Süddeutsche Zeitung - 12.09.2019

(Brent) #1
von harald freiberger

München– FranzHolzner hoffte, dass
sich die Sache mit ein paar Mausklicks erle-
digen ließe. Im August hatte ihn seine
Bank angeschrieben, er müsse sich für ein
neues Verfahren registrieren lassen, um
weiter mit der Kreditkarte im Internet zah-
len zu können. Nach seinem Urlaub mach-
te er sich Anfang September daran. „Es
wurde ein Irrlauf, der mehrere Tage dauer-
te“, sagt der Münchner, der seinen echten
Namen nicht in der Zeitung lesen will.
Die Registrierung im Internet klappte
nicht, bei der Bank sagte man ihm am Tele-
fon, dass für Kreditkarten eine externe Ser-
vicegesellschaft zuständig ist, dort gab
man ihm eine falsche Auskunft. Am Ende
landete Holzner am Schalter seiner Bank,
wo ihm eine Beraterin half. Der Prozess
dauerte mehr als eine Stunde, am Ende
stöhnte selbst die Mitarbeiterin: „So rich-
tig intuitiv ist das nicht.“
Den Prozess müssen derzeit viele Bank-
kunden in Deutschland absolvieren, denn
an diesem Samstag ist der Stichtag für die
neue Zahlungsdiensterichtlinie mit dem
Namen PSD2. Der Begriff klingt sperrig,
doch die Sache betrifft jeden Bankkunden
in Europa. Ein wesentlicher Teil davon ist
die sogenannte Zwei-Faktor-Authentifizie-
rung: Es reicht künftig nicht mehr, sich bei
Geldtransaktionen per Computer oder
Smartphone zum Beispiel nur mit einem
Passwort auszuweisen. Künftig braucht es
dafür immer zwei Dinge aus unterschiedli-
chen Kategorien, also zum Beispiel ein
Passwort auf dem Computer und zusätz-
lich eine Bestätigung per Transaktions-
nummer (TAN) oder per Fingerabdruck
auf dem Smartphone.

Die Motive für die neue Richtlinie sind
positiv, schließlich erhöhen zwei Faktoren
die Sicherheit. Doch die Regelung hat auch
negative Folgen. So mussten die Banken ih-
re Software für den Zahlungsverkehr kom-
plett umstellen – ein komplizierter Pro-
zess. Handlungsbedarf gibt es auch für
Kunden: Das fängt schon beim Einwählen
ins Online-Banking an. Künftig ist auch da-
für eine TAN nötig, die etwa per Smart-
phone bestätigt wird; bisher reichte eine
PIN, die der Nutzer am Computer eingab.
Ein anderes Beispiel: Die Banken schaf-
fen im Zuge der neuen Richtlinie die alten
Papier-TAN-Listen ab, die als zu unsicher
gelten. Wer sie noch nutzt, muss sich für
ein neues Verfahren registrieren lassen
und umsteigen. Die Banken nutzen ver-
schiedene Methoden: Die Push-TAN
kommt per Handy-App, die Photo-TAN
nutzt die Smartphone-Kamera. Ein TAN-
Generator ist ein Zusatzgerät, das die TAN
über den Chip auf der Karte erzeugt. Noch
gibt es zudem die SMS-TAN, die aber über
kurz oder lang ebenfalls ausläuft. Der Pro-
zess, um an einen zweiten Faktor zu kom-
men, ist mitunter jedoch alles andere als
trivial. Wer die Registrierung noch nicht er-
ledigt hat, ist damit fast schon zu spät
dran. Schließlich tritt die Umstellung be-
reits am Samstag in Kraft.
Was da genau auf sie zukommt, wissen
viele Kunden wenige Tage vor der Umstel-
lung nicht. „Die Information durch die Ban-
ken war sehr heterogen“, sagt Dieter Heili-
ger, Zahlungsverkehrsexperte bei der Bera-
tungsgesellschaft Capco. „Manche Banken
informierten spät, versteckt oder über-
haupt nicht.“ Bei anderen habe es in den
Schreiben vor Fachausdrücken gewim-
melt, sodass die Kunden gar nicht verstan-
den hätten, worum es geht. „Deshalb ha-
ben viele gar nicht wahrgenommen, dass
sich etwas ändert.“ Wer die Kriterien für
die Zwei-Faktor-Authentifizierung nicht
erfüllt, der kann im schlimmsten Fall von

