SEITE 2·DONNERSTAG, 12. SEPTEMBER 2019·NR. 212 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
BERLIN,11. September
F
ast dreißig Jahre haben die Grünen
gebraucht, am Mittwoch war es
dann so weit. Da erfuhr der Slogan,
mit dem die Partei unter Führung des
stramm links stehenden Hans-Christian
Ströbele in den Bundestagswahlkampf
1990 gegangen war, unter der Reichstags-
kuppel eine sehr späte Bestätigung. „Alle
reden von Deutschland. Wir reden vom
Wetter“, hatten die Grünen kurz nach
dem Mauerfall verkündet. In der Haus-
haltsdebatte 29 Jahre später redeten tat-
sächlich alle vom Wetter, vom Klima ge-
nauer gesagt, und von der Nachhaltigkeit.
Jedenfalls fast alle. Die AfD-Fraktions-
vorsitzende Alice Weidel versuchte als
erste Rednerin der Debatte, das einstige
Topthema Migrationspolitik gegen den
übermächtigen Themenschwerpunkt Kli-
ma zu verteidigen. Doch vergebens. Als
Angela Merkel um Viertel nach neun ans
Pult trat, behandelte sie Weidels Versuch
nach der Devise „Nicht mal ignorieren“.
Merkel nannte den Einsatz für den Klima-
schutz eine „Menschheitsherausforde-
rung“. Diese Latte war selbst für geübte
politische Stabhochspringer schwer zu
überwinden. Trotzdem nahmen alle nach
Kräften Anlauf, um sich in die Höhe zu
stemmen. Klimaschutz und Digitalisie-
rung seien entscheidend, um den Wohl-
stand in Deutschland zu erhalten, verkün-
dete die Kanzlerin eine ihrer längst be-
kannten Überzeugungen. Auch das Ein-
treten für eine CO 2 -Bepreisung war nicht
neu. Zu Beginn der nächsten Woche will
die Union sich festlegen, wie diese Beprei-
sung aussehen soll. Derzeit weist alles auf
eine Zertifikatlösung hin. Am Freitag der
nächsten Woche will dann das Klimakabi-
nett einen gemeinsamen Plan vorlegen.
Merkel sagte, Teile der Wirtschaft sei-
en bereits weiter als die Politik. Es stelle
sich schon die Frage, ob es „überhaupt ge-
nug grünen Strom“ gebe. Wichtig sei je-
doch, auf die Akzeptanz der klimapoliti-
schen Maßnahmen zu achten. Es müsse
verhindert werden, sagte Merkel, die sich
dabei als „jetzt mal mutig“ bezeichnete,
dass es zu einer „Arroganz“ von Stadtbe-
wohnern gegenüber der ländlichen Bevöl-
kerung komme. Das zielte darauf, dass
Windräder eben nicht in der Stadt, son-
dern auf dem Land stehen. Es müsse ein
Bündnis von Stadt und Land geben, die
Kommunen müssten an den Gewinnen
durch die Windanlagen beteiligt werden.
Das war schon ein Hinweis auf ihre späte-
re Forderung, die ländlichen Räume stär-
ker zu berücksichtigen.
Viel ist in jüngster Zeit gesprochen
worden von der Möglichkeit, die Koaliti-
on aus Union und SPD könne zerbre-
chen. Derzeit hat sich die Debatte etwas
beruhigt. Die Landtagswahlen in Sach-
sen und Brandenburg Anfang des Mo-
nats verliefen zwar für die beiden Koaliti-
onspartner im Bund nicht schön, aber im-
merhin konnte die CDU den ersten Platz
in Dresden behaupten, die SPD den in
Potsdam. Zwar ist nicht ausgemacht, wer
nach dem Winter an der Spitze der SPD
stehen wird, aber immerhin sieht es beim
Bewerberrennen nicht nach einem Start-
Ziel-Sieg derjenigen Genossen aus, die
Merkel in Berlin die Kündigung in den
Briefkasten des Kanzleramtes werfen
wollen. Die Sache könnte also noch eine
Weile halten.
Dafür sprach auch der Auftritt des kom-
missarischen Fraktionsvorsitzenden der
SPD am Mittwoch in der Haushaltsdebat-
te. Rolf Mützenich kann durchaus scharfe
Worte gegen den Koalitionspartner rich-
ten. Diesmal unterließ er das. Seine Forde-
rung, das Klimakabinett müsse „die Wei-
chen stellen“ für die Einhaltung der deut-
schen Klimaziele, bezog die sozialdemo-
kratischen Minister zwingend mit ein und
klang keineswegs so, als halte er diese
Weichenstellung für unmöglich. „Das
schädliche CO 2 muss weg!“, rief er in den
Saal, was ganz der Forderung des Koaliti-
onspartners entsprach.
