Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

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2010


Wo sucht man einen afrikanischen Jungen, der eines Abends auf deinem
Treppenabsatz steht, behauptet, er wäre dein Neffe, und ein paar Tage später
spurlos verschwindet? Ilaria und Attilio wohnen auf dem Esquilin, also
suchen sie ihn dort, obwohl sie wissen, wie zwecklos das ist. Noch
zweckloser wäre es allerdings, sein Verschwinden bei den Ordnungskräften
zu melden, von denen er sich ja möglichst fernhält. Aber suchen müssen sie
ihn. Zumindest findet Ilaria das, und ihr junger Halbbruder auch, wie sie
überrascht und dankbar feststellt, war er ihr doch so klar und kalt
vorgekommen wie der Polarstern. Und nun stapft er mit ihr durch die
Augustsonne, die nicht mehr den Asphalt aufweicht wie Ende Juli, aber die
Passanten immer noch den schützenden Schatten suchen lässt, um keinen
Sonnenstich zu bekommen.
Wie erwartet, finden sie ihn nicht. Der Junge ist nicht auf dem Esquilin-
Markt, zwischen den Ständen mit Halal-Fleisch, Gewürzen und Salaten aus
Roms Umland, beliebtes Fotomotiv der Touristen. Und auch nicht auf der
Via Principe Amedeo, wo auf den Bürgersteigen die Decken voll mit
Schuhen, Brillen, angeschlagenen Tellern, alten Koffern, geklauten iPhones
und allen anderen feilgebotenen Armseligkeiten der Afrikaner, Roma und
Maghrebiner liegen, denen sich seit einiger Zeit – wie Ilaria bemerkt hat –
auch mehr als ein Italiener zugesellt hat. Er ist nicht auf der Piazza Vittorio,
auf den Bänken rund um den großen Platz in der Mitte oder bei den vielen
jungen Männern, die Meere und Wüsten überwunden haben, um dann hier
auf den Abzugsschächten der Metro zu stranden, häufig mit einer Flasche in
der Hand und der Frage im Kopf, wozu das alles gut war, all ihr Mut und
Durchhaltevermögen. Oder die auf der Wiese liegen, um ein bisschen Schlaf
zu finden, für den die Nacht zu gefährlich ist. Und auch nicht in den Parks
der Umgebung: Colle Oppio, Piazza Dante, Piazza Fanti. Dort treffen sie
dafür auf Lina, vor dem Eingang des umbertinischen Römischen Aquariums.
Sie steht mitten im Park, im vollen Glanz der Wächterin mit signalgelbem

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