Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Dutzende junge Mädchen aussteigen, alle schwarzweiß gekleidet. Sie sind
hübsch, aber keineswegs atemberaubend schön. Die Wachen am Eingang der
Libyschen Akademie nehmen ihnen Taschen, Brillen, Handys und alle
spitzen Gegenstände ab: Broschen, Nieten, Ohrstecker. Eine junge Frau mit
großen grünen, tiefliegenden Augen und der Stirn eines Delfins will die
Perlen in ihren Ohrläppchen nicht hergeben. Sie sind ein Geschenk ihrer
Oma, sagt sie, wenn sie darauf bestehen, dass sie sie ablegt, geht sie wieder.
Überrascht von so viel Vehemenz, geben die Wachen nach.
Ilaria in ihrem Panda verfolgt die Szene aus wenigen Metern Entfernung.
Wie so häufig, wenn sie Ausschnitte unbekannter Leben erblickt, fragt sie
sich: ›Wie fühlt es sich wohl an, diese junge Frau zu sein?‹ Und wieder hat
sie das klare Bewusstsein, mit dem sie heute aufgewacht ist: Auch wenn sie
ihre engste Freundin wäre und sie sich gegenseitig jeden Gedanken
anvertrauen würden, könnte sie es nicht wissen.


Piero Casatis Handy klingelt, und wie bei jedem Anruf seit gestern Abend
hofft er, dass es Ilaria ist. Er hat sich nicht einmal über den barschen Tonfall
der SMS geärgert; wie auch sollte er sich anmaßen, gegen das »ich bin nicht
allein« zu protestieren? Doch auf dem Display steht der Name eines
Bekannten, der viel näher als mancher Minister am Magischen Zirkel dran
ist – so nennt Piero die engsten Vertrauten seines Premiers, zu denen er nicht
gehört und nie gehören wird. Er ruft immer nur in mehr oder minder großen
Notfällen an. Pieros »Hallo« ist ebenso lahm wie seine Stimmung. Der Mann
beginnt, ihm eine Geschichte zu erzählen.
Als er geendet hat, ist Pieros erste Reaktion: »Das ist doch ein Witz.«
Denn es kann nicht wirklich passieren, dass eine marokkanische
Prostituierte erwischt wird, wie sie ihre Mitbewohnerin und Kollegin beklaut
und deshalb wegen Diebstahls eingesperrt wird, um dann – anstatt der
Fürsorge übergeben zu werden – nach einem Telefonanruf beim
Polizeipräsidenten durch den italienischen Ministerpräsidenten Silvio
Berlusconi höchstpersönlich freigelassen zu werden.
Doch der Gesprächspartner wehrt ab, nein, das sei kein Witz.
Einen sehr langen Moment schweigt Piero entgeistert.
»Wieso die Fürsorge?«
»Weil das Mädchen zu der fraglichen Zeit noch minderjährig war.«
Piero schlägt sich die Hand vors Gesicht.

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