Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

die Dankbarkeit gegenüber Italien, das sich so um ihre Erziehung bemüht.«
Während Viola die Erklärung vorlas, hob das Mädchen den Blick von ihrer
Arbeit, als nehme sie zum ersten Mal die Leute um sich herum wahr, die sie
als Exponat betrachteten. Vor ihr stand der kleine Attilio und starrte sie mit
großen blauen Augen an. Der Mund des Mädchens, der viel fleischiger war,
als er es je bei einer Italienerin gesehen hatte, öffnete sich und offenbarte
Zähne, die so weiß waren wie die Uniform der Askaris am Eingang. Die
Junge Beduinin schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
Zurück zu Hause musste Attilio noch tagelang an die Arme des Mädchens
denken, an ihre Augen, die Zähne hinter den vollen Lippen. Noch immer
hatte er ihren Geruch in der Nase. Er stellte sich vor, wie er als Erwachsener
die Saat des Guten über das Meer bringen würde, wie eine wunderbare
Blume daraus erwuchs, die er dem Mädchen schenken würde.


Kindheit und Jugend der Brüder Profeti waren schwarz wie ihr Fez und die
Hemden, blau wie ihre Halstücher, grün-weiß-rot wie alles andere. Von den
Versammlungen war Otello gelangweilt, er verbrachte seine freie Zeit lieber
bei seinem Vater am Bahnhof. Blockkasten, Telegraf, Bedientafel,
Lagerhalle, Lampenkammer: Nichts interessierte ihn mehr als die Abläufe
und die Logistik eines kleinen Bahnhofs. Schweigend und aufmerksam, ohne
Beachtung einzufordern, beobachtete er jede von Ernanis erfahrenen Gesten,
mit denen er die Fahne schwenkte oder die Laterne bei Nebel, sich die rote
Kappe mit den zwei Flügeln aus Goldfäden über dem Schirm zurechtrückte.
Bei der Arbeit richtete Ernani niemals das Wort an ihn, und doch spürte
Otello, dass es dort, in dem Raum zwischen dem Leib des Vaters und dem
Stahl der Eisenbahn, auch für ihn einen Platz gab. Attilio brachte den Zügen
und ihrer Funktionsweise nicht das geringste Interesse entgegen. Am
Bahnhof hielt er sich höchstens in der Wartehalle auf, wo die Reisenden,
vornehmlich die weiblichen, ihm beim Anblick seiner runden Augen und
dem frechen Haarschopf zulächelten und Orangenstücke oder Bonbons
schenkten. Bei den Versammlungen der faschistischen Jugendorganisation
»Figli della Lupa« stellten die Lehrer stets Attilio in die erste Reihe, weil
neben ihm jedermann besser aussah.
Ernani war inzwischen der Faschistischen Partei beigetreten, weder
besonders stolz noch widerstrebend. Das Parteibuch bestand aus einem
gefalteten Stück festem Papier in gedeckten Farben. Es war ein Jahr lang

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