Samstag an sein Online-Banking nicht
mehr nutzen.
Was die Sache besonders kompliziert
macht: Jede Bank regelt die Details anders,
jede informiert auf ihre eigene Art und Wei-
se. Es gibt kaum allgemeine Grundsätze,
an die sich Kunden halten können.
Auch Kreditkartennutzer sind betrof-
fen. Wenn sie bisher online per Karte ein-
kauften, reichte es, Namen, Kreditkarten-
nummer und eine dreistellige Prüfzahl ein-
zugeben. Künftig ist ein zweiter Faktor da-
für nötig, in vielen Fällen ist das eine SMS
auf das Smartphone, die der Nutzer bestäti-
gen muss. Erst dann gilt die Transaktion
als abgeschlossen.
Bei den Kreditkarten ist die Lage beson-
ders vertrackt. Denn die deutsche Finanz-
aufsicht Bafin hat Ende August den Ter-
min 14. September für die Zwei-Faktor-
Pflicht bei der Bezahlung per Kreditkarte
im Internet verschoben. Der Grund war,
dass die Handelsverbände Alarm schlu-
gen: Viele Online-Händler seien noch nicht
bereit für das neue Zwei-Faktor-Verfahren


  • und das, obwohl der Termin lange be-
    kannt war. „Die Bafin befürchtete ein Cha-
    os im Online-Handel, die Händler haben
    Angst, dass Kunden die Transaktion abbre-
    chen, wenn sie zusätzlich etwas eingeben
    müssen“, sagt Heiliger. Nun dürfen Händ-
    ler per Kreditkarte vorerst weiter nach
    dem alten Verfahren zahlen lassen. Einen
    neuen Termin gibt es noch nicht.


Für Kunden kann es aber trotzdem Pro-
bleme geben. Denn Händler, die das neue
Verfahren schon nutzen, werden von Sams-
tag an von Kunden eine Bestätigung per
SMS verlangen. „Bei ihnen können Kun-
den gegebenenfalls nicht mehr online per
Kreditkarte einkaufen, wenn sie nicht ent-
sprechende Vorkehrungen getroffen ha-
ben“, sagt Experte Heiliger. Das werde die
Irritation der Kunden noch einmal erhö-
hen. Einen Vorgeschmack darauf, was al-
les schieflaufen kann, bekamen Anfang
der Woche schon die Kunden der Post-
bank. Sie stellte ihre Software bereits am
vergangenen Sonntag auf die neue Richtli-
nie um. Bei Online-Überweisungen rei-
chen Passwort und SMS-TAN künftig
nicht mehr, die Kunden müssen die eigene
„BestSign“-App der Postbank oder einen
TAN-Generator nutzen. Doch der Über-
gang vom alten auf das neue System klapp-
te nicht reibungslos. 1500 Kunden be-
schwerten sich auf einschlägigen Internet-
Seiten, sie kamen zum Teil zwei Tage lang
nicht ins System und konnten keine Über-
weisungen in Auftrag geben.
Was ist der Grund dafür, dass die Syste-
me offensichtlich nicht richtig funktionie-
ren? „Die Kommunikation zwischen Ban-
ken und Softwareanbietern ist suboptimal
gelaufen“, sagt Berater Heiliger. Er glaubt,
dass der Branche ein heißes Wochenende
bevorsteht: „Es dürfte noch bei einigen
Banken zu Problemen kommen“, sagt er.

Der Japan-Boykott südkoreanischer Bier-
trinkerinnenund Biertrinker ist mittler-
weile im dritten Monat. Noch immer gibt
es keine Berichte von Entzugserscheinun-
gen. Stattdessen sagen die Wirtschafts-
daten für August, dass Japans Bierexport
nach Südkorea im Vergleich zum Vorjahr
um 97 Prozent eingebrochen sei. Und es
leiden nicht nur Brauereien aus Japan. In
sozialen Medien kursieren Seiten für den
japan-kritischen Bierfreund, die alles auf-
listen, was aus politischen Gründen gera-
de nicht trinkbar ist: also auch nicht-
japanisches Bier, dessen Brauerei einer
japanischen Mutterfirma gehört.
Wenn Südkorea boykottiert, boykot-
tiert es richtig. Das ist die Lehre aus den
vergangenen Wochen des eskalierenden
Streits zwischen Japan und Südkorea.
Korea war zwischen 1910 und 1945 von
Japan besetzt, das Verhältnis der beiden
Staaten ist deshalb grundsätzlich kompli-
ziert. Aber es ist besonders schlecht, seit
Südkoreas Oberster Gerichtshof geurteilt
hat, dass Zwangsarbeitern aus der Besat-
zungszeit von japanischen Firmen wie
Mitsubishi Heavy Industries Entschädi-
gungszahlungen zustehen. Japan sagt,
solche Ansprüche seien mit einem Ab-
kommen von 1965 abgegolten. Und als

