12 MEINUNG & DEBATTE Freitag, 20. September 2019
INGMAR BJÖRN NOLTING
FOTO-TABLEAU
Hinter Fassaden 5/
Studenten undAuszubildende wohnen meist nur
kurze Zeit im Iduna-Zentrum in Göttingen. Sobald
sie sich eine bessereWohnung leistenkönnen, ziehen
sie weg.Während ihres Studiums lebtenJulia und
Florian (beide Namen geändert) dort in einer
3-Zimmer-Wohnung. Das Foto, das derFotograf
Ingmar Björn Nolting aufgenommen hat, zeigt die
beiden beimAuszug. Der Komplex gilt als sozialer
Brennpunkt undSymbol für das anonyme Leben in
der Grossstadt.Für seinLangzeitprojekt «Hinter
Fassaden» hat Nolting einige Bewohner in ihrem
Alltag begleitet. Er sprach mit Flüchtlingen,
Sozialhilfeempfängern, Rentnern undJunkies, nur
die vielenRoma-Familien, die dort auch leben,
wollten für sich bleiben.Wer es darauf anlegt, kann
in dem Haus vollends abtauchen: «Mankommtrein,
betritt einen der vierAufzüge, vermeidet Blickkon-
takt, macht dieWohnungstür hinter sich zu und ist
verschwunden», beschrieb Nolting dem «Göttinger
Tageblatt» seine Eindrücke. Die Kehrseite eines
solchen Lebens ist die Gleichgültigkeit.Fast täglich
warfen andere Mieter Müll auf dasVordach von
Julias und FloriansWohnung. Mit ihrenFreunden
konnte sie dafürPartys bis in den frühen Morgen
feiern, wieJulia erzählte:«Wir können so laut sein,
wie wir wollen, das interessiert hier sowieso
niemanden.»Wenn jeder nur für sich bleibt,
kümmert sich auch niemand um denanderen.
Wergehen kann, geht.Werbleibt,resigniert.
Wozu auch noch kämpfen, wenn so vieleTräume
verloren scheinen?
Die kleine Weltverbesserung im Alltag
Freundlichkeit ist eine politische Tugend
Gastkommentar
von ROBERT MISIK
MeinFreund Christian Semler, der früh verstor-
bene deutscheJournalist, schrieb einmal den Satz:
«Freundlichkeit ist eine Haltung, sie ist lernbar.»
Semler schrieb diesen Satz in einem Essay über
Bertolt Brecht, durch dessenWerk sich dasThema
«Freundlichkeit» ja tatsächlich wie einroter Fa-
den gezogen hat. «Er ist ein Zentralbegriff für den
Dichter», schrieb Semler. «Wo Freundlichkeit nicht
geübt werden kann, wegen der Härte der Klas-
sen-Auseinandersetzungen, leben wir in finsteren
Zeiten. Freundlichkeitist zuverlässiger als Liebe.
Gegenüber der Liebe,besonders in ihrer über-
schwänglichenForm, ist nach Brecht Misstrauen
angebracht.»
Immer wieder finden wir bei Bertolt Brecht
Sätze wie:«Ach wir / Die wir den Boden bereiten
wollten fürFreundlichkeit / Konnten selber nicht
freundlich sein.»Walter Benjamin formulierte dar-
über in seinen Brecht-Interpretationen:«Wer das
Harte zum Unterliegen bringen will, der sollkeine
Gelegenheit zumFreundlichsein vorbeigehen las-
sen.» Nun schrieb Brecht all das unter dem Ein-
druck – einerseits – eines Kapitalismus, in dem die
Klassenkämpfe noch viel härter tobten, in dem auf
Streikende geschossen wurde,indem es auchkei-
nen Sozialstaat gab und in dem,wer unten war, ein-
fach um das nackte Überleben kämpfen musste;
und er schrieb – andererseits – später als seltsa-
mer Kommunist unter dem Eindruck vonFaschis-
mus und Nationalsozialismus auf der einen Seite
und Stalinismus auf der anderen Seite, einer welt-
historischenKonstellation,in d er man schwer sau-
ber bleibenkonnte. Die Frage, ob Brecht selbst die
freundlichstePerson auf Erden war, tut hier wenig
zur Sache. DieThematik ist,auch wenn wir in gänz-
lich anderen Zeiten leben,keineswegs unaktuell.
