Neue Zürcher Zeitung - 20.09.2019

(Ron) #1

Freitag, 20. September 2019 FEUILLETON 43


Nur an Schönheit


mangelt’s noch


Die Schweiz wird voller, die Städte
dichter.UnddieöffentlicheKunst?

CHRISTIANSAEHRENDT

Beim Bebauen und Planen von städ-
tischenRäumen kannKunst wichtige
Impulse setzen, was die Qualität des
Aufenthalts auf Plätzen, die Identifika-
tion der Bewohner mit ihrem Heimatort
und die Möglichkeit von Gemeinschafts-
erlebnissen betrifft.Wenn in Zukunft
neueViertel und neueWohnformen
entstehen, solltenkulturelleund gesell-
schaftlicheFragestellungen eine grös-
sereRolle spielen.Viele Akteurekön-
nen daran beteiligt werden, und es ist
sinnvoll, wenn diese sich dafür vernet-
zen. In den letztenJahren sind in diesem
Kontext bereits einige eindrucksvolle
Kunstwerke in der Schweiz entstanden.
DerKünstlerverbandVisarte will diese
Entwicklung fördern. Als Werkzeug
dient dabei der PrixVisarte, der kürz-
lich zum dritten Mal verliehen wurde.
DieAuszeichnung herausragender
Projekte im BereichKunst undBau bezie-
hungsweiseKunst im öffentlichenRaum
ist mit je 10 000 Franken dotiert.Visarte
kooperiert dafür mit derJulius-Bär-Stif-
tung und dem Bund Schweizer Archi-
tekten. Anträge einreichenkonnten alle
direkt involvierten Berufsgruppen aus
Kunst,Politik,Finanzwelt undBaubran-
che.Aus 123 Bewerbungen wählte eine
interdisziplinär besetzteJury drei preis-
würdigeWerke aus:Ruth Erdts «Chronik
fürFreienwil»,Melik Ohanians «Later-
nen der Erinnerung» und StefanBanz’
2006 installiertesWerk «Alternative».

Laternender Tränen


Im Rahmen eines grossangelegten
Hochwasserschutzprojekts der Mobi-
liar-Versicherung im aargauischen
Freienwil musste der Ortskern neuge-
staltet werden. Um die Identität der Ge-
meinde dabei zu erhalten und zu stär-
ken, wurde die ZürcherFotografinRuth
Erdteingeladen, die Bewohner zu por-
trätieren.Sieverlegte eigens für dieses
Projekt ihrenWohnsitz nachFreienwil
und fotografierte über 4 00 der 1030 Ein-
wohnerinnen und Einwohner. Sie alle
sind nunTeil des Albums «Eine Chro-
nik fürFreienwil», das allen Beteiligten
am16.Juni 20 18 beim Dorffest feierlich
überreicht wurde.
Bereits 2008 hatte das Genfer Stadt-
parlament beschlossen, ein Mahnmal für
den Genozid an den Armeniern im Ers-
tenWeltkrieg zu errichten.EinWettbe-
werb wurde organisiert,den der franzö-
sisch-armenischeKünstler Melik Oha-
nian mit seinem Projekt«Lesréverbères
de la mémoire» für sich entscheiden
konnte. Die armenische Gemeinschaft
war bereit,das Denkmal zu finanzieren,
ein Standort war auch gefunden. Eigent-
lich hätte damit das Projekt freieBahn
erhalten sollen – doch plötzlich türm-
ten sich zahlreiche Hürden auf: Beden-
ken der Denkmalschutzbehörden, An-
wohnerbeschwerden, politischeKompli-
kationen, Störmanöver der türkischen
Regierung (NZZ vom17.6.16). Nun
endlich gelang es am dritten anvisierten
Standort, imParcTr embley, «DieLater-
nen der Erinnerung», eine Installation
aus neun mitTr änen behängten Strassen-
laternen, zurealisieren. Ohanian erhielt
denVisarte-Preis letztlich auch für sein
jahrzehntelangesDurchhaltevermögen.

Ökologische Kunst


Schliesslich wurde StefanBanz’ Instal-
lation «Alternative» als «historisches»
Kunstwerk ausgezeichnet.ElfLeucht-
kästen mit den einzelnen Buchstaben
dieses Schriftzuges hatte der Luzer-
nerKurator undKonzeptkünstler 2006
auf demDach der AlternativenBank
Schweiz (ABS) in Olten aufstellen las-
sen. Sie decken durch Photovoltaik
selbst ihren Energiebedarf – ein Bei-
spiel für eine nachhaltige, energietech-
nisch völligautarkeLeuchtreklame.Die
Kästen auf demDachgesims richten sich
während desTages nach der Sonne aus.
«Alternative» wurde vonVisarte gewür-
digtals Prototyp ökologischerKunst am
Bau.Dass dasWort heute einen etwas
störenden politischen Beiklang hat,
konnte derKünstler damals nicht ahnen.

Für viele Klassik-Festivals gehören ungewöhnliche Spielorte, wie hier das Kirchner-Museum inDavos,zuihrenMarkenzeichen. YANNICK ANDREA


Wer sind wir – und wenn ja, wie viele?