wollte sich die Regierung des konservati-
ven Premiers Shinzō Abe rächen, ver-
schärfte sie im Juli die Ausfuhrkontrollen
für einzelne High-Tech-Rohstoffe und
nahm Südkorea von ihrer Liste bevorzug-
ter Handelspartner; offiziell wegen unge-
nügender Exportkontrollen Südkoreas.
Nun herrscht ein kleiner kalter Krieg
zwischen den Ländern, die südkoreani-

sche Regierung des liberalen Präsidenten
Moon Jae-in hat deshalb sogar ein
Geheimdienstabkommen aufgekündigt.
Und die Menschen veranstalten nicht nur
mächtige Anti-Abe-Demonstrationen.
Sie treffen Japan an der empfindlichsten
Stelle: beim Handel. Japans Bierbrauer
erleben die besagten Einbrüche. Japans
Autoindustrie verzeichnet einen Verlust
um 57 Prozent. Und trotz des boomenden
Tourismus gab es im Juli etwa 0,9 Pro-
zent weniger Einnahmen durch zahlende
Ausländer, weil Südkoreaner ihren eigent-
lich geliebten Japan-Urlaub stornierten.
Südkoreas Basis fühlt sich frisch und
frei beim Boykottieren. „Das ist nichts,
was die Regierung von uns wollte“, sagt
Namyeon Kim aus Daegu. „Wir boykottie-
ren die Japaner ganz von selbst“, sagt die
junge Frau. Es wirkt sogar so, als würden
Kommunen den Bürgern folgen in dieser
Sache: Vergangene Woche beschlossen
Seoul und Busan, die größten Städte Süd-
koreas, 284 japanische Firmen, die im
Zweiten Weltkrieg Japans Armee unter-
stützten, als „Kriegsverbrecher-Firmen“
auszuzeichnen; natürlich verbunden mit
einer Boykott-Empfehlung. Es mag auch
in Südkorea Boykott-Kritiker geben, aber
sehr viele machen mit, auch Prominente.

Die Schauspielerin Lee Si-young hat zum
Beispiel mitgeteilt, sie habe ihre Tischten-
nisausrüstung ausgetauscht, weil die von
japanischen Herstellern war. Das müsse
ja nicht sein, koreanisches Sportzeug sei
genauso gut, schrieb sie auf Instagram
und fügte hinzu: „Was jetzt passiert, wird
auch Teil unserer Geschichte sein.“
Japans Regierung wirkt unbeein-
druckt. Und die Firmen schauen macht-
los zu. Autobauer Nissan denkt laut
darüber nach, ob er aus dem Südkorea-
Geschäft aussteigen soll. Andere warten
ab. „Schwer zu sagen, wie sich die
Verkaufszahlen in Südkorea entwickeln
werden“, sagt ein Toyota-Sprecher, „wir
schauen uns die Lage genau an.“ Die Bier-
industrie ist zurückhaltend mit Kommen-
taren, vor einigen Wochen sagte ein Funk-
tionär der Asahi-Brauerei: „Wir können
nicht vorhersehen, wie lange der Einfluss
des Boykotts andauert.“
Nicht einmal die Boykottierenden
selbst können das. „Der Boykott dauert
viel länger, als ich gedacht hätte“, sagt die
Frau aus Daegu. Aber sie scheint ihn gut
aushalten zu können. Das ist die erschre-
ckende Erkenntnis für Nippons Brauerei-
en: In Südkorea gibt es ein Leben nach
dem japanischen Bier. thomas hahn

