Neue Zürcher Zeitung - 20.09.2019

(Ron) #1

Freitag, 20. September 2019 FEUILLETON 47


In Berlin fährt der Theaterzug ohne Besu cher los


Die Theater der Stadt scheinen viel zu sehr mit sich selbs t beschäftigt, als dass sie noch Rücksicht nehmen könnten auf ihr Publikum


BERND NOACK, BERLIN


Als ich am Morgen nach demThea-
ter-Wochenende in Berlin mit der S-
Bahn zumHauptbahnhof fahren wollte,
ging gar nichts mehr:Stellwerkschaden.
Hunderte Menschen standen ratlos
auf denBahnsteigen, eilten dieTrep-
pen hinunter, ergatterten Stehplätze
in U-Bahnen mit ganz anderen Zie-
len, zwängten sich zuWildfremden in
Taxis. Die Woche geht gut los, dachte
ich mir.Aber warum sollte sie anders
starten,als die alte aufgehört hatte?
Nein, die ärgerlichste Erfahrung die-
ser dreiTage an der Spree war nicht
der Ausfall des Nahverkehrs – ich war
schliesslich abgebrüht.
Drei Premieren in drei Häusern
zum Spielzeitauftakt. Und schliesslich
di e Erkenntnis,dass dasVerpassen
eines Zuges ein Leichtes wiegt gegen-
über den verpassten Chancen, deren
Zeuge man in denTheatern gewe-
sen ist. ZweiRomane, ein altes Stück,
honorigeRegisseure und eine Hand-
voll hervorragender Schauspieler: Am
Ende steht man da und schaut – als
wäre man versetzt worden – in die lee-
ren Kulissen, wie man denRückleuch-
ten einer davongeeiltenBahn hinter-
herblickt.Man hätte sich gerne mitneh-


men lassen, man hätte das alles gerne
verstanden.
Aber dasTheater schien viel zu sehr
mit sich selber beschäftigt, als dass es
noch hätteRücksicht nehmenkönnen
auf willige Mitreisende. Die Prosa zer-
pflückt, das Stück verulkt, die Sprache
gequält – und überhaupt: Die Bühnen
benutzen hinlänglich bekannte Szenen-
spielchen, die nur noch wie Marken-
zeichen wirken.DieWiedererkennungs-
effekte sind wichtiger geworden als die
Auseinandersetzung mit den Inhalten.
Wenn dann auch noch kräftig an der
Schöpfung geschraubt und mit den Ge-
schlechtern jongliert wird, wähnt man
sich ohnehin schon auf der Höhe des
Zeitgeists.

Verklimpert und verulkt


Ersan Mondtag baut sich im Berliner
Ensemble eine kunterbunte Expressio-
nismus-Manege und lässt darin dieTitel-
figur von Brechts Stück «Baal» vom sau-
fendenHaudrauf zum greinendenMut-
tersöhnchen werden.StefanieReinsper-
ger spielt den «wüsten Burschen» mit
vollerKörperwucht zwischengeniali-
schenAusbrüchen und seelenzerfetzen-
den Abstürzen.Der Regisseur stecktsie
in ulkigeFummel oder in Ganzkörper-

kondome, auf die weiblicheRundungen
gepinselt sind.Es ist seineArt,das ganze
Personal zu Attrappen einer überbor-
dend ausstaffierten Picture-Showzu d e-
gradieren,bei der sich jeglicher mensch-
liche Horror in Grenzen hält. Selbst die
frauenverachtenden Allüren desBaal
verklimpern hier unhinterfragt im Spiel-
uhrtakt, der das ganze Unternehmen zu
einem süsslich-vergnüglichen Spazier-
gang durch allesandere als «schwarze
Wälder» macht.
Auch bei Katie Mitchell war klar,
dass es wieder einmal nur Katie Mitchell
zu sehen geben würde. Sie hat in der
SchaubühneVirginia Woolfs Orlando,
dieses Geschlechter und Zeiten mühe-
los wechselndeWesen aus dem gleich-
namigenRoman, in Dauerstress ver-
setzt: vorne derFilmset, auf dem Schau-
spieler, Kameraleute und Garderobie-
ren (89Kostümwechsel!) herumwuseln,
oben der live gefilmte und mit ferti-
gen Aussenaufnahmen verschnittene
Videostreifen – und von einer Szene
zur nächsten hetzt die Schauspielerin
Jenny König, die manchmal arg ange-
st rengt wie weilandTilda Swinton (in
SallyPotters Film) das Publikum insVi-
sier nimmt.
Hier wird einmal mehr auf techni-
schePerfektiongrössterWert gelegt.

Die Geschichte muss sich einemTakt
unterordnen, derden Inhalt nur noch
wie Beiwerk gelten lässt.Ausder Spre-
cherkanzel heraus wird derRoman ver-
lesen, dieReverenz an die darstellende
Kunst erschöpft sich inGros saufnahmen
oder verwirrenden filmischenTricks.
Irgendwo zwischen Live-Aktion und
kinematografischem Ergebnis bleibt
in dem Kabelgewirr aber alles stecken:
Woolfs Ironie, die perfide Leichtigkeit,
mit der sie Klischees blossstellt, ihre
Boshaftigkeit, mit der sie gegen über-
kommeneRollenbilder anstürmt. Und
dem reinenTheater traut Katie Mitchell
nichts mehr zu.

