60 GESELLSCHAFT Freitag, 20. September 2019
Fast wie «Donnschtig-Ja ss» fürGamer
Junge Männer ziehen sich ge rn in Computer welten zurück. Doch nicht jeder exzessive Spieler
muss sozial verwahrlosen. Aus dem Austausch können virtuelle Happenings entstehen.VON LUKAS LEUZINGER
Andi ist tot, aber quickfidel. «Fuck, bin
ich blind!», ruft er aus, leicht verärgert,
abermiteinemLächelnimGesicht,nach-
dem er erschossen worden ist. Halb so
schlimm:Die nächsteRunde im Shooter-
Game«The Division 2»beginnt gleich.
Dazwischenunterhältersichmitdemvir-
tuellenPublikum.«WiewareuerWochen-
ende?»,fragterundkommentiertdieAnt-
worten:«Grillparty? Sehr geil!»
Durchschnittlich 20 bis 25 Leute,
manchmal aber auch über 100, verfol-
gen, wenn Andi am Computer spielt. Er
ist ein aktiver Streamer aufTwitch. Auf
derWebsite,einerArtYoutubefürCom-
puterspiele,kannmanimmerirgendwem
beimSpielenirgendeinesSpielszusehen.
Die beliebtestenStreamerhabenMillio-
nen vonFollowern.Ihnen kann der Bie-
ler Andi nicht dasWasser reichen. Den-
noch geht er beim Streamen äusserst
professionell vor. Headset, leistungs-
starke Kamera, zwei Bildschirme und
eine spezielleTastatur gehören zu seiner
Ausrüstung. In einem grossen,zentralen
Fensterkönnendi eZuschauerverfolgen,
was Andigerade spielt; in einem kleine-
ren links unten sieht man ihn selbst.Fast
wie beim «Donnschtig-Jass» im Schwei-
zer Fernsehen. Die Zuschauerkönnen
über einen Chatkommunizieren, Andi
antwortet über das Mikrofon.Dabei
spricht er akzentfreiesHochdeutsch.
Drei Millionen Dollar Preisgeld
Mit über 8000 Followern ist sein Kanal
«Andi GameTV»einer der beliebtesten
der Schweiz. «Entscheidend für den Er-
folg ist, die Leute zu unterhalten», sagt
der 33-Jährige. Das bedeutet: immer
gute Laune haben.Andi,Bart und kurze
Haare, wirkt beim Gespräch in einem
Bieler Café aufgestellt. Drei Abende
proWoche ist er vier bis fünf Stunden
online.SeinAbendessen besteht manch-
mal aus einem Burger, den er während
des Streamens verdrückt.
In den1990er Jahren vertrieben sich
Kinder undJugendliche die Zeit mit
Spielen wie «Super Mario 64», bei dem
man mit einem verpixelten Klempner
in Schnee-,Wüsten- undWasserwelten
Sterne sammelte und dann den End-
kampf gegen den Bösewicht Bowser ge-
winnen musste.Die heutigen Spiele bie-
ten nicht nur bessere Grafik,realistische-
resGameplayundausgeklügeltereStorys,
sondern auchvie l mehr Möglichkeiten.
In der jüngstenAusgabe des Klassikers
«The Legend of Zelda» bewegen sich die
Spieler in einerWelt,die zu durchqueren
mehr als eine halbe Stunde in Anspruch
ni mmt. Eine Game-Industrie mit Hun-
der ttausenden von Angestellten bringt
regelmässig Updates, neueFeatures und
Extrasheraus.Vorallemabermussheute
niemand mehr alleine spielen, sondern
man kann Mitspieler und Gegner auf der
ganzenWelt finden.
