Alle ausser mir

(Jeff_L) #1

»Ja, Papà?«
»Hör zu. Ist es lange her, dass wir uns gesehen haben?«
»Nein ... nicht sehr lange. Letzten Sommer habe ich dich besucht. Vor
weniger als einem Jahr.«
»Aha. Dann kommst du diesen Sommer wieder?«
»Das schaffe ich wahrscheinlich nicht, Papà. Vielleicht nächstes Jahr.
Aber du kannst mich ja besuchen kommen. Es ist schön in Playa del Carmen.
Und Meer gibt es auch.«
»In Ordnung, ich werde es Anita sagen. Sie reist sehr gerne.« »Bestens,
ich erwarte euch. Ich muss jetzt los. Ciao.«
»Ciao, ciao ...«
»Ach, Papà: Ich liebe dich.«
Doch die letzten Worte gingen in einem scharfen, hohen Pfeifen unter.
Der Hörer schien nicht richtig eingehängt worden zu sein.
Das Taxi war gerade erst losgefahren, als Federico eine SMS von Emilio
erreichte: DU BIST SO SCHEISSE WIE IMMER. VIELLEICHT LEBT
PAPÀ IN EINEM JAHR NICHT MEHR. NUR WEIL ER MIT 93 NICHT
MEHR WÜTEND WIRD.
Federico tippte zurück: GIB IHM DEINE SMS ZU LESEN, DANN
WIRD ER WÜTEND. ABER AUF DICH. Als er auf »Senden« drückte,
schaltete der Fahrer gerade das Radio an. Die Fußballspiele wurden
angepfiffen.
Das Essen zu Federicos Ehren ohne Federico verzehrte Attilio Profeti mit
mechanischer Gier und gesenktem Kopf. Ihm fielen fast die Augen zu, und er
sagte keinen Ton, völlig erschöpft von seinem Narrenstreich. Anita redete die
ganze Zeit in den schillerndsten Farben über die Rezepte der Speisen, die
locker für die doppelte Anzahl von Gästen gereicht hätten. Ilaria, Emilio und
Attilio junior hörten schweigend zu. Niemand hatte Lust, das flüchtige
Auftauchen – besser gesagt die Stimme in der Gegensprechanlage – des
älteren Bruders zu kommentieren. Doch andere Themen wollten ihnen nicht
einfallen, da sie allesamt an ihn dachten.
›Wie lange war er jetzt in Italien? Ob er Mamma besucht hat?‹ Ilaria
konnte ihre Mutter nicht fragen. Denn im Zweifelsfall hätte sie Marella damit
erst offenbart, dass ihr Ältester in Rom gewesen war, ohne sich bei ihr zu
melden. Und die Mutter würde niemals glauben, dass auch Ilaria ihn nicht
gesehen hatte, mit all den stummen, aber umso schmerzhafteren Klagen, die

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