Freitag, 20. September 2019 REISEN 67
men und Bilder, mit denen die verschiede-
nen Strömungen jener Zeit fühlbarwer-
den. Mit dem Smartphone in der Hand
können dieBesucher in die verschie-
denen Subkulturen eintauchen, Haus-
besetzer, Punkbands und dieTechno-
Szene kennenlernen.InVideo-Interviews
mit prominenten Stimmen wie Gregor
Gysi, Rammstein-Keyboarder Christian
«Flake» Lorenz oder Annette Humpe
wird deutlich, wie schnell sich das kreative
Potenzial nach dem Mauerfall vor allem
in Ostberlin entfaltete. Ko nzipiert wurde
die Ausstellung vom DDR-Museum.
Robin Lautenbach war in dieser histori-
schen Nacht vor Ort. Der heutigePen-
sionär arbeitete1989 alsReporter des
Freien Senders Berlin für die«Tages-
themen». Sein Einsatzgebiet umfasste
ausschliesslichWestberlin. In den Os-
ten kam er erst nach derWiederverei-
nigungregelmässig, als erWestberli-
ner Korresp ondentin derehemaligen
DDR wurde. Lautenbach, ein pragmati-
scher, drahtiger und ruhigerTyp, erz ählt
sehr gern undroutiniert vom 9. Novem-
ber: von der langsam anschwellenden
Arbeitsalltagshektik einesJournalisten,
die den Blick darauf versperrte, was dort
eigentlich gerade geschah.
«Hätte Schabowski diesen Feh-
ler nicht gemacht, wäre der Erlass am
nächstenTag in Kraft getreten undkon-
trolliert abgelaufen.Das Ganze wäre
ein Geschenk der SED an die Leute ge-
wesen», sagt Lautenbach. Der Mauer-
fall hätte nicht dieseForm einer emo-
tionalenRevolution angenommen. Die
deutschen Medien halfen tatkräftig bei
derVerbreitung der frohen und falschen
Kunde mit, in der«Tagesschau» war von
einem «historischen Moment» dieRede.
Zunächst herrschte allerdingsVer-
wirrung:Waren die Grenzen wirklich
offen? So ganzkonnte das niemand
glauben. DerText, den die DDR-Agen-
tur ADN an dieJournalisten verteilt
hatte , gab klar an, dass die Bürger der
DDR sich am folgendenTag ab8Uhr
morgens auf den örtlichenPolizeikreis-
ämtern einfinden und einen Stempel
für dieAusreise über die deutsch-deut-
sche Grenzein ih ren Pass eintragen las-
sen konnten. Gesetzt, sie hatten über-
haupt einen, was in der DDRkeine
Selbstverständlichkeit war. Eine Bean-
tragung hätte weitereWochen in An-
spruch genommen und so dasKontin-
ge nt derAusreisewilligen zeitlich weiter
ausgedehnt.
Am Nordbahnhof 5 erwartetBesucher
eineAusstellung zu den «Geisterbahn-
höfen». Die Teilung der Stadt manifes-
tierte sich auch im Untergrund:Viele U-
Bahn-Haltestellen im Osten wurden aus-
sen zugemauert und dientenwestlichen
Reisenden nur noch alsDurchgangs-
station ohne Halt. Flackerndes Licht und
bewaffnetePatrouillen trugen zum Spitz-
namen der verwaisten Stationen bei.
Langsam zogen die Nachrichten von
den Aussagen der Pressekonferenz ihre
Runde durch Berlin,wucherten die
Spekulationen und (Fehl-)Informatio-
nen – auch wenn es noch Stunden dau-
ern sollte, bis die Ersten die Grenze
überschritten. Doch über irgendetwas
sollte schon vorher berichtet wer-
den, die Medien mussten liefern. Also
machte sichRobin Lautenbach zum
Grenzübergang Invalidenstrasse auf,
um für die«Tagesthemen» von etwas
zu berichten, was dort höchstens in der
Luft lag, aber noch nicht sichtbar war.
