ästhetischer und vor allem hierarchischer Hinsicht. Die Betrachter waren
erschrocken und beruhigt zugleich: Das absolute Elend hatte offensichtlich
nichts mit ihrem eigenen Leben zu tun. Der Hochmut, der aus den Bildern
sprach, verneinte jede Möglichkeit einer menschlichen Gemeinsamkeit
zwischen Subjekt und Betrachter. So liefen Letztere nicht Gefahr, in dem
bodenlosen Abgrund echter Empathie zu versinken.
Und doch wussten die Experten der Nahrungsnothilfe, dass es hinter
dieser Hungersnot noch mehr gab. Auf jedes Kind, das in den Armen seiner
erschöpften Mutter starb, kamen zehn andere, die trotz des von Würmern
geblähten Bauches immer noch einen Lumpenball hin und her kickten. Auf
jeden Leichnam, der den Geiern überlassen wurde, kamen hundert Menschen,
die in geordneten Reihen auf ihre Lebensmittelration warteten. Auf jeden
Bauern, der sich resigniert in die Schlange stellte, kamen einige mehr, die
immer noch nach Wild jagten, nach einer Gelegenheitsarbeit suchten, mit
ihren Angehörigen in weniger trockene Gebiete zogen, die also versuchten,
die Familie mit ihren eigenen Ressourcen von Kraft und Intelligenz zu
ernähren. Doch auf diese Beispiele von Widerstandskraft und Erfindungsgeist
richteten die Fotografen und Kameramänner niemals ihre Objektive. Ihre
Bildauswahl präsentierte die Äthiopier als passive und wehrlose Opfer, denen
es an allem fehlte, vor allem auch an Willen. Weltweit wiederholten die
Fernsehnachrichten die immer gleiche Formel: »Eine Million Tote.« Ein
Anthropologe wandte ein, dass die reale Zahl – in der Größenordnung von
vielen Hunderttausend – doch grausam genug sei und nicht in theatralischer
Manier aufgerundet werden müsse, was viel eher der bulimischen Gier der
Öffentlichkeit nach den ganz großen Emotionen diente als dem Respekt vor
den Betroffenen. Man warf ihm Gefühllosigkeit vor. Sehr wenige erklärten,
dass es kein unglücklicher Zufall war, wenn der Hunger vor allem in den
Provinzen Shoa und Wollo wütete, den klassischen Gebieten des Widerstands
gegen den Derg; dass der Dreiklang Krieg – Hungersnot – Epidemie nicht
nur auf das lombardische siebzehnte Jahrhundert von Manzoni zutraf,
sondern auch auf heute und den Bruderkrieg zwischen Äthiopien und Eritrea.
Sehr wenige fragten sich, welche Länder im Westen es denn waren, die die
Waffen für diesen Krieg lieferten. Doch die tiefe Tragik in der Erzählung der
Medien wäre durch solche historischen und menschlichen Inhalte nur gestört
worden, die viel zu prosaisch waren. Man beschrieb Äthiopien lieber als ein
von einer unaufhaltsamen, eben »biblischen« Apokalypse der Natur
jeff_l
(Jeff_L)
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