Freitag, 20. September 2019 WIRTSCHAFT 31
Woher kommt das Fleisch wirklich?
Die Feuer im Amazonasgebiet werden für den grössten Rindfleischexporteur Lateinamerikas zu einem Risiko
Minerva will mehr Steaks nach
Europa verkaufen und bemüht
sich um hohe Standards. Doch
seit Brandrodungen für mehr
Weideland dieWelt bewegen,
hat derKonzern ein Problem.
Denn die Herkunftskontrollen
in Brasilien sind lückenhaft.
ALEXANDER BUSCH,SÃO PAULO
Leonardo Alencar arbeitet bei Minerva
alskommerzieller Direktor einer der
grössten Schlachthausketten derWelt.
Doch derJob des 38-Jährigengleicht
dem eines Investmentbankers. Der
Nutztierwirt mussDutzende Märkte
im Blick haben, in jedem gelten andere
Regeln und Preise: In Brasilien istTafel-
spitz dreimal so teuer wieFilet, weil es
eine beliebte Grillspezialität ist. Die
Argentinier dagegen legen am liebs-
ten Short Ribs auf den Grill. Alencar
importiert deswegen argentinischen
Tafelspitz nach Brasilien und brasilia-
nische Rippenstücke nach Argentinien.
Därme und Mägen sind in China be-
gehrt, in Europa kaum.
Die Preisereagieren aufFeiertage,
Jahreszeiten oder Seuchen. In den USA
geht die Grillsaison zu Ende, in Israel
beginnt bald das Neujahrsfest, und in
Chinagrassiert die Schweinepest. Nicht
nur der Dollar schwankt, auch die Mais-
notierungen wirkensichauf den Preis
von Rindfleisch aus,weil in den USA
damit Rinder gefüttert werden. Skan-
dale oder der Druck von Lobbyskön-
nen Märkte über Nacht verschliessen.
«Es geht darum, weltweiteTr ends und
Preisentwicklungen möglichst frühzeitig
zuerkennen», sagt Alencar. Es gewinne
jenes Unternehmen, welches die Infor-
mationen aus den Märkten am schnells-
ten verarbeiten und auf veränderte
Situationenreagierenkönne.
Diese Flexibilität ist jetzt wieder ge-
fragt: Brasilien steht wegen seines bren-
nenden Amazonas-Regenwaldes welt-
weit am Pranger.Unter demrechts-
populistischenPräsidentenJair Bolso-
naro haben die Brandrodungen deutlich
zugenommen. Bolsonaro hat seit sei-
nem Amtsantritt imJanuar die institu-
tionellen undrechtlichenKontroll- und
Schutzmechanismen für denRegenwald,
die Indigenenreservate und Naturschutz-
gebiete systematisch aufgelöst.Das ist
einRückschritt.
EU-Abkommenauf der Kippe
Seit 2004 war es Brasilien gelungen, die
Brände im Amazonasgebiet jedesJahr
zureduzieren. Deswegenkonnte das
Land auch das Klimaschutzabkommen
vonParis unterschreiben. Darin ver-
pflichtet es sich, seineKohlendioxid-
emissionen bis 2030 um fast die Hälfte
zu verringern. Doch die ehrgeizige Ziel-
vorgabe wird Brasilien nun kaum ein-
haltenkönnen. «Eineinhalb Dekaden
langkonnten wir dieRegenwaldvernich-
tungJahr fürJahr herunterschrauben»,
sagtAdalbertoVeríssimo von der Um-
weltorganisationImazon.Doch jetzt sei
die Zerstörung derWälder wieder aus-
serKontrolle geraten. Brasilien ist er-
neut der weltweite Umwelt-Paria, wie
zuletzt vor zweieinhalbJahrzehnten.
Vor allem in Europa steigt die Kri-
tik an Bolsonaros Amazonas-Politik.
Die Europäer drohen, das erst vor zwei
Monaten ausgehandelte EU-Merco-
sur-Abkommen nicht zuratifizieren. Im
Mercosur sind neben Brasilien Argen-
tinien, Uruguay undParaguay versam-
melt – alles grosse Rindfleischexpor-
teure.Mit dem Abkommen dürfen die
Südamerikaner künftig biszu 99 000
Tonnen Rindfleisch jährlich mit nur
7, 5% Zoll einführen. Mehr als 40% wer-
den dann aus Brasilienkommen.Kein
Zufall, dass allen voranFrankreich und
Irland das Abkommen aufkündigen
wollen. Die Lobbys der Rinderzüchter
dort gelten als besonders stark.
