Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Alle dachten, mit dem ersten Kind würde alles besser werden, doch ihr
Bauch blieb weiterhin flach. Jeden Monat, wenn ihr das Blut die Beine
hinabrann, überzog die Schwiegermutter sie mit Tritten und Flüchen. Als
endlich die Scheidung beschlossen wurde, waren alle erleichtert, auch Abeba.
Das Fetha Negest, das Gesetz des Königs, war auf ihrer Seite. Nach
abessinischem Recht erhielt eine Frau, die nach dem kompletten Ritus
geheiratet hatte, bei der Scheidung ihre gesamte Mitgift zurück. Am Tag, als
der shumagalle das Urteil verkündete, bereitete Abeba wie gewohnt im Haus
ihrer Schwiegereltern das Essen. Sie war so dankbar, dass sie sie frei ließen.
Zum ersten und letzten Mal war die Zärtlichkeit ehrlich, mit der sie ein Stück
gut getränktes kitfo in den Mund ihres nun Ex-Mannes schob.
Ihr Bruder Bekele holte sie ab, um sie zu ihrem Vater zurückzubringen.
Den ganzen Weg über machte er sich lustig über sie. »Jetzt kann ich dich
wieder schlagen, wie früher als Kind.«
Sie lachte. »Lieber von Verwandten bespeichelt, als von Fremden
geschmeichelt.«
Und als sie zu Hause in die Arme ihrer Großmutter sank und ihren Duft
einatmete, wusste sie, wie viel Wahrheit in dem Sprichwort steckte: Die
wahre Familie einer Frau ist die, in der sie geboren wird, nicht die
angeheiratete, denn Blut ist stärker als alles andere. Doch nun waren die
Italiener da.
Bekeles Frau hatte zu ihm gesagt: »Möchtest du etwa noch einmal
geboren werden? Wenn du nicht in den Kampf ziehst, ist mein Bauch für
dich verriegelt!« Er und sein Vater schlossen sich der Armee von Ras
Mulugeta an. Der alte Vater starb an den Ufern des Tekeze-Flusses. Als
Bekele viele Monate später ins Dorf zurückkehrte, war er nur noch Haut und
Knochen, und seine Augen waren starr und ohne Lidschlag.
»Sag uns, wie es im Krieg war«, fragten ihn alle, doch sie erfuhren nur,
dass er bei Enderta gekämpft hatte, zu Füßen eines Amba mit Namen
Aradam. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah Abeba bei ihrem
Lieblingsbruder, der sonst so beredt und wortgewandt war, wie eine
Erzählung, die nicht hinauswollte, ihn verschloss. Als er erfuhr, dass der
Negus Haile Selassie Addis Abeba verlassen hatte und ins Exil gegangen
war, bestrich sich Bekele das Gesicht mit Erde und weinte einen ganzen Tag.
Einige Zeit später trat der Resident der örtlichen talian sein Amt an. Die
Hände und das Gesicht des Schwarzhemdes waren so weiß wie eine Zwiebel,

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