Das Festivalparadies Schweiz ist auf der Suche nach sein er Identität


MARCO FREI


Die Nachricht schlug ein wie eine
Bombe. Im Frühjahr meldete das
Lucerne Festival, dass die hauseige-
nen kleineren Reihen «an Ostern» und
«am Piano» per 2020 gestrichen wür-
den.Teile der Presse werteten dies als
herben Schlag für die SchweizerFes-
tivalszene. Und prompt wurde geunkt,
dass möglicherweise Sponsoren auf die
Ideekommenkönnten, kleinereVer-
anstaltungsformate künftig nicht mehr
zu fördern – weil ja das massgebende
Festival in Luzern offenkundig auch
nicht mehr an deren Zukunftsfähigkeit
glaube.AmDavosFestival wie auch
bei Murten Classics und «erstKlassik
am Sarnersee» blieb man dagegen ge-
lassen. Manche sahen nun sogar ihre
Chance gekommen.
Allenthalben wirdja gern das«Allein-
stellungsmerkmal» betont, das stets aufs
Neue überprüft und geschärft werden
müsse – gerade in schwierigen Phasen.
Für dasDavosFestival ist dieFrage nach
derAusrichtung gegenwärtig besonders
akut:Vor 33Jahren von dem heute in
Luzern wirkenden Intendanten Michael
Haefliger gegründet, stellt es zwar immer
noch mit Erfolg seineYoung Artists in
Concert insRampenlicht; aber wie die-
ses Grundkonzept weiterhin mit Leben
gefüllt werden soll, darüber gehen die
Meinungen auseinander.


Diskussion als Chance


Im Sommer 20 18 hatte der Klarinettist
Reto Bieri das verdienstvolleFestival
zum letzten Mal verantwortet.Auf ihn
folgte der Pianist Oliver Schnyder, der
sich jedoch nach seiner ersten Saison im
August wegen interner Differenzen wie-
der zurückgezogen hat. Sein Nachfol-
ger ist der junge Dirigent und Organist
Marco Amherd – er wird es nicht ganz
leicht haben. Denn es istkein Geheim-
ni s, dass die Strukturen inDavos alles
andere als einfach zu handhaben sind.
Dennoch istErfolgmöglich, wieBieri
eindrucksvoll gezeigt hat.
Immerhin führte Schnyder die an-
spruchsvolle Programmatik in seinem
einzigenDavoserFestivalsommer unter


dem vieldeutigen Motto«Einschnitt!»
fort.AufAnregung von Schnyder hatte
etwa die BlockflötistinLaura Schmid
eigens fürDavos sechs der zwölf Flö-
tenfantasien des SchweizerKomponis-
tenDavid Philip Hefti von 20 15 bearbei-
tet,umdiese mitFantasien von Georg
PhilippTelemannzukoppeln. Eine span-
nende Hörreise ist dabei herausgekom-
men, die unbedingt auf CD dokumen-
tiert werden sollte. Zudem kam der Pia-
nist András Schiff nachDavos, um mit
demTr io Sora ausFrankreich zu arbeiten


  • wenn auch nur für einen Nachmittag.
    Auch konzeptionell hat Schnyder
    einiges angestossen. EineFestivalmeile
    imKongresszentrumvonDavos schwebt
    ihm vor, und tatsächlich soll bereits der
    Akustiker Karlheinz Müller von Müller-
    BBM in Planegg bei München inDavos
    gewesen sein.Das Projekt soll unter-
    schriftsreif sein, wurde aber wegen des
    Wechsels in derFestivalleitung vorerst
    zurückgestellt.Wenn der Amtsantritt
    von Marco Amherd 20 20 erfolgreich
    verläuft, könnte hier ein neuer Impuls
    entstehen. Gleichzeitig betont Amherd,
    dass er – anders als Schnyder, aber ähn-
    lich wie Bieri – auch ungewöhnliche
    Orte bespielen möchte. Seine ersteFes-
    tivalsaison 2020 soll denTitel«Von Sin-
    nen» tragen.
    Auch bei Murten Classics im Kan-
    tonFreiburg steht in absehbarer Zeit
    einWechsel in der künstlerischen Lei-
    tung an. Seit rund zwanzigJahren kre-
    denzt Kaspar Zehnder, der scheidende
    Chefdirigent des Sinfonieorchesters
    Biel-Solothurn, die Programme – mit
    Unterstützung der umtriebigen Direk-
    torinJa cquelineKeller.
    Mit der Zeit hat sich dieReihe zu
    einem veritablen dreiwöchigen Som-
    merfestival entwickelt, das nicht zu-
    letzt mit einem idyllischen Ambiente
    lockt, samt Bilderbuchschlössern und
    schmucken Kirchen. Ein Budget von
    knapp unter einer MillionFranken er-
    zwingt dabei eineKonzentration auf das
    Wesentliche. Statt auf die grossen Stars
    der Klassikszenezusetzen, die ohnehin
    besser in Luzern oderVerbier aufgeho-
    ben sind, rückt man auch in Murten vor
    allem jungeTalente in denFokus – nicht
    zuletzt solche aus der Schweiz.


