Freitag, 20. September 2019 MOBILITÄT 71
Eigenständigkeit als Philosophie
Das in der Schweiz entwickelte Elektrorennrad Specialized S-Works Turbo Creo überzeugt im Test
mit Konnektivi tät, Leistung und Fahrkomfort.VON MARTIN PLATTER
Was für einTrubel! Am erstenRuhetag
der diesjährigenTour deFrance präsen-
tierte Specialized sein erstes Elektro-
rennrad, das S-Works Turbo Creo SL.
SogarFrankreichs temporärer National-
held Julian Alaphilippe, zu diesem Zeit-
punkt noch im Leadertrikot derTour,
schwang sich medienwirksam in den
Sattel. Der charismatische Specialized-
Firmengründer Mike Sinyardkonnte zu-
frieden sein.
Skeptischer Firmengründer
Das war nicht immer so, wie sich bei
einem Besuch in der internationalen
E-Bike-Entwicklungszentrale von Spe-
cialized in Cham bei Zug herausgestellt
hat.Marketingmanager Dominik Geyer
sagt: «Anfangs war Mike gar nicht be-
geistertvon der E-Bike-Euphorie seiner
Entwicklungsingenieure. Er hatte das
Bild von den plumpenKomfort-E-Bikes
der erstenGeneration vorAugen. Das
hatte für ihn überhaupt nichts mitRad-
fahren zu tun.» Als man sich im Unter-
nehmen intensiver mit der Materie E-
Bike zu befassen begann und dazu die
Filiale in Cham gründete, verschwand
Sinyards Skepsis. Bereits das erste
Turbo-Alltagsrad – damals noch mit
dem geräuschlosen Nabenmotorvon Go
Swissdrive – stach bei der Präsentation
2012 aus dem Einerlei der E-Bikes her-
aus, die Antrieb undBatterie noch wie
Warzen auf demRahmen aufgepfropft
hatten.Das Turbo hatte bereits einen
formschlüssig in das Oberrohr integrier-
tenAkku,eine schnittige Silhouette und
fuh rsich ähnlich agil wie ein herkömm-
lichesFahrrad– nu r eben schneller. 2015
präsentierte das US-Unternehmen mit
dem Turbo Levo das erste E-Mountain-
bike, das sich mitkompletterSystem-
integration, üppigemFederweg, wuch-
tig bereiften 27,5-Zoll-Rädern im Boost-
Format und flüsterleisem Brose-Motor
ebenfalls bald zum Branchenstandard
aufschwang und kürzlich unter Alan
Hatherly den ersten E-MTB-WM-Ti-
tel gewann.
Mit dem S-WorksTurbo Creo wagt
sich Specialized nun erstmals auf da s an-
spruchsvolleParkett der E-Rennräder.
Bewusst hat man sich für einenkom-
pakten, nur 1,9 Kilo leichten Antrieb
entschieden, dessen Hersteller Specia-
lized geheim hält. Der Motor verstärkt
die Eigenleistung desFahrers «nur» um
100 Prozent bzw. 240 Watt, derweil her-
kömmliche E-Bike-Antriebe auf dem
Papier bis zu viermal stärker sind.In
der Praxis machte sich das allerdings
weit wenigerdeutlich bemerkbar,als es
die Zahlen vermuten lassen.Wir haben
uns beimFahrtest bewusst für das etwas
schwerereTurbo Creo SL Expert Evo
mit voluminöser Radquer-Bereifung
entschieden. Es erlaubte auch abseits
befestigter Strassen ein zügigesVor-
wärtskommen und ermöglichte mehr
Kreativität bei derRoutenwahl. Stets
war der ein Kilo leichte Zusatzakku mit
160Wattstunden im eigens dafür gestal-
teten Flaschenhalter am Sattelrohr da-
bei. Zusammen mit dem zumLaden
nicht entfernbaren 320-Wh-Stromspen-
der im Unterrohr stieg damit die Akku-
kapazität auf 48 0Wh be i einem Gesamt-
gewicht von 13,7 Kilo ohnePedale.