OhneRücksicht auf Sinnverlust


Ganz anders endlich Ivan Pante-
leev?Ach, zwar ist bei ihm allesrei-
nes Spiel. Mit viel überflüssigemKulis-
sen-Brimborium,mit Schauspielern,die
noch richtig von derRampe lockend
ins Publikum sprechen. MitFiguren,
denen mankeine Wirklichkeit wün-
schen würde.Aber derRegisseur hat
sich im DeutschenTheater ausgerech-
net Michel Houellebecq alsVorlage ge-
wählt. Und dessen zwischen philoso-
phischem Höhenflug und straucheln-
dem Lebenswillen daherplappernden

Roman «Ausweitung der Kampfzone»
schlachtet er für die Bühne ohneRück-
sicht auf Sinnverluste aus: Eine Art
Nummernrevue hochtrabenderWelt-
Abhandlungen und saublöder Situa-
tionen ist aus der Erzählung gewor-
den. Ein lebensmüder IT-Fachmann
stolpert auf seinemWeg in die Provinz
über seine Lebensmüdigkeit.
Houellebecqs nur schwer durch-
schaubare Ergüsse,in denen es natürlich
um Sex und Kapitalismus geht,illustriert
Panteleevmit einem festenWillen zum
Chaos.MarcelKohler gibt den Abge-
wrackten traurig wie den müden Schnit-
zeltester inJosef HadersFilm «Indien»;
SamuelFinzi brabbelt sich in Endlos-
sätzen um das letzte bisschenVerstand,
das noch imKopf desAutors (realis-
tisch modelliert liegt der auch nutzlos
herum) rumort.Wie zweifelhaft Hou-
ellebecqs verschwurbelte gesellschafts-
politischeAnsichten und frauenmissach-
tende Sottisen auch sein mögen, ist frei-
lich nicht Sache des Abends.
Nur manchmal spitzt da die Melan-
cholie desVergänglichen durch. So ein
trotz allem irgendwie sicheres Gefühl


  • wie ich es am Morgen nach diesen
    theatralischen Stellwerkschäden hatte,
    als mir der Zug in Berlin vor der Nase
    davonfuhr.


Das Theater Neumarkt


startet mit Hotpants in den Herbst


An der Eröf fnungspremiere «They Shoot Horses, Don’t They?» wird deutlich: Mit den neue n Intendantinnen ist zu rechnen


DANIELE MUSCIONICO


Gut fühlt sich anders an. Geklatscht
jedenfalls wurde amTheater Neumarkt
schon länger nicht mehr. Doch das än-
dert sich mit der ersten Arbeit, an der
man die neuen Intendantinnen auf der
Bühne messen kann.Jetzt fühlt es sich
richtig gut an. Richtig gut, weil auf eine
hintersinnige und subversive Art un-
erw artet. «They Shoot Horses, Don’t
They?» zur Eröffnung zeigt:DasHaus
scheint sich vorzunehmen,Widerstand
gegen leichtkonsumierbareVergnügt-
heit zu leisten.
Komplizenschaft wird hoch gehängt,
familiär undkollaborativ ist die Stim-
mung innerhalb desTheaters;an der Er-
öffnungsfeier zeigte sich auch der Co-


Intendant des Schauspielhauses, Ben-
jamin von Blomberg, inte ressiert. Die
Schnittmenge mit denKünstlern am
Pfauen ist vorhanden, und selbst Stadt-
tauben, vier Stück sind es, gehören in-
zwischen offiziell zum Ensemble.Man
ist ja schliesslich nicht nur gastlich, son-
derndivers.UnddassdieneueDirektion
spontan einen imposanten Neuzugang
bekanntgab,istbe sonderserfreulich.Die
Schweizer Sängerin Brandy Butler,die
am Pfauen in MirandaJulys «Der erste
fiese Typ» zu sehen ist, hat sich am Neu-
markt fest verpflichten lassen.


Die Grenzen der Kunst?


Das lässt hoffen. Denn seitJulia Rei-
chert, Hayat Erdogan undTine Milz
das Haus leiten, haben sie vor allem
schlechte Presse bekommen. «Mieses
Theater!», hiess es erst vor wenigenTa-
gen, und man fühlte sich berechtigt, den
Neuen zum Einstand schon mal prophy-


