Marella war Mailänderin und sollte es immer bleiben. Ihre Mutter war bei
ihrer Geburt gestorben und sie wegen der Versetzung ihres Vaters nach Rom
gekommen, der einen Tag nach der Befreiung einen Herzinfarkt erlitten hatte
und binnen drei Stunden gestorben war. Als verwaiste Tochter eines
ehemaligen Staatsangestellten war sie als Archivarin im Kolonialministerium
eingestellt worden und hatte dort Attilio kennengelernt. Sie hatte nie mehr in
Mailand gelebt, weil ihr Elternhaus von einer Brandbombe zerstört worden
war und sie keine Verwandtschaft hatte, trotzdem hatte sie nicht aufgehört,
von »meiner Stadt« zu sprechen. Die Navigli, das Lichterspektakel zum Fest
der Unbefleckten Empfängnis, das Weiß des Domes, der Nebel gemischt mit
dem Rauch aus den Heizöfen – es war das verlorene Paradies, dem sie
nachweinte wie Eva nach ihrer Vertreibung.
Als sie das erste Mal in einer Trattoria in Trastevere zusammen zu Mittag
aßen, hatte sie mit der wegwerfenden Geste einer Diva gesagt: »Ich bin allein
auf der Welt.« Attilio war klar gewesen, dass ihre Einsamkeit nicht die der
weißen Telefone war, sondern echt, fast zu echt. Und da Marella nicht nur
wohlgeformt war, sondern auch seine Witze verstand, begann er sie zu
mögen.
Gemeinsam gründeten sie ein Zuhause in einem Wohngebäude aus den
letzten Jahren des Faschismus, bei dem niemand auf die Idee kam, die großen
marmornen Liktorenbündel über dem Eingang zu entfernen. Ans Heiraten
dachte Attilio nicht. »Die Kirche toleriert nicht einen Hauch von Freiheit«,
erklärte er, sobald Marella das Thema anschnitt, in aller Vorsicht wie eine
Katze, die sich an eine gefährliche Beute anschleicht. Und seine Freiheit war
ihm tatsächlich so teuer, dass er in den nächsten zwei Jahren zweimal mit
Marella ins Stadtviertel Garbatella fuhr, wo sie sich breitbeinig auf einen
Küchentisch legte und eine nach Gemüsesuppe stinkende Frau ihr mit einem
Haken das Innere aus dem Bauch zog. Attilio mochte es nicht, dass sie litt,
schon gar nicht wegen ihm. In all den Jahrzehnten ihres Zusammenlebens
waren dies die einzigen Gelegenheiten, in denen er vor Marella, wenngleich
mit leicht abgewandtem Blick, die Worte aussprach: »Ich liebe dich.«
Einen Abend pro Woche ging Attilio in ein Souterrain zum Pokerspiel,
dem neuen Spiel, das die amerikanischen Soldaten mitgebracht hatten. Der
Ort wurde von Beamten, Lehrern und Bankangestellten frequentiert, die
Einsätze waren bescheiden. Er verlor oder gewann nie viel, doch er spielte
auch nicht wegen des Geldes. Manchmal ritzte er eine Kerbe in die Karten,
jeff_l
(Jeff_L)
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