In leicht coupiertem Gelände ver-
spricht Specialized so eineReichweite
von etwa180 Kilometern. In derrealen
Welt bei angenehmen23 Grad haben
wir 100 km und bis1750 Höhenmeter
mit einerDurchschnittsgeschwindigkeit
von 24 bis 27 km/h erreicht. Diese An-
gaben beziehen sich auf einen 78 Kilo
schweren, durchschnittlich trainierten
Hobbyfahrer mittleren Alters, der ge-
radeaus etwa eine Eigenleistung von 200
bis 230Watt zu tr eten vermag.Am Berg
stieg diese Leistung auf durchschnitt-
lich 273Watt während 20 Minuten. So
bescheinigte es das Garmin-Navi, das,
über die Ant-Plus-Schnittstelle mit dem
Turbo Creo verbunden, auch Leistungs-
daten aufzeichnen kann. Gekoppelt via
Bluetooth mit dem Smartphone wie-
derum lassen sich über die Mission-Con-
trol-App derSystemzustand vonMotor
undAkkus auslesen, Leistungs- undAn-
sprechverhalten feintunen undTouren
aufzeichnen.
StörendesMotorengeräusch
Nicht nur dieKonnektivität und diein-
tuitiv zu bedienende Benutzeroberflä-
che haben gefallen:Auch ohneRenn-
radbereifung und Motorunterstützung
rollte das Creo Evo fast so leicht wie ein
herkömmlichesRennvelo. Der Rahmen
ist stabil und wendig. Dank der Lenker-
dämpfung, die rund zwei Zentimeter
Federweg über dem oberen Lenklager
ermöglicht, war dasFahrgefühl dennoch
nicht bretthart.Dass diePedale wegen
der Breite des Motorsetwas weiter aus-
einanderstehen (erhöhter Q-Faktor),
fiel imTest nicht negativ auf. Der An-
triebreagierte sehr feinfühlig aufPe-
daldruck, unterstützte bis zu einer Ge-
schwindigkeit von 27 km/h und hängte
sich dann ruckfrei aus.Mittels Druck-
knopf auf dem Oberrohr kann zwischen
drei Unterstützungsstufen gewählt wer-
den. Bergauf lieferte der Motor auch
bei niedrigerTretkadenz ein gut ver-
wertbares Drehmoment; Specialized
beziffert es auf 35 Newtonmeter.Will-
kommen ist, dass die Kraft auch bei
einer Kadenz um 90Pedalumdrehun-
gen noch gut spürbar vorhanden ist.
Das treibt in kurzen, ruppigen Steigun-
gen am Ende von langenTouren die
Säure und damit den Schmerz aus den
Beinen.Das Einzige, was nicht gefal-
len hat, war das zuweilen aufdringliche
Motorengeräusch.Je höher dieTrittfr e-
qu enz, desto hochfrequenter surrte der
Antrieb.Vor allem beim Bergauffahren
störte das.ImWiegetritt dagegen ist der
Motor nahezu unhörbar.Andere Zent-
ralmotorenhersteller wieFazua undBa-
fang, die ebenfalls auf kleinereTrieb-
werke mit geringerer Leistung setzen,
zeigen, dass es auch mit dezenterer Ge-
räuschkulisse geht. Bezüglich Gesamt-
konzept schafft es Specialized aber ein-
mal mehr, den Massstab zu setzen, lässt
sich dies jedoch auch entsprechend be-
zahlen:Die Listenpreisebeginnen bei
9499 Franken und enden bei16 499
Franken für die auf 250 Stück limitierte
Founder’sEdition.
Mit den zwei Akkus im Unterrohr und im Flaschenhalter hat das Elektrorennrad Specialized S-WorksTurbo Creoeine im Praxistest erzielteReichweite von 100Kilometern. BILDER MARTIN PLATTER
Mit dem S-Works
Turbo Creowagtsich
Specialized erstmals
auf das anspruchsvolle
Parkett der E-Rennräder.
Auchohne
Rennradbereifungund
Motorenunterstützung
rollt das CreoEvo
fast soleicht
wie einherkömmliches
Rennvelo.