Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

nicht alles. Was nicht schlecht ist für ein Kind, im Gegenteil. Wenn man
noch jung ist, kann es eine schwere Last sein, zu viel von seinen Eltern zu
wissen. Ich war aber schon erwachsen, als eines Nachmittags Senay vor mir
stand – das Geschenk.«
Durch den Hof tönt eine Stimme, und Ilaria sieht auf. Der junge Mann am
Fenster gegenüber redet laut mit seinem Computerbildschirm. Er lacht,
gestikuliert wild. Skype, das Bindegewebe menschlicher Beziehungen in
Zeiten der Migration. Wer weiß, welchem Abonnenten er das Breitband
angezapft hat, um die Gesichter seiner Lieben in der Ferne zu sehen, die er
vielleicht nie mehr in den Arm nehmen wird. Sie fragt sich, ob es vielleicht
ihres ist. Ihr Internet ist seit Tagen sehr langsam.
Sie liest noch einmal das Geschriebene. Hält die Hände ein paar
Zentimeter über der Tastatur, wie ein Pianist, der nach einem Orchester-
Intermezzo wieder einsetzt. Schließlich tippt sie weiter, im ruhigen Fluss
ohne Unterbrechungen und ohne dem intensiven Duft von Persécution
Banglà Beachtung zu schenken.
»Man sagt, wenn ein Mensch stirbt, ist es, als würde eine ganze
Bibliothek in Flammen aufgehen. Ich weiß nun, dass ich nur wenige der
geheimen Bücher meines Vaters gelesen habe, bevor das Feuer sie
verschlang, und wahrscheinlich auch nicht die wichtigsten. Es gibt noch mehr
davon, sehr viele, die ich nicht einmal in der Hand gehalten habe, deren Titel
auf dem Buchrücken ich nicht gelesen habe. Vielleicht speist sich daraus das
Geheimnis des Nächsten: Niemand kann die ganze Bibliothek eines anderen
lesen, auch nicht von dem, den er liebt. Ich vermute, nicht einmal er selbst,
Attilio Profeti, hat sie alle gelesen. Enfer nannte sich der Teil mancher
Bibliotheken, wo die moralisch verwerflichen Bücher aufbewahrt wurden.
Vielleicht gibt es in jeder menschlichen Bibliothek eine solche Hölle mit
mehr oder weniger hohen Regalen, in denen all das steht, was unerträglich zu
lesen wäre, aber auch nicht verbrannt werden kann – oder noch nicht. Ich
glaube, mein Vater hatte wie alle Menschen, die einen Krieg erlebt haben,
ganze Räume mit Büchern in sich, in die er nie wieder hineingeschaut hat.
Und wir Nachgeborenen, die diese Kriege nicht erlebt haben, hätten sie,
selbst wenn wir sie gelesen hätten, nicht verstehen können. Denn sie sind in
einer Sprache geschrieben, die uns fremd ist, ein Vehikel weit
zurückliegender Erlebnisse.
Eine harte und einsame Einsicht ist es, dass man niemanden wirklich

Free download pdf