Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

geschworen hatte, sprach er nicht laut aus. Doch er ließ sie im Geiste kreisen
wie drei geheime Rubine in der geschlossenen Faust: »Alle, außer mir.«
Von da an hatte Attilio ganz miese Laune. Zu Hause hatte er Sie
hasserfüllt angesehen, als Sie ihm sagte, er solle sich bei den Pralinen
zurückhalten. Und nachdem er Sie am Telefon mit dem Cousin aus Neapel
hatte reden hören, der in ihrem Alter, also unverschämt jung war, hatte er
gezischt: »Deshalb willst du also, dass ich sterbe.«
Anita hatte das schnurlose Telefon in die Basis zurückgestellt, sich ruhig
zu ihm umgedreht und den Blick in ihn gebohrt wie eine Reißzwecke in die
Wand: »Das will ich mal nicht gehört haben.«
»Ich weiß doch, dass du nur darauf wartest!«
Ihre Lippen verzogen sich zu einem halben Lächeln, das aber nicht bis in
die Augen reichte.
»Liebling. Du bist müde. Ich gehe jetzt in die Küche und koche.«
Attilio hatte den restlichen Vormittag im Sessel verbracht, im Bauch ein
nagendes Gefühl, das umso bitterer wurde, je weniger er sich an seinen
Auslöser erinnern konnte. Kurz darauf, als Anita in der Küche lautstark die
grüne Soße für das Rindfleisch pürierte, hatte er sich wieder Mantel und Hut
übergeworfen – auf die Schuhe verzichtete er, zu kompliziert – und war in
Pantoffeln mit den Autoschlüsseln in der Hand nach draußen gelaufen.
Nun lag der Fluss, den er auf gut Glück überquert hatte, in seinem
Rücken. Er stand auf einem Platz mit einem Stück Grünfläche in der Mitte.
Eine kaputte Schaukel pendelte an einer Kette herab, direkt daneben eine aus
ihrer Verankerung gerissene Bank – das hatte wohl mal ein Aufenthaltsort für
Kinder und Senioren sein sollen. Das wuchernde Grün war allerdings mit
einem Gitter umzäunt. Zwischen dem Gitter und dem Rand des Bürgersteigs
stand eine ganze Reihe von Plakataufstellern mit dem Aufdruck WAHLEN
2008.
Der Wahlkampf dieses Frühjahrs näherte sich dem Ende. Seit Wochen
wurden mehrmals am Tag neue Plakate geklebt, immer eins über das andere.
Die Schichten aus Papier und Kleister auf den Aufstellern hatten sich zu einer
Art Basrelief aus Pappmaché verbunden. Oben Bruchstücke lachender
Gesichter: Männer mittleren Alters, Frauen mit perfektem Teint, die eher
nach Film als nach Politik aussahen, Regierende mit bestimmtem und
wachem Blick. Aufschriften und Hintergründe waren durchweg in
schreienden Primärfarben gehalten. Nur ein Plakat war anders, und vor ihm

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