Unmittelbar an der Invalidenstrasse be-
findet sich die GedenkstätteBerliner
Mauer 6. Nicht nur anhand der Linie
unter den Füssen kann man hier den
altenVerlauf desBauwerks erkennen.
Auf der einen Seite derBernauer Strasse
sind die verschiedenenBaustadien des
EisernenVorhangs nachgebildet. Es sind
Zeugnisse eines unerbittlichen Abwehr-
prozesses:Wo zuer st noch Metallstan-
gen aus demBoden ragen,wächst das
Bollwerk mit jeder Schicht aus Stahl und
Beton, als sollte es dadurch die innere
Un sicherheit der DDR kompensieren.
Gegenübersteht einausführliches, auch
für Kinder geeignetesBesucherzentrum,
das die Geschichte derTeilung und
derWiedervereinigung dokumentiert.
Den zentral gelegenen Standort in der
Invalidenstrasse wählte derReporter
hauptsächlich deshalb, weil er eine freie
Sichtverbindung für eine Richtfunkstre-
cke benötigte;Satellitenübertragung gab
es 1989 nochkeine. Zudem war die Inva-
lidenstrasse ein wichtiger Übergang für
Diplomaten.«Checkpoint Charlie kam
nicht infrage , weil er ausschliesslich für
die Alliierten verwendet wurde, und
Kreuzberg war zu weit weg.» Dochstatt
mit einer Masse von DDR-Grenzflüchti-
gen sah sichLautenbach mit einerViel-
zahltechnischer Problemekonfrontiert:
«Ich hattekeinenTechniker, hörtenicht,
was in der ‹Tagesthemen›-Sendung ge-
sagt wurde.» Abhilfe schuf ein zweiter
Monitor, mit demLautenbach sein Ein-
satz signalisiert wurde.
Das Erste, was den meistenBesuchern
beimSchlagwortBerliner Mauerin den
Sinn kommt, dürftewohl der Checkpoint
Charlie 7 sein. Der Grenzübergang mit
demweissen Häuschen in derFranzö-
sischen Strassewar den Alliierten vor-
behalten. Heutezeugen von der ameri-
kanischenDominanz noch der McDo-
nald’sund zwei muskulöse,uniformierte
G. I., mit denen sich grinsende asiatische
Pärchen ablichten lassen.Die gesamte
DDR-Folklore, der Mauerkitsch ist hier
an einem Ortzentriert. EineVorstellung
von der abgründigen Dimension derTei-
lung geben höchstens die in die Millio-
nen gehenden kleinen Mauersteinchen,
die in jedem der unzähligen Souvenir-
shops verkauftwerden. Der Traum der
Internationale dürfte letztlichwahr ge-
worden sein, wenn Touristen aus fünf
Kontinenten einenTeil des «antifaschis-
tischen Schutzwalls» auf derKommode
herumliegen haben.
Doch der Journalist sprach in die
Kamera vor einer leeren Mauer, durch
deren Öffnung höchstens ein Bus hin-
durchgepasst hätte. Zum Glück kamen
drei Taxifahrer aus Richtung Bornhol-
mer Strasse vorbei, wo die ersten Ost-
berliner bereits die Grenze überquert
DasErste,was heutigenBesuchernbeim SchlagwortBerliner Mauer in den Sinn kommt, dürftewohl der Checkpoint Charlie sein. DDR-Folklore und Mauerkitschsind hier an einem Ortzentriert. ALAMY
1Kilometer
Ehemalige Berliner MauerEhemalige Berliner Mauer
WestenWesten
OstenOsten
BrandenburgerTor
Alexanderplatz
Spree
Berlin
NZZ Visuals/lea.
Nordbahnhof
Invalidenstrasse 131
Checkpoint Charlie
Friedrichstrasse43–45
Parlament der Bäume
Schiffbauerdamm
Black BoxKalterKrieg
Friedrichstrasse 47
Gedenkstätte Berliner Mauer
Bernauer Strasse 111
EastSide Mall
Tamara-Danz-Strasse 11
DeutschesHistorisches Museum
Unter den Linden2
DDR-Museum
Karl-Liebknecht-Strasse 1
AlteMünze
Molkenmarkt 2