Schon die GeigerinPatriciaKopa-
tchinskaja hat in Murten gespielt, noch
vor dem Beginn ihrerWeltkarriere.
Diesmal präsentierte sich die Pianistin
Beatrice Berrut als Artist inResidence
in Murten. DieWalliserinkonzertiert
überwiegend imAusland, leider weniger
in der Schweiz, obwohl sie sich längst zu
einer äusserst spannenden Liszt-Inter-
pretin gemausert hat. Zum LucerneFes-
tivalamPiano wurde Berrut ebenso we-
nigeingeladen wieWilliamYoun oder
der Schweizer Olivier Cavé. So muss
dasAus der Luzerner Klavierreihekein
herber Schlag sein, wenn andere in der
Schweiz dieseLeerstelle mit künstleri-
schem Gespür undWeitblick füllen –
wie etwa in Murten.

Stärke inder Nische


Für Murten Classics stelltsich indes die
Frage,wie es nach der Äravon Kas-
par Zehnder weitergeht.Obwohl die
Deutsche und dieFranzösische Kir-
che exzellente Spielorte fürReihen wie
«Alte Musik im Originalklang» sind,
wird diesesRepertoire bis jetzt so gut
wiegar nicht gespielt – dies gilt es zu
überdenken. Und klar ist auch:Wer in
Murten bloss die wohlbekannten Glo-
bal Player der Klassikwelt programmie-
ren wollte, würde zwischenVerbier und
Luzernkein eigenständigesFestivalpro-
fil schaffen.
Mit ebendieser Frage beschäf-
tigt man sich gegenwärtig in ähnlicher
Weise bei «erstKlassik am Sarnersee».
Das kleine, feine Festival im Kanton Ob-
walden vor denToren Luzerns ist die
einzige Kammermusikreihe,die gezielt
von Mitgliedern desSymphonieorches-
tersdesBayerischenRundfunks (BR)
in München entwickelt und bespielt
wird. Die treibende Kraft ist Marie-Lise
Schüpbach.Von1979 bis zu ihrerPen-
sionierung 20 17 war die Oboistin aus
der Schweiz, übrigens eine Cousine von
Michael Haefliger,festes Mitglied im
BR-Orchester.
Vor zwölf Jahren hat Schüpbach
in Sachseln «erstKlassik am Sarner-
see» gegründet. Die Nähe zu Luzern
und seinem grossenFestival war bisher
eine ArtJoker, denn beim benachbar-

ten LucerneFestival an Ostern hatte
das BR-Symphonieorchester traditio-
nell eineResidenz inne. Mit dem Ende
des Osterfestivals in Luzern endet auch
dieFrühjahrsresidenz des BR-Orches-
ters – und mit ihr der direkte Mehr-
wert für «erstKlassik».
Umso weitsichtiger ist es, dass man
bereits begonnen hat, das Profil von
«erstKlassik» um weitere Bausteine
zu ergänzen. Hierfür wurden jetzt zum
zweiten Mal auch Mitglieder des Luzer-
ner Sinfonieorchesters an den Sarnersee
geladen, um mit BR-Symphonikern eine
«musikalische Begegnung» zu gestal-
ten.Daneben aber standen diesmal bei
«erstKlassikam Sarnersee» zweiJubi-
läen im Zentrum, die auch andernorts
begangen wurden,nämlich der200. Ge-
burtstag von Clara Schumann sowie der


  1. GeburtstagvonHeinz Holliger.
    Bei dem bedeutenden Oboisten und
    Komponisten hatte Schüpbach einst
    studiert, wie auch Andrea Bischoff vom
    Luzerner Sinfonieorchester.Als Oboen-
    trio Heinz Holliger haben sie nun mit
    ih rem Lehrer bei einem«Wanderkon-
    zert» mitgemischt. Eine weitere Ein-
    bindung Holligers in dasFestival wäre
    wünschenswert, gerade auch als Ideen-
    geber für das Programm. Dessen künf-
    tigeAusgestaltung hängt allerdings ent-
    scheidendvon derFrage ab, ob und wie
    es mit demSymphonieorchester des
    BayerischenRundfunks beim Lucerne
    Festival weitergeht. Ob also das Spitzen-
    orchester aus München beispielsweise
    beim Sommerfestival künftig eine be-
    sondere Plattform erhält oder auf an-
    dereWeise eingebunden werden kann.
    «Für mich ist das BR-Orchester eines
    der besten Orchester derWelt», betont
    Festivalintendant Michael Haefliger
    auf Nachfrage. «Wir hoffen, dass wir
    das Orchester für den Sommer gewin-
    nenkönnen.» Sollte diesRealität wer-
    den,wäre einekonzeptuelle Einbindung
    von «erstKlassik am Sarnersee» ein zu-
    sätzlicher Gewinn – gerade wegen des
    kleinen, intimen Rahmens.Haefliger
    schweigt dazu, setzt aber hinzu: «Ich
    werde einmal mit meiner Cousinere-
    den.»Für den BR-Manager Nikolaus
    Pont wäre ein derartiges Zusammen-
    wirken «einegute Idee».

Free download pdf