Dimensiondes Politischen
Die Freundlichkeit ist eine persönlicheTugend,
wenn man so will, eine individuelle Charakter-
eigenschaft, scheinbar weit unterhalb des eigent-
lichenPolitischen, des Öffentlichen.Aber sie hat
immer doch auch eine Dimension desPolitischen,
des Allgemeinen: Die Freundlichkeit ist mehr als
nur eine individuelle, geradezu intime Charakter-
eigenschaft des Einzelnen.Sie hat immer auch poli-
tischen Charakter.
Werdie Welt zu einem besseren, faireren Platz
machen will, kann nicht gleichzeitig unfreundlich
sein, andere herablassend behandeln, beispiels-
weise, oder als Mittel zu seinen Zwecken.Oder bes-
ser: Er kann es schon, aber er wird seineWerte in
seinemAllta gsleben damit dementieren undkon-
terkarieren. Und umgekehrt:Wer zu jedem Mann
und jederFrau, ohne Ansehen derPerson, freund-
lich ist,der behandelt jeden aufAugenhöhe und mit
Respekt.Freundlichkeit ist eine egalitäreTugend.
Aber wir haben auch gesellschaftliche Bedingun-
gen geschaffen, die uns dieFreundlichkeit abge-
wöhnen, die es schwermachen, freundlich zu sein.
In Beruf und gesellschaftlichem Leben:Wir nei-
gen dazu, andere instrumentell zu behandeln. Oft
sind wir freundlich, wenn uns das nützt. Und sind
bei anderen, die uns nicht nützlich seinkönnen,
schon weniger freundlich.Wer mit offenenAugen
durch dieWelt geht, weiss: Das kommt nicht sel-
ten vor.Wer von niedrigeremRang zu sein scheint,
wird abgefertigt,unfreundlich undrespektlos. Und
wir wissen umgekehrt, dass Freundlichkeit oftnur
eine Maske dessen ist, der seine eigenen Zwecke
verfolgt, und begegnen daher selbst derFreundlich-
keit mit einem Generalverdacht – wenn schon in
Management-Ratgebern gelehrt wird,dass man mit
Freundlichkeit mehr aus seinen Mitarbeitern her-
auspressen kann.
Wo alles ökonomisiert wird, ist auch die Begeg-
nung mit anderen eine stetige Gewinn-und-Ver-
lust-Rechnung. Freundlichkeit setzt auchAufmerk-
sam keit voraus.Aber tausend Dingekonkurrieren
um unsereAufmerksamkeit, und dieAufmerksam-
keit fürkonkrete Menschen fällt dem nicht selten
zum Opfer.Auch die Digitalisierung unserer Be-
gegnungen scheint derFreundlichkeit nicht gut zu
tun. Oder haben Sie schon einmal einen freund-
lichen Dialog unterPostern gesehen? Oder auch
dieses schnelle, oberflächliche Beurteilen von Men-
schen,das wir uns angewöhnt haben,dieses Bewer-
ten – und damit auch gelegentliche Abwerten von
Leuten.
Erfolgsmodell desEgomanen
Gewiss gehört dieFreundlichkeit zu den gesell-
schaftlichanerkanntenWerten. Aber wir haben
auch gleichzeitig kulturelle Skripts imKopf, die
die Unfreundlichkeit feiern: den Egomanen, der
alles niederreisst,sein Ding macht,nicht nach links
und nicht nachrechts schaut. Der Autorität aus-
strahlt, nichtWeichheit.Das Erfolgsmodell des
Egomanen ist gewissermassen, nichts als seine
eigene Selbstverwirklichung zu verfolgen und sich
so zueinem besonderen, einzigartigen Subjekt zu
machen. Er ist ja heute so etwas wieeine gesell-
schaftliche Leitfigur, die dieWelt vorwärtsbringt
und deswegen angeblich jene Kraft, die stets das
Böse will und stets das Gute schafft. Eine Kraft,
die den persönlichenVorteil sucht und den allge-
meinen Nutzen produziert.
Von diesen ostentativen Ego-Figuren geht ja
eine gehörigeFaszination aus. Es gibt aber auch
eine andere Egozentrik, die heute weit verbreitet,
aber kulturell wenigerrepräsentiert ist, die Ego-
zentrik in denVerlierermilieus,diese resignative
Individualisierung, die in dem oft gehörten Satz
zumAusdruckkommt:«Ich kümmere mich nur um
mich selbst.»