DEFGH Nr. 211, Donnerstag, 12. September 2019 HMG 21


Nutzer Server

Zwei-Faktor-Authentifizierung


Am 14. September tritt die neue Richtlinie PSD2
für den Zahlungsverkehr in der EU in Kraft

SZ-Grafik;Quelle: Deutsche Bundesbank

Aus diesen drei Bereichen müssen beide
Faktoren stammen

Wissenz.B. Passwort oder Sicherheitsfrage
Besitzz.B. Bestätigung per Smartphone
Biometriez.B. Fingerabdruck oder Irisscan

Faktor 1
Nutzer gibt z.B.
Passwort ein

wenn korrekt

Server

Anforderung
des zweiten Faktors
(z.B. durch eine SMS)

Faktor 2
Nutzer bestätigt
z.B. per Smartphone

Programmiertes Chaos


Am Samstagverändern die Banken die Regeln für das Bezahlen im Internet. Das erhöht die Sicherheit. Doch es hakt
an vielen Ecken und Enden. Experten erwarten, dass zahlreiche Kunden Probleme bekommen

Lorena Gonzalez hat schon einige Gesetze
auf den Weg gebracht, die Kalifornien ge-
prägt haben. Die demokratische Abgeord-
nete hat maßgeblich dazu beigetragen,
dass der Mindestlohn im US-Bundesstaat
jährlich um einen Dollar steigt; 2020 wird
er bei 15 Dollar pro Stunde liegen. Die
48-Jährige setzte sich dafür ein, die Ge-
sundheitsvorsorge zu verbessern, die Jus-
tiz fairer zu gestalten und den Arbeitneh-
merschutz zu erhöhen. Das MagazinPoliti-
cozählte sie 2016 zu den Top 50 der „Den-
ker, Macher und Visionäre, die die amerika-
nische Politik verändern“. Der Gesetzent-
wurf, den sie nun einbrachte, könnte eine
ganze Industrie in den USA umkrempeln.
Gonzalez will den sogenannten Gig-
Workern helfen: Das sind unfreiwillig Selb-
ständige, die ihr Geld über viele kurzfristi-
ge Aufträge verdienen, die meist von On-
lineplattformen vermittelt werden. Die
Gig-Worker sind keine Angestellten, son-
dern beispielsweise Auftragnehmer von
Lieferdiensten wie Dashdoor oder Fahrten-
vermittlern wie Uber und Lyft. Gonzalez
tritt für sie ein. „Ich spreche von Leuten,
die in ihren Autos übernachten, die nicht
krankenversichert sind und sich am Ende
des Monats überlegen müssen, was ihnen
zum Essen bleibt“, sagt die Abgeordnete.
In diesen Tagen stehen die Gig-Worker
am Straßenrand der großen Städte Kalifor-
niens. Sie fordern mehr Rechte und Geld.
Sie halten ihre Botschaft auf Schildern
hoch, gehen gemeinsam auf Protestmär-
sche und fahren in Kolonne durch Kalifor-
nien. Die meisten von ihnen sind Uber-Fah-
rer. Gonzalez kritisiert, der Fahrdienstver-
mittler, der im Mai an die Börse ging, berei-
chere sich auf Kosten der Allgemeinheit.
„Als Gesetzgeber werden wir nicht guten
Gewissens zulassen, dass Trittbrettfahrer
weiterhin ihre eigenen Geschäftskosten
auf Steuerzahler und Arbeitnehmer abwäl-
zen“, sagt sie. „Es ist unsere Aufgabe, uns
um arbeitende Männer und Frauen zu


