Die Welt Kompakt - 18.09.2019

(vip2019) #1

E


iner der letzten war-
men Sommerabende,
eine historische Alt-
stadt, die zum Welt-
kulturerbe gehört, und guter
Wein aus dem Elsass – bei solch
einer verführerischen Mischung
muss selbst die anspruchsvolls-
te Agenda zurückstecken. Und
so saß Ursula von der Leyen, die
designierte Präsidentin der Eu-
ropäischen Kommission, am
Montagabend in kleiner Runde
beim Abendessen in der Alt-
stadt von Straßburg. Deutlich
sichtbar für alle Vorbeigehen-
den hatte die CDU-Politikerin
einen lustigen Abend.


VON TOBIAS KAISER
AUS STRASSBURG

Sie wird ihn genossen haben,
denn die darauf folgenden Tage
dürften von der Leyen nur we-
nig Auszeit bieten: Die Politike-
rin ist während der Sitzungswo-
che, zu der das Europäische Par-
lament (EP) einmal im Monat
nach Straßburg kommt, unter-
wegs um für ihr Kabinett zu
werben. Die Parlamentarier
müssen den Personalvorschlä-
gen von der Leyens im Oktober
zustimmen, damit die neue
Kommission im November
pünktlich ihre Arbeit aufneh-
men kann.
Bei der Kampagne für ihre
Mannschaft muss sich von der
Leyen nicht nur in dem noto-
risch schwierig zu navigieren-
den Parlamentsgebäude zu-
rechtfinden, dass den Ruf hat,
durch seine langen Korridore,
kryptischen Raumbezeichnun-
gen und unzähligen Sicherheits-
schleusen Praktikanten und
fffrisch gebackene Europaabge-risch gebackene Europaabge-


ordnete zu Tränen- und Wut-
ausbrüchen zu bringen. Von der
Leyen, die im Gebäude immer
wieder mit einem ganzen Tross
von Begleitern auftaucht, vom
Personenschützer bis zum Spre-
cher, dürfte dabei aber kompe-
tente Unterstützung haben.
Auf weit schwierigerem Ter-
rain ist die Politikerin viel stär-
ker auf die eigenen Fähigkeiten
angewiesen: Wenn es darum
geht, die Parlamentarier von ih-
rem Team zu überzeugen. Dass
viele Abgeordnete sich nicht
nur als Kontrolleure der EU-
Kommission verstehen, son-
dern ein Stück weit auch als Op-
position zur EU-Verwaltung,
macht jede Abstimmung im EP
schwierig. Vor der Abstimmung
über ihre Kandidaten muss von
der Leyen allerdings auch die
unterschiedlichen Interessen
zwischen den einzelnen politi-
schen Gruppen im Parlament
austarieren. Das bedarf all ihrer
politischen Taktik.
Damit die Kommission ihre
Arbeit aufnehmen kann, müs-
sen die Europaabgeordneten
das gesamte Gremium abseg-
nen – oder es geschlossen ab-
lehnen. Letzteres ist praktisch
ausgeschlossen, wahrscheinlich
ist aber, dass die Parlamentarier
einzelne oder mehrere desig-
nierte Kommissare ablehnen
und von der designierten Kom-
missionspräsidentin verlangen,
neue Kandidaten aufzustellen,
bevor das Parlament das Gremi-
um bestätigt.
Von der Leyen hat durch-
wachsene Erfahrung mit den
Stimmungen im Parlament ge-
macht. Ihre eigene Wahl zur
Kommissionspräsidentin im Ju-
li ging knapp aus: Von 747 Abge-

ordneten stimmten damals 383
für von der Leyen – gerade ein-
mal neun mehr als nötig. Da-
mals waren viele Parlamenta-
rier, insbesondere die deut-
schen SPD-Vertreter, verärgert,
nachdem die europäischen Re-
gierungschefs jeden der vor der
Europawahl vereinbarten Spit-
zenkandidaten für das Amt des
Kommissionspräsidenten ver-
worfen und sich auf die Überra-
schungskandidatin von der
Leyen geeinigt hatten. Solch ei-
ne Zitterpartie solle sich nicht
wiederholen.

Wie viel in der Kommunikati-
on mit den Parlamentariern
schief laufen kann, musste die
designierte Kommissionspräsi-
denten bereits feststellen, als
sie in der vergangenen Woche
die Kompetenzverteilung in ih-
rem Kabinett veröffentlichte.
Für ihr Übergangsteam war es
zwar ein großer Erfolg, dass bis

