Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Während Otello alle Ambitionen fahren ließ und Attilio die seinen neu
definierte, verfasste Marschall Rodolfo Graziani seine Verteidigungsschrift
für den Prozess, in dem er auf der Anklagebank saß. Sie war gespickt mit
Angriffen auf General Badoglio, den er »einen falschen Propheten« nannte.
Von der Niederlage bei Caporetto bis zum Zusammenbruch am 8. September
war er verantwortlich für die schlimmsten Desaster der Nation. Ein Mann,
der das Recht verwirkt hatte, sich Offizier zu nennen, als er das italienische
Volk in Ruin und Chaos zurückließ. Wenn aber der König statt Badoglio ihn,
Graziani, gerufen hätte, wäre Italien nicht in zwei Teile geteilt worden, die
Deutschen hätten nicht in Rom gestoppt, die nationale Ehre wäre nicht
verloren gewesen. Niemals hätte er seine Soldaten und das Vaterland mit
diesem entwürdigenden Waffenstillstand verraten.
Graziani hob den Stift vom Papier und legte sich die Hand in die Seite,
mit verzerrtem Gesicht. Nicht etwa aus Abscheu gegenüber seinem ewigen
Rivalen, sondern wegen der Gallensteine, die ihm vor Schmerz den Atem
raubten. Plötzliche Stiche, wenn auch nie so schlimm wie die, die ihm seine
Feinde hinterrücks versetzten. Und damit meinte er nicht die gegnerischen
Heere.
Es war ein römischer Oktobertag von besonderem Glanz, der Himmel
klar wie in den Bergen, die Sonne sanft. Das herabgefallene Laub erfüllte die
Luft mit einem Hauch Vergänglichkeit. Doch der Marschall, in seinem
Zimmer des Militärkrankenhauses Celio, fror wie immer. Seitdem ihm im
Gefängnis auf Procida der Blinddarm fast ohne Betäubungsmittel entfernt
worden war von einem Chirurgen, dem nur der Vielfachmörder Totonno ’o
Sparatore assistiert hatte, war seine Gesundheit ruiniert. Auch die
zweihundertsiebenundvierzig Granatsplitter meldeten sich nun wieder, jeder
einzelne, die er seit dem Attentat in Addis Abeba mit sich herumtrug. Mit
achtundsechzig Jahren war sein äußeres Erscheinungsbild noch stattlich.
Doch sein Inneres war ein Schlachtfeld unter feindlichem Beschuss aus dem
Hinterhalt. Wie auch immer diese Farce von Prozess enden würde, das
Schicksal würde ihm keinen Soldatentod gönnen.
Seit über einem Jahr steckte er nun schon in diesem Militärkrankenhaus,
fernab von seinen geliebten Höhenzügen bei Arcinazzo. Als Zeichen des
Respekts für seinen Rang und seine Vergangenheit war es ihm erlaubt, sich
morgens von seinem Burschen Embailé Teclehaimanot helfen zu lassen. In
den letzten fünfzehn Jahren hatte nicht einmal Ines, die ihn doch sehr liebte,

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