kümmern und nicht um die Wall Street
und Manager, die mit Börsengängen
schnell reich werden wollen.“
Gonzalez ist die Tochter eines mexika-
nischstämmigen Erntehelfers und einer
Krankenschwester. Sie kämpft schon ihre
gesamte politische Karriere für mehr Ar-
beitnehmerrechte. Die Uber-Proteste be-
gleitete sie von Anfang an. Vor Wochen
fing sie an, einen Gesetzentwurf zu schrei-
ben, der aus den Gig-Workern Angestellte
macht. Der kalifornische Senat hat dem
Entwurf in der Nacht zum Mittwoch mit
klarer Mehrheit zugestimmt. Es fehlt nur
noch die Unterschrift von Gouverneur Ga-
vin Newsom, bis es 2020 in Kraft treten
kann. Newsom hat seine Zustimmung be-
reits zugesichert.
Kein Wunder, dass Uber und Lyft gegen
das Gesetz Sturm laufen. Beide finanzie-
ren PR-Initiativen dagegen und machen
den Fahrern Druck. Selbst wenn nur ein
Teil der kalifornischen Uber- und Lyft-Fah-
rer zu Angestellten würden, stünde das Ge-
schäftsmodell der Online-Konzerne infra-
ge, erklären die Unternehmen. Die Kosten
für die Vermittler würden stark steigen.
Gonzalez sagt, sie fordere nur, dass die
Fahrer einen fairen Anteil am Gewinn er-
halten. „Die Unternehmen gehen an die
Börse, machen Millionen Umsätze und
sind Milliarden Dollar wert.“ 2015 nannte
das MagazinThe AtlanticGonzalez „die ka-
lifornische Demokratin, die die nationale
Agenda festlegt“. Es sieht so aus, dass es
auch diesmal so kommen könnte. Auch an-
dere amerikanische Bundesstaaten neh-
men sich den Gesetzentwurf zum Vorbild.
Die Demokratin hätte ein weiteres Mal ein
Gesetz auf den Weg gebracht, das die Ar-
beitnehmerrechte in den USA stärkt. Die
Uber-Fahrer könnten dann eine Gewerk-
schaft gründen und würden den Mindest-
lohn verdienen. So sähe er aus, der Ameri-
can Dream – aus Gonzalez’ Sicht.
maximilian helmes

Flasche leer


Im komplizierten Streit mit Japan zeigen die Südkoreaner dem großen Nachbarn, was ein Boykott ist


von markus zydra

M


ario Draghi möchte die Geld-
schleusen der Notenbank an die-
sem Donnerstag noch einmal
weit öffnen. Der Strafzins soll erhöht wer-
den, um Banken zu zwingen, mehr Kredi-
te zu vergeben. Sogar ein Neustart des An-
leihekaufprogramms ist im Gespräch.
Man fragt sich zu Recht, was das soll. Euro-
pas Wirtschaft schwächelt, aber eine Kri-
se der Euro-Zone ist nicht in Sicht. Doch
der scheidende EZB-Präsident verweist
auf sein Mandat, das ihm keine andere
Wahl ließe: Die Notenbank müsse für sta-
bile Preise sorgen. Tatsächlich schreibt
das der EU-Vertrag vor. Nun ist es aber so,
dass die Preise stabil sind. Die Geldentwer-
tung ist niedrig. Im Juli lag die Inflations-
rate im Euro-Raum bei einem Prozent. Im
Januar waren es 1,4 Prozent, vor einem
Jahr noch 2,1 Prozent. Die Inflation sinkt,
und das ist gut, solange von einer womög-
lich gefährlichen Deflation nichts zu spü-
ren ist. Warum greift die Notenbank trotz-
dem ein?


Die EZB hat ein großes Problem. Sie
hält an altem Denken fest – und steuert da-
her in die falsche Richtung. Im Jahr 2003
beschloss der EZB-Rat, das Ziel der Geld-
wertstabilität zu konkretisieren. Seit da-
mals möchte die Notenbank „die Inflati-
onsrate auf mittlere Sicht unter, aber na-
he zwei Prozent halten“. Ja, so kompliziert
klingt es, wenn Notenbanker Ziele haben.
Was man unter „mittlere Sicht“ versteht,
ob drei oder 20 Jahre – wird nicht verra-
ten. Ob „unter, aber nahe zwei Prozent“
schon mit 1,6 Prozent zufriedenstellend er-
reicht ist oder erst bei 1,9 Prozent, das
wird flexibel gehandhabt. Fest steht aber,
dass die EZB meint, eine Teuerungsrate
von einem Prozent sei zu niedrig.
Braucht die Euro-Zone also eine höhere
Inflation, was Draghis Maßnahmen zu-
mindest auf dem Papier rechtfertigen wür-
de? Die Bevölkerung hegt da Zweifel. Das
öffentliche Empfinden geht eher in die
Richtung, dass bestimmte Dinge schon
sehr teuer sind. Wohnen zum Beispiel, wo-
bei dieser starke Anstieg der Immobilien-
preise im Verbraucherpreisindex, an dem
sich die EZB orientiert, noch nicht einmal
ausreichend abgebildet ist.
Auch Wissenschaftler sind sich unsi-
cher, ob das Inflationsziel von zwei Pro-


