Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

Attilio schrie, wurde Otello still. Wenn Attilio den Witzbold spielte, wurde
Otello ernst. Wenn Attilio lächelte, wurde Otello von niemandem mehr
beachtet.
Diese Wirkung hatte der junge Attilio Profeti auf jedermann. Einmal, als
er noch sehr klein war, war er durch den Personaleingang in das
Schalterhäuschen geschlüpft, und bevor der Fahrkartenverkäufer ihn
wegschicken konnte, saß er in seinen Armen. Rizzatello hatte ihn, nach
einem kurzen Moment des Zögerns, fest umarmt, während er mit einer Hand
weiter die Papierstreifen abriss und das Geld kassierte. Ganz verzaubert von
dem hübschen Kind schnitten die Passagiere auf der anderen Seite der
Scheibe tausend Grimassen, die Attilio mit der Großmut eines Würdenträgers
billigte. Der aus der Armee entlassene Infanterist empfand bei dem Gewicht
des kleinen Körpers in seinen Armen einen Frieden, wie er ihn seit Jahren
nicht mehr verspürt hatte.
Attilio war nicht – noch nicht – so groß wie Otello, er war auch nicht
stärker oder intelligenter, doch wer sie sah, hielt sie für Zwillinge, oder es
hieß, Attilio sei der ältere. Sie ähnelten sich in Größe und Aussehen, doch
Otello hatte nicht seinen Glanz. Er war wie die Zinnkopie einer Goldvase und
war sich dessen, zu seinem Unglück, bewusst.
Nur im ersten Jahr der Grundschule konnte er für einige Stunden des
Tages die Existenz des jüngeren Bruders vergessen. Er verließ das Haus mit
seinem Ledertornister und im Stand des Schülers, was die unsichere Sorge
halbwegs aufwog, die Mutter den ganzen Vormittag mit Attilio allein zu
lassen. In der Schule war er glücklich. Er lernte gern, und vor allem kannten
weder seine Mitschüler noch seine Lehrerin den jüngeren Bruder. Zum ersten
Mal seitdem er elf Monate alt gewesen war, wurde Otello ohne den Vergleich
beurteilt, einfach nur für das, was er war. Das schenkte ihm einige
Erinnerungen, die er viele Jahre später während der texanischen
Gefangenschaft wieder ausgraben und auskosten würde wie eine
Edelsteinmine: das Lächeln, das die Lehrerin ihm schenkte, als er zum ersten
Mal – Ausgezeichnet! Exakt in die Zeilen! – seinen Namen in Schreibschrift
schrieb; ein Bonbon, das die Pultnachbarin ihm schenkte; der Stolz, mit dem
er die Bestnote in Rechnen auf dem Zeugnis nach Hause trug.
Allerdings beging er den großen Fehler, Attilio seine Hefte zu zeigen. Der
kleine Bruder zeichnete sorgfältig die Striche und Zeichen ab, lernte schnell
Schreiben und kam, als er sechs wurde, nicht in die erste Klasse, sondern

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