Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Es war seine Schuld, dass er hier war, und der Junge wusste das. Er hatte
einen einfachen Wunsch verspürt: laufen. Sich wenigstens für ein paar
Minuten wieder als der zu fühlen, der mit seinem Cousin lief. Aber tagsüber
war das zu gefährlich, mit der ganzen Polizei auf den Straßen, also hatte er
sich gesagt: »Ich laufe noch vor Sonnenaufgang und nur einmal um den
Block.«
Er hatte Attilios Wohnung verlassen, nachdem er den Schlüssel aus dem
Schloss gezogen hatte, die einsetzende Morgendämmerung brachte eine
frische Brise. Er freute sich auf die leeren Bürgersteige, die geparkten Autos
am Straßenrand, die unsichtbaren Städter in ihren Wohnungen – und er, allein
und frei zu laufen wie damals, in einer anderen Zeit und vor allem an einem
völlig anderen Ort, beide so fern, dass niemand mehr wusste, ob es sie
überhaupt gegeben hatte, und die er trotzdem Zuhause nannte. Er war die
Treppen hinuntergelaufen, diese langen Treppen – sechster Stock, fünfter
Stock, vierter Stock, sprang Stufe für Stufe hinab, in den Beinen schon die
fröhliche Leichtigkeit, dritter Stock, zweiter Stock und dann standen im
ersten Stock die Polizisten. Sie versiegelten die Tür des illegalen
Bangladescher-Schlafsaals. Sie schauten auf, wer da um diese Uhrzeit so eilig
die Treppe herunterkommt. Und als sie seine Hautfarbe sahen, fragten sie
nach seinem Ausweis.
Es klingt wie eine der Scherzgeschichten, die er per E-Mail an seine
Mutter schreibt, um sie ein wenig aufzuheitern. Wie erstaunlich das Leben in
Italien ist, aber lustig. Die sie beruhigen sollen, dass alles in Ordnung ist.
Auf dem Polizeipräsidium haben sie seine zehn Finger nacheinander in
den digitalen Fingerabdruckscanner gelegt – seine Fingerabdrücke wurden
mittlerweile so oft genommen, dass er sich den Namen der Maschine gemerkt
hat. Er kann sogar erkennen, welche Polizeibeamten wenig Erfahrung damit
haben und die elektronische Aufnahme versauen, weil sie das Fingerglied
falsch nach rechts und links drehen. In dem Büro lief in voller Lautstärke ein
Radio, niemand hörte zu, niemand schaltete es aus, alle brüllten über das
Gespräch der Fußballreporter zum Thema internationaler Transfermarkt
hinweg. Als der Polizist versuchte, die Datei an die Zentrale zu übermitteln,
kam keine Verbindung zustande. Er fluchte, wirkte aber nicht weiter
überrascht – das passierte wohl nicht zum ersten Mal. Der Junge schöpfte
Hoffnung, dass seine Fingerabdrücke nicht bis in die Archivzentrale gelangen

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