Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

von den plattnasigsten Zügen bis hin zu dem Antlitz einer griechischen
Statue, in einem steten Crescendo der Blässe und damit verbunden – so hieß
es in den Beitexten – der »Schönheit und Zivilisation«. Von den Baria und
den Kumana über die Galla und die Sidamo bis zu den Amharen kam man
schließlich zur Perfektion nach italienischem Vorbild. Auch diese letzte
Maske hatte die Lider geschlossen wie eine Totenmaske, so dass die Farbe
der Augen nicht zu sehen war. Doch die hohe Stirn, die gerade Nase und die
klar geformten Lippen waren die einer ganz bestimmten Person: Attilio
Profeti.
Die Ausstellungskuratoren hatten sich die Frage gestellt, ob man
Eingeborene in Fleisch und Blut vorführen durfte, nach guter alter Tradition
der Weltausstellungen. Die einen meinten, man solle Primitive und Italiener
lieber nur dort gemeinsam zeigen, wo die Beziehung der Unterordnung klar
war, wie in den Kolonien. Der Duce persönlich aber ließ mitteilen, er hielte
die Präsenz der neuen Untertanen für notwendig, um die ganze Weitläufigkeit
des wiederauferstandenen Reiches zu illustrieren. Also wurde eine große
Anzahl von Frauen und Jungen aus Massaua, Addis Abeba und Bengasi nach
Neapel gebracht, um den Pavillon »Afrikanisches Leben« zu bevölkern. Ein
Leben jedoch, aus dem alle erwachsenen Männer getilgt waren, weil man ihre
Begegnung in Fleisch und Blut – vor allem Fleisch – mit den italischen
Besucherinnen für zu riskant hielt.
Attilio fiel bei diesen Darstellern die Junge Beduinin ein. Er war noch ein
Kind gewesen, als sein Vater ihn einmal zur Internationalen Mustermesse
nach Mailand mitgenommen hatte und das pausbäckige libysche Mädchen
ihm ihre kleinen Zähne gezeigt hatte; nie hatte er sie vergessen. Irgendetwas
in seiner unteren Körperhälfte regte sich bis heute, wenn er daran
zurückdachte. Vor ihr Gesicht aber hatten sich längst Abebas Züge
geschoben, und anstelle der eng unter der Brust anliegenden Tunika der
Frauen aus der Kyrenaika stellte er sie sich in dem weiten weißen Gewand
der amharischen Frauen vor. Die Junge Beduinin seiner Kindheitserinnerung
verschmolz mit der Madama, die in Addis Abeba geblieben war. In seiner
Phantasie sah er sie während der Kaffeezeremonie lächelnd auf einem
niedrigen Hocker ihm gegenübersitzen, vor sich den Kohleofen, die Bohnen
zum Rösten und die Kaffeemühle. Am Tag der Einweihung jedoch, zwischen
dem sprudelnden Brunnen, der metallenen Weltkarte mit den markierten
kolonialen Besitztümern, den zehn Meter hohen Liktorenbündeln und den

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