zur Pressekonferenz, bei der die
Verteilung und die Zuschnitte
der Ressorts präsentiert wur-
den, keine Details nach außen
gedrungen waren.
Dann allerdings entlud sich
noch während der Vorstellung
ein digitaler Shitstorm über von
der Leyen. Der bisherige Chef-
Kommunikator der EU-Kom-
mission, der Grieche Margaritis
Schinas, soll künftig als einer
von acht Vizepräsidenten zu-
ständig sein für ein Portfolio,
dass „Schutz der europäischen
Lebensart“ heißen soll und auch
die Themen Migration und
Fachkräftezuwanderung um-
fasst. Noch während der Prä-
sentation setzten Parlamenta-
rier entrüstete Tweets ab. Ihre
Kritik: Die Wortwahl sei von der
extremen Rechten entliehen.
Von der Leyen hat die Wahl
des Titels zwar inzwischen in
einem Gastbeitrag für WELT
begründet, aber die Entrüstung
hält bis heute an. „Von der Ley-
en hat erklärt, was sie unter der
europäischen Lebensweise ver-
steht“, sagt beispielsweise Irat-
xe García Pérez, die Präsidentin
des sozialdemokratischen
Gruppe im Parlament. „Aber
uns befremdet weiterhin, dass
ein Ressort mit diesem Namen
geschaffen wird und mit dem
Thema Migration verknüpft
wird. Wir werden weiter darauf
drängen, das zu ändern.“
Schon am Donnerstag be-
kommt von der Leyen eine Ge-
legenheit, die Namensgebung
noch einmal zu erklären – oder
gar zu revidieren. Dann wird sie
den Fraktionsvorsitzenden der
politischen Gruppen im Euro-
päischen Parlament Rede und
Antwort stehen. Es ist für die

Politikerin die erste offizielle
Gelegenheit nach der Vorstel-
lung ihrer Kommission, vor den
Vertretern aller Gruppen im
Parlament für ihre Personalent-
scheidungen zu werben. Dabei
könnte von der Leyen als Zei-
chen von gutem Willen vor al-
lem gegenüber den Sozialdemo-
kraten und den Grünen den Ti-
tel von Schinas Ressort ändern
und einen neuen Namen aus
dem Hut zu zaubern. Damit
würde sie diese seit Tagen wa-
bernde Diskussion beenden.
Die umstrittene Namenswahl
ist allerdings nur einer von vie-
len Kritikpunkten an der neuen
Kommission. Die Grünen bei-
spielsweise monieren, dass der
Klimaschutz zu kurz komme,
und von der Leyens eigene Par-
teifamilie EVP wünscht sich,
dass auch Kultur und Forschung
in den offiziellen Titeln der
Kommissare auftauchen.
Ganz abgesehen davon, dass
gegen einige der Nominierten
VVVerfahren wegen Korruptions-erfahren wegen Korruptions-
verdacht laufen oder liefen, et-
wa gegen die Französin Sylvie
Goulard oder die Rumänin Ro-
vana Plumb. Erst am Wochenen-
de wurde bekannt, dass es gegen
den Belgier Didier Reynders, der
das Thema Rechtsstaatlichkeit
verantworten soll, Vorwürfen
wegen Korruption und Geldwä-
sche gibt. All das wären Begrün-
dungen, um Kandidaten abzu-
lehnen, und von der Leyen wird
die betroffenen Nominierungen
gegenüber den Abgeordneten
verteidigen müssen.
Von der Leyens Aufgabe wird
dadurch zusätzlich kompliziert,
dass die Anhörungen wie auch
die Abstimmungen über die
Kandidaten immer auch den po-
litischen Interessen der Partei-
enfamilien im Europäischen
Parlament folgen. Die konserva-
tiven Abgeordneten der Partei-
enfamilie Europäische Volks-
partei (EVP), zu der CDU und
CSU gehören, wollen ihre Kom-
missare durchbringen, genauso
wie die Abgeordneten der sozi-
aldemokratischen Parteien-
gruppe S&D und der liberalen
Gruppe RENEW.
Und so kursieren auf den Flu-
ren des Parlaments zwei wahr-
scheinliche Szenarien: Dass von
der Leyen entweder gar keinen
Kommissar austauschen muss,
weil sich die Fraktionen darauf
verständigen, gegenseitig keine
Kandidaten auszusortieren.
Oder dass die designierte Kom-
missionspräsidentin, wenn es
schlecht für sie läuft bei der Ab-
stimmung der drei Gruppen un-
tereinander, gleich drei Kom-
missare auswechseln muss – je-
weils einen von EVP, S&D und
RENEW. Als gefährdete Kandi-
daten in solch einem Szenario
gelten die Rumänin Rovana
Plumb (S&D), der Belgier Reyn-
ders (RENEW) und der Ungar
László Trócsányi, der in der
rechtsnationalen Regierung von
Viktor Orbán Justizminister
war. Die ungarische Fidesz-Par-
tei, deren Mitglied er ist, war
Teil der EVP, ist aber gegenwär-
tig suspendiertes Mitglied.

UUUrsula von der Leyen vor dem mächtigen Kommissionsgebäude in Brüssel rsula von der Leyen vor dem mächtigen Kommissionsgebäude in Brüssel


GETTY IMAGES

/ THIERRY MONASSE

Von der Leyen im Labyrinth,


das sich Europa nennt


Die Vorbehalte gegen einige Kommissions-Kandidaten sind groß – teilweise sogar


wegen des Verdachts auf Korruption und Geldwäsche. Wann steht die Mannschaft?


,,


Uns befremdet


weiterhin,


dass ein Ressort


mit diesem


Namen


geschaffen wird


Iratxe García Pérez,
Präsidentin des
sozialdemokratischen Gruppe
im Europaparlament

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,18.SEPTEMBER2019 POLITIK 7

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