Bis jetzt kann Minerva denbereits
vergangenes Jahr gesunkenen Ab-
satz brasilianischen Rindfleischs in der
EU ausgleichen.Das Unternehmen
exportiert weiterhin Steaks aus seinen
Schlachthäusern in Argentinien und
Uruguay nach Europa. 20 000 Rinder
werden in den 20 Schlachthöfen der
Gruppe in Südamerika täglich verar-
beitet.Auch inParaguay undKolumbien
besitzt derKonzern Schlachthäuser.
HöherePreise in Europa
Bis jetzt gehennur etwa 13% derAus-
fuhren nach Europa, derKontinent ver-
sorgt sich in erster Linie selbst mit Rind-
fleisch. Nur 4% der weltweiten Pro-
duktion werden importiert. Dennoch
ist Europa ein strategischer Markt für
Minerva, denn dort lassen sich höhere
Preise erzielen. Es müssen aber auch
höhereStandards erfüllt werden.Aus
Sicht der importierendenLänder indes
ist der Preis nicht entscheidend.Wichti-
ger sind Kriterien wieTierwohl,Rück-
verfolgbarkeit der Herkunft und vor
allem: der Schutz desRegenwalds.
Minerva hat seit langem in den
Marktzugang nach Europainvestiert. Im
agrarischenWesten des Gliedstaates São
Paulo, 800 Kilometer von derKüste ent-
fernt, unterhält derKonzern eine Mast-
farm und ein Schlachthaus, die für den
Export nach Europa zertifiziertsind.
Dort werden die Kälber rund 100Tage
gemästet.Viermal amTag fährt einLast-
wagen im Schritttempo dieFressrinne
entlang, um sie mit derFuttermischung
zu füllen.Alles, was bei denFarmen in
der Umgebung übrig bleibt, wird ver-
wendet: Soja- undErdnussschrot, Baum-
wollsamen,Pellets aus Orangenschalen,
fermentierte Silage aus Zuckerrohrsten-
geln.250 00 Rinder werden hier jährlich
gemästet – nur für Europa.
Im Schlachthaus inJosé Bonifácio
werden dieTiere dann verarbeitet: Die
mit Scan-Codes beklebten Rinderhälf-
ten bekommen ein blaues C aufgedruckt,
wenn sie das Schlachthaus in Richtung
Kühlzelleverlassen. Als Steaks, Filets
oder Burger verarbeitet, werden sie zum
Verschiffungshafen Santos transportiert
für dieReise nach Norden.
Bis Minerva das C auf die Rinder-
hälften stempelnkonnte, musste das
UnternehmeneinDutzend Qualitäts-
und Gütesiegel für seine Verarbei-
tungskette einsammeln: Die nordame-
rikanischePAACO(Professional Ani-
malAuditor Certification Organiza-
tion) prüft denKonzern inFragen des
Tierwohls. DieWeltbank, die über die
Finanztochter IFC am Fleischkonzern
beteiligt ist, klopft diesen ab auf nach-
haltige Unternehmensführung und sau-
bere Geschäftspraktiken. Mit Green-
peace wiederum hat Minerva 20 09 erst-
mals ein freiwilligesAbkommenabge-
schlossen.Darin verpflichtet sich das
Unternehmen,keine Rinder zu kaufen,
di e von abgebrannten Amazonasgebie-
ten stammen oder aus indigenen Schutz-
gebieten.Und da liegt das Problem: Im
Amazonas-Regenwaldund in seinen
Randgebieten weiden 40% der brasilia-
nischen Rinder. Dort gelten strengeRe-
geln für die Branche. Die Rinderzüchter
müssen 80% ihrer Flächen alsRegen-
wald stehen lassen. Doch der Staat ist
weit weg, niemandkontrolliert das –
unter Bolsonaro sowieso nicht mehr.
Greenpeace zeigtWirkung
Als sich Minervadazu verpflichtete, auf
die Herkunft seiner Rinder zu achten,
zogen auch die anderen grossen Fleisch-
konzerne Brasiliens Marfrig und JBS
mit.Das allerdings nicht freiwillig. In
Greenpeace-Kampagnen wie «Slaught-
ering the Amazon» (2009) oder «Gril-
lingawaythe Amazon» (2015) standen
Brasiliens Fleischkonzerne,die ihreVer-
arbeitungskette zu nachlässig geprüft
hatten, plötzlich im Zentrum der Kritik.
Abnehmer wie Gucci, Nike oderAdidas
verpflichteten sich,kein Leder mehr von
Regenwaldflächen zu verarbeiten.
Das Abkommen hielt acht Jahre.
Dann wurde der brasilianischeKonzern
JBS, dergrösste Fleischproduzent der
Welt, von der Umweltbehörde Ibama
erwischt. 20 17 wurden in zwei seiner
SchlachthäuserRinder verarbeitet, die
vonFarmen kamen, denen die Umwelt-
behörde zuvor illegale Brandrodungen
nachgewiesen hatte. Greenpeace kün-
digte das Abkommen mit den Fleisch-
konzernen auf,wegen «fehlender Glaub-
würdigkeit in derVerarbeitungskette».
