Neue Zürcher Zeitung - 20.09.2019

(Ron) #1

16 SCHWEIZ Freitag, 20. September 2019


Das Quartier


der Kontraste


Rotlicht, Drogen – und viel Luxus: Im Genfer Les


Pâquis tr effen die verschiedensten Kulturen und


Gesellschaf tsschichten aufeinander. Doch das Viertel


ändert sein Gesicht.Von Antonio Fumagalli (Text)


und Karin Hofer (Bilder)


DieAutorin kam ohne Umschweife auf
den Punkt:«Die dreckigste Strasse von
Genf», hiess es kürzlich in fetten Let-
tern auf derTitelseite der Genfer Gra-
tiszeitung «GHI». Illustriert war der
Artikel mit einemFoto, auf dem ein
paar herumlungerndePersonen sowie
vor allem viel Abfall zu sehen waren.
Darunter stand, dass die Anwohner
und dieMitarbeiter der städtischen
Dienste «die Schnauze nun gestrichen
voll» hätten.
Diese «dreckigste» Strasse, sie liegt
mitten im Genfer Quartier LesPâquis.
Geht man unter derWoche und tags-
über hindurch, liegen weder Bierdosen
noch übermässig viele Zigarettenstum-
mel am Boden. Für die städtischen
Putzequipen gehört dasViertel zu den
Schwerpunktgebieten, zumeist haben
sie dieLage im Griff. In den frühen
Morgenstunden desWochenendes, ins-
besonderenach lauen Sommernächten,
kann es in den Strassen aber schon ein-
mal so aussehen, wie man es im inter-
national für seine Sauberkeit bekann-
tenLand sonst selten sieht. Nicht ohne
Grund: In der aussergewöhnlichsten
Stadt der Schweiz ist dasPâquis das aus-
sergewöhnlichste Quartier.

«Allô,ça va?», fragt derDealer


Nirgendwo sonst treffen hierzulande
innerhalb weniger Quadratkilometer
derart vieleWeltenaufeinander – und
das im buchstäblichen Sinn. Satte 61
Prozent aller Bewohner desViertels
habenkeinen SchweizerPass, was so-
gar für das multikulturelle Genf deut-

lich über demDurchschnitt liegt. Mehr
noch als ein Schmelztiegel der Nationa-
litäten ist dasPâquis aber der Ort, wo
verschiedenste Gesellschaftsschichten
zusammentreffen: BeimTemple ver-
suchen Drogendealer mit der Gruss-
formel «Allô, çava?» anKundschaft zu
kommen, rund um dieRue de Berne
stehen leichtbekleideteFrauen auf der
Strasse (und teilweise hinter Schaufens-
tern), auf der Place de la Navigation
trinken Hipster ihre Ingwerlimonade
im Strassencafé, «chez Leyla»rauchen
akkurat frisierte SecondosWasserpfei-
fen, und im«TroisRois» diskutieren
Rentner über die Leistung des loka-
lenFussballklubs.
Genau so, wie es sich auch an der
ZürcherLangstrasse, derBaslerReb-
gasse oder der LuzernerBaselstrasse ab-
spielenkönnte. Im Gegensatz zu ande-
ren Städtenkommen imPâquis aber
zweiKomponenten hinzu:ein über-
regional bekanntes und in der Bevöl-
kerung überaus beliebtes Seebad, die
Bains desPâquis.Und der pureLuxus.
Besonders im Sommer begegnet man
Autos mit hohem sechsstelligem Neu-
wert, deren Nummernschilder in einem
Staat auf der arabischen Halbinsel ein-
gelöst worden sind – sie wurden per
Flugzeug eingeflogen.
Genf ist ohnehin die Schweizer Stadt
mit der höchsten Anzahl vonFünf-
sternehotels. Die Seepromenade, die das
Pâquis genauso abgrenzt wie derBahn-
hof, ist dabei der unbestrittene Hotspot
der Schönen undReichen. Nicht weni-
ger als sechsFünfsternehotelsreihen
sich dort wie bei einerPerlenkette an-

einander und zeigen das andere Ge-
sicht derViertels, das so mondän ist
wie verrucht.

Ärger überImmobilienpreise


«Unsere Gästekommen aus den ver-
schiedenstenLändern derWelt und sind
–umein vereinfachtes Beispiel zu neh-
men – schon durch Rio deJaneiro, New
York oderParis spaziert.Dakann ich
Ihnen versichern, dass sie dasPâquis
nicht sonderlich schockiert», sagt Thierry
Lavalley, Direktor des Grand Hôtel
Kempinski und Präsident der Genfer
Hotelier-Vereinigung. Zudem orientier-
ten sich dieTouristen in erster Linie zur
Seepromenade und weniger zurBahn-
hofsgegend hin.
Lavalley betont, dass dasViertel
immer schon belebt und voller Gegen-
sätze gewesen sei. ImVergleich zu ande-
ren Städten halte sich die Prostitution
aber in Grenzen und im Kampf gegen
den Drogenhandel hätten die Behörden
«grosseFortschritte» gemacht, sagtLa-
valley und verweist auf die – allerdings
umstrittene –Videoüberwachung gewis-
ser Strassenabschnitte. Ob seineKunden
vom Angebot desRotlichtviertels pro-
fitierten, gehe ihn nichts an. Die omni-
präsenten24-Stunden-Shops richteten
sich jedenfalls kaum auf dieTouristen
aus, sagt er. «Unsere Gäste kriegen auch
drei Uhr nachts etwas zu essen, wenn sie
dies wünschen– dafür müssen sie nicht
auf die Strasse gehen.»
Einen Steinwurf vonden Luxushotels
entfernt liegt dieRue Pellegrino-Rossi.
Das Gebäude mit der Hausnummer 16

An der Seepromenade reiht sichein Fünfsternehotel ans andere.

Die ProstitutiongehörtseitJahrzehnten zum Strassenbild.


ImPâquis ist Genf nochstärker multikulturell geprägt als sonst.


Manche «dépanneurs» verkaufen neben Getränken undTabak auchFrüchte.

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