In der Union ist auch auf der oberen
Ebene die Zuversicht verbreitet, dass man
mit den Sozialdemokraten zu einer Eini-
gung gelangen wird. Das wäre nach einem
unruhigen Sommer und viel Ungewissheit
über den Kurs der SPD zumindest ein
wichtiger inhaltlicher Schritt für die Koali-
tion, mit dem sie ihre Handlungsfähigkeit
demonstrieren könnte – und ihren Willen,
weiterzumachen. „Wichtige fiskalische
Entscheidungen“ müssten in der Klimapo-
litik folgen, forderte Mützenich in der De-
batte. Das klingt nach Fortsetzung.
Der FDP-Vorsitzende Christian Lind-
ner machte erwartungsgemäß aus der Kli-
mapolitik nicht den Schwerpunkt seiner
Rede. Aber er klammerte das Thema
auch nicht aus. Es dürfe nicht nur „Klein-
Klein“ geben, sagte er. Ein anderer Mehr-
wertsteuersatz auf Wurstwaren werde das
Klima nicht retten. Mit Askese, Verbot,
Verzicht und keinem Wachstum werde
man vielleicht „Moralweltmeister“, aber
niemand werde Deutschland folgen. Viel-
mehr müsse man wieder „Technologie-
weltmeister“ werden. Lindner traute sich
sogar, die allemal seit dem tödlichen Un-
fall in Berlin in der Kritik stehenden Ge-
ländefahrzeuge zu verteidigen. Sie dürf-
ten in der Debatte nicht „pauschal zu
Mordinstrumenten“ gemacht werden.
Die ein oder andere Hand rührte sich so-
gar in den Reihen der AfD zum Beifall.
Überall treibt die Klimadiskussion der-
zeit große, bunte Blüten. Jeder will dabei
sein. Sogar Wolfgang Schäuble, der – kei-
neswegs nur wegen der Umwelt- und Kli-
mapolitik – zu den frühen Befürwortern
schwarz-grüner Bündnisse gehörte. Als
die Unionsfraktion am Abend vor der
Bundestagsdebatte ihren siebzigsten Ge-
burtstag gefeiert hatte, empfahl Festred-
ner Schäuble das Eintreten für Nachhaltig-
keit seiner Partei als eine Chance. In der
vorigen Woche hatte er sogar den Impuls-
vortrag gehalten, als die CDU ihr „Werk-
stattgespräch“ über die Klimapolitik ab-
hielt.
Und die Grünen? Deren Fraktionsvor-
sitzende Katrin Göring-Eckardt präsen-
tierte eine abgewandelte Form des Wahl-
kampfslogans von 1990. „Alle reden vom
Klima“, sagte sie. Eigentlich müsste die
Grünen das freuen, aber natürlich wollen
sie das Thema, mit dem sie einst groß ge-
worden sind, nicht einfach der Konkur-
renz überlassen. Deshalb rief sie der Re-
gierung und der Kanzlerin zu: „Tun Sie
endlich was!“ Den Haushaltsentwurf der
Koalition, der ja eigentlich im Mittel-
punkt der Diskussion stand, hielt Göring-
Eckardt für unzureichend. Es gebe, „kei-
nen Plan, kein Geld“, und das könne sich
„das Klima nicht leisten“.
Dass die CDU ihren Anteil vom Klima-
kuchen haben will, machte deren Vorsit-
zende schon am Tag vor der Haushaltsde-
batte deutlich. Da stellte Annegret
Kramp-Karrenbauer ein Buch vor mit
dem Titel „Soziale Marktwirtschaft ökolo-
gisch erneuern“. Sie tat das mit Ralf
Fücks, jenem Mann, der als einstiger Grü-
nen-Sprecher den Wahlkampf 1990 noch
mit vorbereitet hatte – einschließlich des
Slogans, von dem er vor einiger Zeit ge-
sagt hatte: „Wir waren also einerseits un-
serer Zeit voraus – und gleichzeitig lagen
wir komplett daneben.“ Am Dienstag
also saß er neben der CDU-Vorsitzenden.