Wie einst Bücherlesen oder in den
1960er Jahren Fernsehen gaben Compu-
terspielelangeAnlasszuelterlicherSorge
und Warnungen.Nach jedem Amoklauf
wardieersteFrageindenMedien,obder
Täter Computerspiele ges pielt habe. In-
zwischen haben Studien gezeigt,dass der
Zusammenhang zwischen Gamen und
Gewaltkomplexer ist. Computerspielen
ist zu einer akzeptiertenFreizeitbeschäf-
tigung geworden.Und fürmanche mehr
als das. Professionelle Gamer verdie-
nen ihren Lebensunterhalt mit Spielen.
Bei derWeltmeisterschaft des Shooter-
Games «Fortnite»EndeJuli strich der
Erstplatzierte–ein 16-jährigerAmerika-
ner – drei MillionenDollar Preisgeld ein.
Auch auf Streaming-Plattformen wie
TwitchlässtsichmitTalentundAusdauer
Geld verdienen. Andi etwa setzt 300
bis 400Franken pro Monat um. Einige
Twitch-User haben seinen Kanal abon-
niert, bezahlten also einen monatlichen
Betrag, dafür erhalten sie Extras, bei-
spielsweisekönnen sie im Chat spezielle
Emojis benutzen. Siekönnenauch Geld
spenden.Zudem verdient er an derWer-
bung, die am Anfang des Streams einge-
blendet wird. EinTeil seinerAusrüstung
wird voneinem Computerhersteller und
von einer E-Sport-Plattform gesponsert.
Nach wie vor sind es vor allem junge
Männer, die ausFreude gamen.Aus
Spass amWettstreit, an der Herausfor-
derung, geschickter, schneller und tak-
tisch klüger als der Gegner zu sein.
«Wenn ich spiele, fühle ich mich glück-
lich, ich bin abgelenkt, kann vom All-
tagsstress abschalten», sagt Andi.
Manche Spieler lassen sich von
Games verschlucken, diese bieten
ihnen eine Fluchtmöglichkeit aus einem
schwierigen Alltag. Andereentscheiden
sich bewusst dafür, weniger Energie und
Zeit in den Beruf oder privateVerpflich-
tungen zu investieren, um mehr Zeit
zum Spielen zu haben. Ökonomen in
den USA haben untersucht, warum die
Zahl der Arbeitsstunden bei Männern
unter 30 seit derJahrtausendwende stär-
ker gesunken ist als bei älteren Alters-
gruppen. Sie kamen zum Schluss, dass
das verbesserteFreizeitangebot, insbe-
sondere Computer- undVideospiele,
einen wesentlichen Einfluss hatte. Mit
anderenWorten:Junge Männer verzich-
ten auf ein höheres Einkommen, um
mehr Zeit zum Zocken zu haben.
Das muss nichts Schlechtes sein. Die
Zahl derTeilzeitbeschäftigten nimmt
zu, auchin der Schweiz, und längst
nicht alle kümmern sich um Kinder.
Wenn also Leute einenTag weniger
pro Woche arbeiten, um Sport zu trei-
ben, eine Sprache zu lernen, den Töff
zu frisieren oder dieWohnung zu put-
zen, warumsollt e man seine Zeit nicht
auch mit Computerspielen verbringen?
Seit seiner Kindheit spielt Andi Com-
puter-und Videogames. Als er zu strea-
men begann, kündigte er seine Infor-
matikerstelle bei einem Grosskonzern.
Inzwischen hat er in einem neuenJob
sein Pensum wieder erhöht. Zwar geht
er abends auch einmal gerne mitKolle-
gen an den See, aber noch häufiger ist
er online.Indie Ferien geheerselten:
«Für mich ist das Spiel wieFerien.»
Auch seine Freundin istTeil der
Spielwelt: Er hat sie online während
des Gamenskennengelernt, auch einige
Freunde habeer sogefunden.Die Spiele
könnten durchaus soziale Beziehungen
fördern, sagter. Mit seinerFreundin
spielt erregelmässig, manchmal meldet
sie sich aufTwitch und chattet mit Andi,
von dem sie an diesem Abend abseits
des Bildschirms wenig sieht.