laktischetwasaufdieOhrenzugeben.In
unse rerStadt, das sollt ihr euch merken,
dulden wir eine solche Geschmacklosig-
keit – ausserhalb desTheaters – nicht.
Am Tag des Zürcher Knabenschies-
sens inszenierte ein Gastkünstler des
Hauses, der amerikanischePolit- und
Medienaktivist mit demKünstlernamen
Mike Bonanno, eine professionell ge-
faktePressekonferenz.DassseineAktion
vorsätzlichunlauter,daeinePerformance
war,schienkulturaffinenMenschenkeine
Frage zu sein.Denn ihr Stimmführer war
der bekannte Satiriker – und seriöseVer-
leger im Hauptgeschäft –PatrickFrey.
Von ihm war vor versammeltenJour-
nalisten im Brustton gespielter Über-
zeugung zu erfahren: DieRuag werde,
«ausReputationsgründen», fortan auf
die Herstellung von Munition verzich-
ten. ZurFeier seiner Neuausrichtung
habe das Unternehmen sogar zehn Mil-
lionenFranken für SchweizerKultur-
institutionen gesprochen. Die vorge-
führteRuag zuckte mit den Schultern,
doch die Kritiker der Aktionkochten.
Im Rückblick sind sich auch die
Intendantinnen einig: Über dasWie der
Performance kann man sich streiten.
Doch dasWas, die Botschaft einer posi-
tiven Utopie nämlich, habe es in sich.
Und genau diesesFazit lässt sich aus der
ersten Bühnenpremiere ziehen.

The show must go on


Die Eröffnungsproduktion«They Shoot
Horses,Don’t They?», ein Tanzmara-
thon, der amTheaterspektakel als ech-
ter Tanz-Wettbewerb um dieTeilnahme
an dieserAufführung begann, dann im
Hauptbahnhof weitergeführt wurde, ist
beiTeil drei und damit imTheater ange-
langt. Dieliterarischen und filmischen
Vorlagen sind weiterhin nur motivisch
vorhanden, gezeigt wird das schiere
Überleben des Stärkeren. Die Neu-
markt-Fassung ist auf die Zwangshand-
lung verdichtet und auf leeres Ritual.
Das Konzept von Mike Bonanno,
Hayat Erdogan und dem neuen Cho-
reografen im Ensemble, Jeremy Nedd,
ist keine klassische Eröffnungspremiere.
Auch hier werden zwar die Neuen vor-
gestellt, sie sind dieTeilnehmenden des
Tanzmarathons. Doch für allesWeitere
istdiePhantasiedesPublikumszuständig.

Die Geschichte? Vergessenwir die
Grosse Depression, die im Buch von
Hor ace McCoy den Hintergrund lie-
ferte. Das Preisgeld desWettbewerbs
könnte denTeilnehmenden einen Neu-
startin eine bessere Zukunft ermög-
lichen. Oder einFilmprojekt, Starruhm

in Hollywood.Was liesse sich mit dem
schönen Geld nicht alles anstellen?
Doch in Zürich funktioniert auch die
Parabel auf den amerikanischenTraum
nicht mehr. Zeitliche, logische Zusam-
menhänge und Handlungsmotive sind
von der Bühne gänzlich verbannt.

Ein Master of Ceremony inkanarien-
gelbemAnzug, Mike Bonanno, lässt die
letzten verbleibendenTeilnehmer nach
seiner Ansage leiden.Währendsie kurz
vor dem Zusammenbruch stehen, gleitet
er aufRollschuhen durch denRaum. In
dieserWelt ohneTürenund verschlos-
sene Fenster ist er der Gott des Schick-
sals.Er peitscht dieTanzenden an, ist
sarkastisch, dann wieder gütig, das
Karussell soll sich weiterdrehen, es geht
schliesslich um viel Geld (für ihn). Bo-
nanno istein Sklaventreiber, aber ge-
nauso ein Philosoph der Kalendersprü-
che. Er weiss, dass unsereWelt «brennt».
DieserWettbewerb hatkein Ziel
mehr, das Tanzen und die Qual haben

keine Notwendigkeit. Leben heisst sich
inBewegunghalten,nichtumfallen,mehr
nicht. Es ist eine grässliche Sinnleere im
Raum. Und mit jeder neuenRunde, die
getanzt wird und die Bonanno dicht an
uns vorbeischmiert,fühlt man sich mehr
und mehr in Geiselhaft. Man ist gefan-
gen in der Zeit,dem Raum der Behaup-
tung – und in den eigenen Erwartungen.
Das ist Theater?Das ist auchTheater.

«Follow me»


Dann kippt plötzlich einer um (Florian
Denk, er hat sich den Platz imWettbe-
werb auf derLandiwiese ertanzt), der
Mann mit dem Mustang-Gürtel (Leon
Pfannenmüller) kann ihn nicht länger
stützen.Das war’s dann, tschüss und
Blackout.Wer ist der Sieger? DieFrage
ist unwichtig, unsere Stimme ist längst
vergeben. Sie gehört dem Herzblattund
iranisch-schweizerischen Schauspieler
AlirezaBayram. Auf den Hotpants über
seinem kleinen knackigen Hintern steht
«Follow me».

DerMaster of Ceremony Mike Nonanno lässt die Akteure leiden. PHILIP FROWEIN

Bonanno ist ein
Sklaventreiber,
aber genauso ein
Philosoph der
Kalendersprüche.

Komplizenschaft wird
hoch gehängt, familiär
und kollaborativ ist die
Stimmung innerhalb
des Theaters.
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