Der Einberufungsgbefehl wurde gleichzeitig mit Otellos Bescheid im Büro
des Bahnhofsvorstehers an Gleis 1 des Bahnhofs Lugo zugestellt. Als der
Postbote ihn übergab, spürte Ernani Profeti sein Herz ins Bodenlose sinken,
hinab in die schwarze Erde, wo die Toten begraben liegen. Eine Kälte ergriff
ihn, die nichts Menschliches hatte. Es war das Eis des Atheisten, der sieht,
wie die ihm einzig vorstellbare Art des ewigen Lebens, nämlich das im
Fleisch von eigenem Fleisch und Blut, von einer Granate oder einem
Maschinengewehrfeuer dahingerafft wird. Und auch Viola sagte sich beim
Anblick der zwei grauen Papprechtecke: »Nicht alle beide!« Und zweifelte
keinen Moment lang, wer zu retten war.
Sie zog ihr Kirchkleid an, schlicht und sauber. Sie verwarf den
Glockenhut mit den Stoffrosen und setzte sich einen grauen Filz mit mittlerer
Krempe auf den Kopf. Sie wusste, wie schön das ihre hellen Augen zur
Geltung brachte, ohne jede Spur von Frivolität, die nicht zu dem Ernst des
Moments gepasst hätte. Im Einberufungsbüro in der Casa del Fascio lehnten
Dutzende Bauern, Hilfsarbeiter, Straßenhändler und Burschen an der Wand
und warteten. Alle starrten sie auf die einzige Frau, die nicht mehr jung, aber
immer noch hübsch war, als ginge von ihr eine unerwartete Segnung aus.
Niemand beschwerte sich, als Viola schnellen Schrittes an allen vorbeiging
und das Zimmer des Verbindungsoffiziers betrat.
Sie wusste genau, was sie sagen musste. Nicht nur, dass ihr Sohn Profeti
Attilio seinen Wohnsitz nicht in Lugo hatte, da er der Außenstelle des
Kolonialministeriums in Rom unterstellt war. Vor allem aber war er bereits
einmal eingezogen worden: Als Schwarzhemd der Freiwilligen-Miliz für die
Nationale Sicherheit war er Rückkehrer aus dem Siegreichen
Abessinienkrieg, wo er zum Scharführer befördert Aufgaben der
Kolonialpolizei übernommen hatte. Bei dem zugestellten Einberufungsbefehl,
schloss Viola, musste es sich also gewiss um einen Irrtum handeln.
Der Verbindungsoffizier hatte keine Eile, sich den üblen Ausdünstungen
der nächsten schlecht gewaschenen, rachitischen Achtzehnjährigen
auszusetzen, in deren Hände man gerade das Schicksal des
wiederauferstandenen Imperiums legte. Er ließ Viola zu Ende reden, ohne sie
zu unterbrechen oder zur Eile anzuhalten. Schließlich sicherte er ihr zu, dass
die nötigen Vorkehrungen getroffen würden, um den Irrtum zu korrigieren.
Lugo telegrafierte nach Rom, wo sich herausstellte, dass Attilio noch in
jeff_l
(Jeff_L)
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