Deutschen sie zur Bundes-
kanzlerin, CDU/CSU 35,2 Prozent, SPD
34,2, Zahlen aus einer untergegangenen
Welt. Facebook, Twitter und überhaupt
Social Media gab es noch nicht oder hatte
noch keine Bedeutung, es gab weniger Ge-
reiztheit im Land, mehr Ruhe.
Heute, 15 Jahre später, sind die Volks-
parteien geschrumpft. Die SPD durchlei-
det die schwerste Krise ihrer langen Ge-
schichte. Die Grünen sind auf dem Weg
zur Volkspartei. Die AfD, 2013 gegründet,
ist zum Machtfaktor geworden.
Das Renteneintrittsalter liegt inzwi-
schen bei 67 Jahren, Schwule und Lesben
dürfen hei raten, die Bundesbürger lernten
Begriffe kennen wie Bankenkrise, Fu -
kushima, Brexit. 2015 kamen die Flücht-
linge, 2019 wurde der Klimawandel zum
gesellschaftlichen Großthema. Die Deut-
schen gewöhnten sich daran, dass die Re-
gierenden mitunter »auf Sicht« fuhren.
Wie geht es Deutschland heute?


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Gesellschaft

Blühende Kreisverkehre


BefindlichkeitenIm Jahr 2004, am Ende der Schröder-Kanzlerschaft, fuhr Barbara Hardinghaus
auf der B 3 durch Deutschland, um herauszufinden, was die Menschen bewegt. 15 Jahre

später, zum Ende der Ära Merkel, hat sie sich erneut auf den Weg gemacht. Wie geht’s, Deutschland?


Eine Deutschlandreise entlang der B 3

DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019
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