Die mutmaßte, dass mancher fragen wer-
de, ob es sich um einen „Flirt“ der CDU
mit den Grünen handele. „Nein“, antwor-
tete sie. Vielmehr sei es eine Rückbesin-
nung auf das, was die CDU schon lange
ausgemacht habe.
Lt. BERLIN, 11. September. Der
Hongkonger Menschenrechts-Aktivist
Joshua Wong hat freie Wahlen in
Hongkong als „ultimatives Ziel“ der
von ihm mitinitiierten Protestbewe-
gung bezeichnet. Während Wong am
Mittwoch die Bundesregierung dazu
aufrief, die Proteste in Hongkong stär-
ker zu unterstützen und Sanktionen ge-
gen chinesische Politiker und einen Lie-
ferstopp für Schutzausrüstung an die
Bereitschaftspolizei in Hongkong zu er-
wägen, zeigte sich der chinesische Bot-
schafter in Berlin, Wu Ken, „tief unzu-
frieden“ damit, dass der deutsche Au-
ßenminister Heiko Maas (SPD) eine
Begegnung mit Wong in Berlin hatte.
Der chinesische Botschafter gab an,
dieser „Zwischenfall“ werde „sehr ne-
gative Wirkungen auf die bilateralen
Beziehungen“ haben. Kurz nach dem
erfolgreichen Besuch von Bundeskanz-
lerin Angela Merkel in Peking habe die-
ser Vorfall „unseren Arbeitsrhythmus
total zerstört“. Die chinesische Seite
habe immer wieder klar gemacht, dass
die Angelegenheiten Hongkongs „zur
chinesischen Innenpolitik gehören“.
Wong erneuerte in Berlin die Hal-
tung der Protestbewegung, nach der es
nicht genüge, das Auslieferungsgesetz
zurückzuziehen, das vor drei Monaten
der Anlass für den Beginn der Proteste
geliefert hatte. Die Demonstranten ver-
langten eine unabhängige Unter-
suchung der massiven Polizeigewalt,
mit der gegen sie vorgegangen worden
sei; das sei die einzige Möglichkeit,
Hongkong nicht zu einem Polizeistaat
werden zu lassen.
Die Ankündigung der Hongkonger
Regierungschefin Carrie Lam, das Ge-
setz zu streichen, welches die Ausliefe-
rung Hongkonger Bürger an zentralchi-
nesische Behörden vorsah, sei „ein Er-
folg, aber noch kein Sieg“, sagte Wong.
Die aktuelle politische Krise müsse
durch politische Reformen gelöst wer-
den, etwa durch eine Wahlrechts-
reform, die den Bürgern Hongkongs ge-
statte, ihre Repräsentanten ohne den
Einfluss Zentralchinas zu wählen.
Wong, der nächste Woche auch nach
Washington reisen will, rief zur inter-
nationalen Solidarität mit den Hong-
konger Demonstranten auf. Die Bun-
desregierung solle dafür sorgen, dass
die Hongkonger Bereitschaftspolizei
nicht länger mit deutscher Ausrüstung,
etwa mit Wasserwerfern, ausgestattet
werde.
Der chinesische Botschafter in Ber-
lin mutmaßte, Wong sei womöglich
nach Deutschland gereist, um auslän-
dische Unterstützung zu mobilisieren.
Es gebe „reichlich Belege“ dafür, dass
die Proteste auch durch Unterstützung
aus dem Ausland angeheizt würden.
Die Protestbewegung in Hongkong
brauche „ausländische Hilfe, um das
Chaos weiter anzuheizen“, sagte Wu
Ken. In den vergangenen Tagen habe
sich die Lage in Hongkong relativ stabi-
lisiert; es sei der Eindruck entstanden,
„dass die Lokalregierung ihre Auf-
gaben erledigen kann“. Falls jedoch
die Situation weiter eskaliere und der
Lokalregierung in Hongkong aus der
Hand gerate, dann „wird die Zentral-
regierung nicht weiter zusehen“, sagte
der Botschafter. Vielmehr werde es ein
Eingreifen geben, „um die Lage zu be-
ruhigen“ und die Entwicklung Hong-
kongs zu befördern.
