tropfnassen Polesine, deren Armut nach Schimmel stank und dem sauren
Atem des Skorbuts. Manchmal musste Ernani eingreifen, weil ein Passagier
fragte: »Wann fährt der Zug?« oder »Was kostet das?«, und der junge
Fahrkartenverkäufer hinter seinem Tresen mit dem Fahrkartenblock in der
Hand innehielt und mit erschrockener Miene vor sich hinstarrte, als habe er
statt einer harmlosen Frage sein Todesurteil gehört. Und in manchen Nächten
wurde die schlammige Stille der Umgebung von Rizzatello Beniaminos
schrillen Schreien zerrissen, die aus seiner kargen Kammer unter dem Dach
des Eisenbahnerhauses nach draußen drangen. Im Erdgeschoss, in der kleinen
Wohnung des verheirateten Bahnangestellten, fuhr Ernani im Bett hoch. Im
Nebel des Halbschlafs begriff er erst nach einer Weile, dass nicht er
geschrien hatte, sondern der Fahrkartenverkäufer unter dem Dach, und er
verspürte Scham und Erleichterung. Diese beiden Empfindungen wechselten
sich ständig ab in Ernani Profeti: immer wenn ein Kindheitsfreund mit einem
Bein weniger nach Hause kam oder eine Cousine plötzlich Witwe war –
Scham und Erleichterung, Scham und Erleichterung. Sie gruben sich in seine
Seele ein, wie Sturzregen und Trockenheit Rillen in die Bahnschwellen
gruben.
Zu Beginn des Jahrhunderts hatte sein Vater, der Toleriertnicht, kurz vor
seinem Tod seine unzweifelhafte Hinwendung zu den neuen Klangwelten
bewiesen, indem er Ernani dem Lohengrin hatte lauschen lassen, in einer
Loge des Theaters Rossini. Und eben dort hatte Ernani sich zwei Jahre später
an der sanften Wildheit begeistert, mit der Toscanini die Aida dirigierte. Und
wie auch er seinen Vornamen einem Werk des Maestros aus Busseto
verdankte, wollte er es bei seinem Erstgeborenen halten. Und nannte ihn
Otello.
Seine Frau, Polesana aus Porto Viro, war die innig verliebte Braut – so
erzählte man sich – eines jungen Grundschullehrers gewesen. Direkt nach
ihrer Verlobung wurde er zum Unterrichten in ein ungesundes Dorf im
Podelta geschickt und verstarb wenige Wochen vor der Hochzeit am
Quartanafieber. Ernani lernte Viola sechs Wochen später kennen, als er
Schaffner auf dem Streckenabschnitt Padua – Rovigo wurde. Er war der
Ehemann zweiter Wahl.
Um seine Braut dies vergessen zu machen, hob Ernani vor ihrer Hochzeit
all die bescheidenen Ersparnisse eines stellvertretenden Bahnhofsvorstehers
ab und fuhr nach Bologna, um einen edlen Ehering zu erstehen. Nur ein
jeff_l
(Jeff_L)
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