Unterstützungvon Big Data
Minervaführt dieVerpflichtungen des
Abkommens mit Greenpeace jetzt in
Eigenregie weiter. DerKonzern will
nicht riskieren, Rinder zu verarbeiten,
die illegal aufRegenwaldflächen gewei-
det haben. Statt sich auf den staatlicher-
hobenen Herkunftsnachweis zuverlas-
sen, nutztdas Unternehmen Niceplanet,
einen privaten Dienst, um das Risiko
kalkulierbar zu machen.Das ist ein Big-
Data-Verarbeiter, der eine Unmenge
unterschiedlicher Informationen nutzt.
Die Angaben derFarmen in den Katas-
terämtern werden mit denjenigen der
Steuer- und Umweltbehörden verknüpft
und mit jenen der Agrarbanken und Ge-
nossenschaften abgeglichen. Gleichzeitig
verfolgt Niceplanet die aktuellen Brand-
rodungen beim brasilianischen Institut
fürWeltraumforschung: Eswird beob-
achtet, ob sichFarmen verändern, ob sie
an Schutzgebieteangrenzen und obin
der UmgebungVegetation abgefackelt
wurde. DerDienststellt sogarVerbin-
dungen zwischenVerwandten her:Wenn
ein Rinderzüchter auf den ersten Blick
«sauber» arbeitet, aber bei seinen beiden
Brüdern in den vergangenenJahren Rin-
derherden in Schutzgebietenregistriert
wurden,erhöht Niceplanet denWert der
Risikoeinschätzung.
Bei Minerva inJosé Bonifáciokon-
trollieren die Einkäufer in den gekühl-
ten Büros direkt neben dem Schlacht-
hausamComputer das Risikoeines
Züchters.Ein Okayfür einen Kaufauf-
trag für eine Herde gibt es nur, wenn die
Farm mit einem niedrigen Risiko einge-
stuft wird. Etwa im GliedstaatParáam
Rande des Amazonasgebietes, wo in den
vergangenenJahren am stärkstenabge-
holzt wurde, sind rund ein Drittel aller
Farmen tabu für die Einkäufer.
Greenpeace kritisiert, dass die Nach-
weiskette von der Geburt des Kalbes bis
zum Schlachthof in Brasilien nicht hun-
dertprozentigkontrolliert werde. Jenach
Absatzregion müssen die Kälber erst
Monate nach der Geburt mit einem Clip
im Ohrregistriert werden; siekönnen
also auf gerodetenRegenwaldflächen
aufgewachsen sein.VonGrantThornton
hat sich Minerva eben bestätigen las-
sen, dass man die Abmachungen einhält.
Doch auch der private Controller kriti-
siert im Bericht vomJuli, dass die Kälber
vom staatlichen Erfassungssystem erst
registriert werden müssen, wenn sie bis
zu zehn Monate alt sind, die Nachweis-
barkeit also lückenhaft ist.«Der Staat
müsste hier für eine vollständige Erfas-
sung sorgen», fordert GrantThornton.
Bei Minerva ist der Direktor Alencar
trotz dem derzeit schlechtenRuf Brasi-
liens zuversichtlich, dass Südamerika sei-
nenAnteil am weltweiten Rindfleisch-
markt ausbauen wird.Denn die Massen
in den Schwellenländern wollen künftig
mehr Rindfleisch essen. Doch nicht nur
dort. Die OECD erwartet, dass der Rind-
fleischkonsum auch in den wohlhaben-
den Industrieländern in den nächsten
zehnJahren um 8% zulegen wird – trotz
den «no beef»-Kampagnen und wach-
sender Kritik am Fleischkonsum.
Minerva rechnet sich gute Chan-
cen aus. In Brasilien dominieren die aus
Indien stammenden Nelore-Rinder. Ihr
Fleisch ist magerer als das der europäi-
schenRassen. Zudem sei man in Europa
zunehmend bereit, für ein gutesT- Bone-
Steak aus Südamerika mehr auszugeben,
beobachtet Alencar und verweist auf die
Grill-Modewelle mitFachzeitschriften,
Kursen und teurem Zubehör. «In Europa
und den USA gibt es einenTr end zu gril-
liertem Premium-Rindfleisch», sagt er.
Die Zeiten des geschmorten Sonntags-
bratens mit viel Sauce seien vorbei.
Eine Rinderherde auf derFarm einesPartnerbetriebs von Minerva inBarretosimGliedstaat SãoPaulo in Brasilien. BLOOMBERG
DasFleischwirdzuSteaksund Filets verarbeitet. Für den Exportnach EuropageltenbesondereBestimmungen. BLOOMBERG