Alle reden vom Wetter
Wong will
freie Wahlen
in Hongkong
Aktivist fordert Berlin auf,
Demonstranten zu helfen
LONDON, 11. September. Zuhörer be-
richteten von einem Raunen im Saal,
als die drei Berufungsrichter im Court
of Session die Beurlaubung des briti-
schen Parlaments am Mittwoch für
rechtswidrig erklärten. Zwei Gerichte –
eine andere Kammer desselben Ge-
richts in Edinburgh und der High Court
in London – waren erst in der vergange-
nen Woche zur gegenteiligen Überzeu-
gung gekommen. Nun richten sich aller
Augen auf den Supreme Court, das
höchste Gericht im Vereinigten König-
reich, das sich vom kommenden Diens-
tag an in London über den Fall beugen
will.
Ein Raunen dürfte auch in der
Downing Street zu hören gewesen
sein. Dort war man davon ausgegan-
gen, dass sich die bisherige Rechtsmei-
nung durchsetzen würde, der zufolge
Gerichte nicht über politische Motiva-
tionen von Exekutivmaßnahmen ent-
scheiden können. Ebendas tat aber die
Berufungskammer, indem sie befand,
dass Premierminister Boris Johnson
bei der Königin die Beurlaubung „in
der ungebührlichen Absicht“ beantragt
habe, „das Parlament zu behindern“.
Nachdem zunächst Stimmen aus
dem Regierungssitz zitiert wurden, die
die Unparteilichkeit der schottischen
Richter anzuzweifeln schienen, beeilte
sich die Regierung, diesen Eindruck zu
korrigieren. Ein Sprecher Johnsons
und auch Justizminister Robert Buck-
land hoben hervor, dass es keine Zwei-
fel an der Neutralität und Professionali-
tät britischer Richter gebe. Die Regie-
rung vertritt den Standpunkt, dass sie
den Verfassungsgepflogenheiten ge-
folgt sei, indem sie eine Beurlaubung
vor der für den 14. Oktober festgesetz-
ten „Queen’s Speech“ verfügt hat. Mit
der ebenfalls traditionellen – mehr als
dreiwöchigen – Beurlaubung des Parla-
ments während der Parteitage habe
sich die Gesamtdauer auf fünf Wochen
summiert. Viele sind jedoch überzeugt,
dass Johnson die „Queen’s Speech“,
mit der jede neue Regierung ihr Pro-
gramm bekanntgibt, aus taktischen
Gründen auf den 14. Oktober gelegt
habe, um in den Wochen zuvor ohne
parlamentarische Kontrolle arbeiten zu
können. Johnson hatte den Termin da-
mit begründet, dass er rasch mit der Re-
gierungsarbeit beginnen wolle. Der Bre-
xit-Koordinator der Labour Party, Keir
Starmer, sagte am Mittwoch, die Bürger
hätten das Gefühl gehabt, dass ihnen
nicht die Wahrheit gesagt worden sei.
Sollte das höchste Gericht im Land
die Zwangspause des Parlaments eben-
falls für rechtswidrig erklären, würde
das Unterhaus vermutlich darüber ab-
stimmen, ob in diesem Jahr auf die tra-
ditionelle Beurlaubung während der
„Conference Season“ verzichtet wer-
den soll. Sollte es dafür eine Mehrheit
geben, müssten die Parteitage, die An-
fang Oktober enden sollen, vermutlich
abgesagt werden.
Oppositionsabgeordnete legten John-
son einen Rücktritt nahe, sollte der Su-
preme Court das jüngste Urteil aus
Edinburgh bestätigen. Der frühere Ge-
neralstaatsanwalt Dominic Grieve, der
von Johnson in der vergangenen Wo-
chen aus der Konservativen-Fraktion
geworfen wurde, lenkte den Blick auf
das Verhältnis zwischen Premierminis-
ter und Staatsoberhaupt. Dieses sei von
Vertrauen und guten Absichten defi-
niert, sagte er. Sollte auch der Supreme
Court zu der Auffassung gelangen, dass
Johnson die Königin um eine rechts-
widrige Maßnahme gebeten habe, müs-
se er „rasch zurücktreten“.
WASHINGTON, 11. September. John
Bolton ist sich am Ende treu geblieben.