«Lustiger Zeitvertreib»
EsisteinstrahlendschönerTag.Ideal,um
Zeit mitFreunden zu verbringen. Also
loggtsichColinbei«LeagueofLegends»,
einem Echtzeit-Strategiespiel, ein und
schaut,wergeradeonlineist.Diemeisten
seinerFreundesindGamer.Einigekennt
er aus dem richtigen Leben, andere hat
er onlinekennengelernt. Der22- Jährige
macht sein Masterstudium in Elektro-
technik an derETH. Daneben spielt er,
so oft er kann,am Computer. Er spielt so
ziemlichalles,wasaufden Marktkommt.
Neben «League of Legends» etwaauch
den Ego-Shooter «Counter-Strike».
Für Colin geht es dabei um Spass,
um einen «lustigen Zeitvertreib». Da-
für wendet er durchschnittlich 40 Stun-
denproWochenauf,wieerschätzt.«Wäh-
rend des Gamens denkt man an nichts
anderes», sagt er beim Gespräch am Ess-
tisch im Haus seiner Eltern,wo er wohnt.
Mit seiner schlanken Statur,T-Shirt und
mittellangen Haaren sieht Colin so aus,
wie man sicheinen Gamer vorstellt. Er
macht einen wachen und freundlichen
Eindruck, spricht offen und durchaus
kritisch über sein Hobby. «Ich sehe Ga-
men durch und durch als verschwendete
Zeit»,erklärt er.Colin teilt seine Zeit
sorgfältig ein: genug lernen, um den Ab-
schluss zu schaffen,aber nicht zu viel,um
ausreichend Zeit zum Gamen zu haben.
AuchdassdasComputerspielenaufKos-
ten sozialer Aktivitäten abseits von On-
line-Chats geht, ist ihm bewusst. Immer-
hin gehe er nicht in denAusgang und be-
trinke sich,entgegnet er, wenn sich seine
Eltern wiedereinmal Sorgen machen.
Die Frage, ob er sein Spielverhalten
unterKontrolle habe, bejaht er nach
kurzem Zögern. «Ich hätte mehr davon,
wenn ich mehr Zeit ins Studium inves-
tieren oder sonst etwas Sinnvolles ma-
chen würde», sagt er und wirkt dabei
nicht besorgt. «Aber das muss ja nicht
immer das sein, wonach man strebt.»
Turniere, hier dieAsianIndoor and MartialArtsGames inTurkmenistan 2017, sindTeil des stark wachsenden Computerspielgeschäfts. DAVID ALIAGA / LAUREL / AP
Profis gamen vor
Millionenpublikum
lkz.·Nicht nur derVerkaufvon Com-
puterspielen ist ein lukratives Geschäft.
Die besten Spieler haben das Gamen zu
ihrem Beruf gemacht und treten inregel-
mässig stattfindendenTurnieren gegen-
einander an.Tausende, zuweilen Mil-
lionen Zuschauer fiebern vor Ort oder
an den Bildschirmen zu Hause mit.Da-
bei gibt es eine beeindruckendeViel-
falt an Games: Shooter wie «Fortnite»
haben ebenso ihre Fangemeinde wie
grafisch eher simple Brettspiele, Sport-
simulationenwiedieFussballreihe«Fifa»
oder auch der von der SchweizerFirma
Giants Software produzierte «Landwirt-
schafts-Simulator», in dem der Spieler in
die Rolle einesBauern schlüpfen kann.
An denTurnieren geht es etwa darum,in
möglichst kurzer Zeit einFeld zu mähen.
Geld verdienen die Spieler nicht nur
mit Preisgeldern, sondern auch durch
Sponsoring. Die Post hat seit kurzem ein
eigenes E-Sports-Team. Und Sportklubs
wie der FCBasel haben nicht nurFuss-
baller unterVertrag , die auf demRasen
kicken,sondern betreiben,um neueFans
zugewinnen,aucheigeneE-Sport-Teams.
In die Ferien
geht Andi selten:
«Für mich ist das Spiel
wie Ferien», sagt er.