Demgegenüber istFreundlichkeit eine unzeit-
gemässe Haltung angesichts der Unmenschlichkeit
der Gegenwart. Sie ist, um das aus Brechts Sicht zu
formulieren, geradezu subversiv, fast eine Antizi-
pation einerWelt ohne Kälte, zugleich aber schier
unlebbar, wo uns doch in einerKonkurrenzgesell-
schaft das Gutsein nicht nur an denRand des Ab-
grunds bringt,sondern uns hinabstürzen kann.Man
muss das nicht mit solch pathetischen, gigantoma-
nischenVokabeln beschreiben.Wenn Gesellschaf-
ten zerreissen, Menschen neben- und gegeneinan-
der leben, die Lebenswelten in Submilieus zerfal-
len und eine Kampfesstimmung Einzug hält, dann
sind Gesten derFreundlichkeit die kleinenWeltver-
besserungen im Alltag. Dann ist es ein politischer
Akt, jeden als Gleichen zu behandeln; denPas-
santen nicht als «des MenschenWolf» oder allen-
falls als Mittel zum Zweck zu sehen, sondern als
Teil eines«Wir». Den Fremden, sei es im engeren
oder im weniger engen Sinn, also den blossen Un-
bekannten oder auch den kulturell Fremden.
In der Schweiz sorgte ja unlängst einWahlplakat
der weitrechts stehendenSVP fürAufsehen, auf
dem ein vonWürmern zerfressener Apfel zu sehen
ist, umrahmt von derAufschrift, dass «Linke und
Nette» die Schweiz zerstören.Allgemein wurde der
Sk andal darin gesehen, dass politischeKonkurren-
ten als Gewürm dargestellt werden.Was Beobach-
ter aus derFerne aber noch mehr erstaunte, war,
dass der Begriff «nett» schon als politische Kampf-
vokabel taugte,so wie «Gutmensch». Die Freund-
lichkeit selbst wird da zum Charakterfehler ge-
macht, wer zu anderen «nett» ist, zumWeichei er-
klärt , dem die nötige Härte im Leben fehlt.Absurd?
Vielleicht nicht wirklich. Es ist wie im Liebesleben:
Wer will schon eine schmutzige, heisseAffäre mit
jemandem, der bloss «nett» ist?
Seltsamerweise gibt es in der globalen Geistes-
welt über allesTheorien, aber es gibtkeine wirk-
liche Theorie derFreundlichkeit. Ihr noch am nächs-
ten kommt die Höflichkeitstheorie, zu deren basa-
lenAnnahmen etwa zählt,dassKulturen dann mehr
Herzlichkeit und Zugewandtheit aufweisen,wenn es
historisch gesehen mehr Platzgab –dann mussman
weniger darauf achten, seine Mitmenschen nicht zu
stören. In Grossstädten ist man eher auf Anonymi-
tät bedacht, man kann hier auch nicht zu allen nett
sein – wohingegen man im amerikanischenWesten
nur selten jemandem begegnete und dann gleich so
tat,als wäre derjenige der besteFreund.BeimDalai
Lama im Himalaja war das vielleichtähnlich. Für
Aristoteles war dieFreundlichkeit die Mitte zwi-
schen Gefallsucht und Streitsucht. Aber gut, der
lebte inmitten anderer Probleme.
Eine ArtArbeit amSelbst
Aber zurück zum Eingangssatz: «Freundlichkeit
ist eine Haltung. Sie ist lernbar.» Sie ist ebenkein
innerer Charakterzug.Wir können zu einer gewis-
sen Arroganz neigen; oder auch nur zur Schüch-
ternheit; wir können Eigenbrötler seinund instink-
tiv darauf Bedacht nehmen,keine Gespräche ent-
stehen zu lassen und Unbekannte auf Abstand zu
halten.In diesem Fall ist derVersuch, freundlicher
zu sein, eine Art Arbeit am Selbst. Selbstbeobach-
tung, Selbstveränderung.Aber nicht um der Selbst-
optimierung willen,jedenfalls, wenn wir Brecht fol-
gen. Sondern eben, weil dieFreundlichkeit eine
politischeTugend ist.Menschen als Befehlsempfän-
ger zu behandeln, sie spüren zu lassen, dassihnen
wenigerRespekt zukommt, ist diePathologie von
Gesellschaften, die zerreissen.
Freundlichkeit ist so gesehen ein erster Akt des
Widerstands, aber vielleicht sogar mehr als das: des-
sen notwendige Bedingung. Sie ist lernbar.
Robert Misik,Jahrgang1966,lebtalsJournalistundpoli-
tischerSchriftstellerinWien.Zuletzt ist 2019 bei Picus er-
schienen : «Herrschaft der Niedertracht: Warumwir so
nicht regiert werd enwoll en!»
Wir neigen dazu,
andere instrumentell
zu behandeln.
Oft sind wir freundlich,
wenn uns das nützt.