zent, an dem sich seit den 1990er-Jahren
weltweit fast alle Notenbanken orientie-
ren, noch zeitgemäß ist. Die akademische
Gemeinde steht wegen der global niedri-
gen Inflation vor einem Rätsel. Eigentlich
hätte die Teuerungsrate in den westlichen
Industriestaaten angesichts der lockers-
ten Geldpolitik aller Zeiten rasant anstei-
gen müssen – doch die Realität folgte
nicht den ökonomischen Lehrbüchern.
In der Debatte kursieren viele Erklärun-
gen: Womöglich habe sich im globalen
Wirtschaftssystem etwas grundlegend
verändert, was den Preisdruck tendenzi-
ell hemmt, etwa weil die Menschen älter
werden und mehr sparen. Oder bleiben
die Preise niedrig, weil die Löhne, anders
als früher, nicht mehr in dem Maße stei-
gen, als dass sie die Teuerungsrate be-
schleunigen könnten? Die Experten grü-
beln darüber, was heute anders ist.
Die akademische Unsicherheit spiegelt
sich in der Geldpolitik der EZB nicht aus-
reichend wider. Die Notenbank hält robo-
tergleich an dem Zwei-Prozent-Ziel fest,
was der EZB-Rat jederzeit ändern könnte.
Draghi wollte an diesem Ziel nicht rüt-
teln. Er fürchtete um die Glaubwürdigkeit
der EZB an den Finanzmärkten. Aber er
unterschätzte die Gefahr, dadurch die
Glaubwürdigkeit der Institution im Rest
der Gesellschaft zu verspielen. Der EZB
droht ein Legitimationsdefizit. Durch ihre
lockere Geldpolitik werden Reiche rei-
cher, während der Großteil der Bevölke-
rung deutlich weniger profitiert. Die Straf-
zinsgeldpolitik widerspricht dem markt-
wirtschaftlichen Grundsatz, dass Kredit-
aufnahme durch einen angemessen Risi-
kozins entschädigt werden sollte. Da-
durch fördert die Notenbank Preisblasen
an Immobilienmärkten und eine Zombi-
fizierung der Wirtschaft, weil unprodukti-
ve Unternehmen weiterleben.
Die EZB sollte ihre Geldpolitik daher
grundsätzlich überdenken. Das starre In-
flationsziel ist nicht mehr haltbar. Die No-
tenbank darf nicht alles machen, nur um
partout zwei Prozent Inflation zu erzwin-
gen. Das ist unverantwortlich. Vielen Bür-
gern ist es bestimmt lieber, wenn die Prei-
se nur 1,2 Prozent statt zwei Prozent stei-
gen. Die geldpolitischen Maßnahmen via
Leitzins und Anleihekäufe sind ausge-
reizt. Der Ankauf anderer Wertpapiere
wie Aktien würde nur die Spekulationsbla-
se antreiben. Die intellektuelle Herausfor-
derung für Draghis Nachfolgerin Christi-
ne Lagarde besteht darin, diese notwendi-
ge Neuausrichtung der Geldpolitik zu mo-
derieren. Europas Notenbank muss ihren
Instrumentenkasten neu sortieren.

WIRTSCHAFT


MehrSicherheit beim Online-Einkaufen bedeutet leider auch, dass es komplizierter wird. FOTO: DANIEL INGOLD/IMAGO

NAHAUFNAHME


„Esist unser Job,
für diese
arbeitenden Männer
und Frauen zu sorgen.“
Lorena Gonzalez
FOTO: AP

Der Export von japanischem Bier nach
Südkorea ist im August um 97 Prozent
eingebrochen. FOTO: BOB JANSEN / UNSPLASH

Uber-Schreck


Lorena Gonzalez kämpft für die Rechte von Fahrern


Die Europäische Zentralbank


arbeitet mit veralteten


Inflationszielen, das ist gefährlich


Oft wissen Kunden gar nicht,
was auf sie zukommt, weil
Banken schlecht informierten

EZB

Am Bürger vorbei

Free download pdf