Als in Washington gerade darüber gerät-
selt wurde, ob er nun von Donald Trump
entlassen worden war oder er selbst zuvor
seinen Rücktritt eingereicht hatte, gelang-
te sein Brief an den Präsidenten an die Öf-
fentlichkeit. Darin kam er, wie stets, di-
rekt auf den Punkt: „Dear Mr. President:
Hiermit trete ich mit sofortiger Wirkung
als Nationaler Sicherheitsberater des Prä-
sidenten zurück. Vielen Dank dafür, dass
Sie mir die Gelegenheit geboten haben,
unserem Land zu dienen. Sincerely.“ Das
Schreiben war auf den 10. September da-
tiert und sollte Boltons zuvor veröffent-
lichten Tweet untermauern, wonach er
dem Präsidenten am Abend zuvor seinen
Rücktritt angeboten habe, woraufhin die-
ser geantwortet habe: „Lass uns morgen
drüber reden.“
Trump war Bolton dann zuvorgekom-
men, indem er nach Erhalt des Schrei-
bens am Dienstag sogleich auf Twitter
schrieb: Er habe Bolton am Abend zuvor
darüber informiert, dass dessen Dienste
im Weißen Haus nicht mehr benötigt wür-
den. Bei Trump gehört es dazu, dass auch
die Umstände der Beendigung eines Be-
schäftigungsverhältnisses strittig sind.
Schon im Falle des Rücktritts des frühe-
ren Verteidigungsministers James Mattis
verbreitete der Präsident nachträglich die
Lesart, er habe den Pentagon-Chef entlas-
sen. Trump nimmt keine Rücktritte an. Er
feuert. So sieht er sich jedenfalls selbst.
Im Falle Boltons ist es einerlei. Denn
nicht der Abgang überraschte, sondern
dass es erst jetzt dazu gekommen war. Ei-
gentlich hatte es schon im Frühsommer
Signale in Washington gegeben, dass die
Tage des Sicherheitsberaters gezählt wa-
ren. In letzter Minute blies der Oberbe-
fehlshaber damals einen Militärschlag ge-
gen Iran aus Vergeltung für den Abschuss
einer unbemannten Drohne ab. Bolton
machte kein Geheimnis daraus, dass er
das für einen Fehler hielt. In jenen Tagen
war ein demonstrativ schmollender Si-
cherheitsberater im Weißen Haus zu be-
obachten, einer, der mitunter sogar den
Spott des Präsidenten zu ertragen hatte.
Zwar dementierte Trump seinerzeit, dass
es Differenzen mit seinen Beratern gebe.
Doch verzichtete er nicht darauf, beim
„Chopper talk“ – den Quasi-Pressekonfe-
renzen auf dem Weg vom West Wing zu
seinem Hubschrauber – zu frotzeln: Jaja,
es stimme schon, der Bolton sei ein ech-
ter Falke. Intern soll er hinzugefügt ha-
ben: Wenn es nach Bolton ginge, befände
sich Amerika jetzt in vier Kriegen.
Nun, nach der Trennung, spricht
Trump offen darüber, dass er viele Vor-
schläge seines Sicherheitsberaters vehe-
ment abgelehnt habe. Die Liste der Diffe-
renzen ist lang: Bolton hält nichts von ei-
nem Treffen mit dem iranischen Präsiden-
ten Hassan Rohani bei den Vereinten Na-
tionen Ende September, das Trump aus-
drücklich nicht ausschließt. Bolton war
auch gegen die Aufwertung des nordko-
reanischen Machthabers Kim Jong-un,
der bisher weder sein Atomprogramm auf-
gegeben hat noch auf Raketentests ver-
zichtet. Bolton lehnte einen Abzug ameri-
kanischer Truppen aus Syrien ab, der sei-
ner Meinung nach nur russische Interes-
sen bedient hätte; und er wirkte mit dar-
an, Trumps Anweisung zu relativieren.
Bolton war schließlich ebenso gegen ei-
nen übereilten Abzug vom Hindukusch.
Die Afghanistan-Strategie war denn
auch Anlass für die letzte Kontroverse
zwischen den beiden. Bolton hielt die Ein-
ladung ranghoher Taliban-Vertreter nach
Camp David, die Trump im letzten Mo-
ment wieder zurücknahm, rundweg für
falsch. Condoleezza Rice, die frühere Si-
cherheitsberaterin, Außenministerin und
einstige Vorgesetzte Boltons, äußerte
nun, was dieser sicher genauso sieht: Aus
der Einladung hätten die Taliban die
Schlussfolgerung gezogen, Washington
benötige ein Abkommen dringender als
sie selbst.
Doch all die Differenzen waren vorher-
sehbar. Trump kannte die Weltsicht Bol-
tons, als er ihn im April 2018 zum Nach-
folger H. R. McMasters machte. Er muss
gewusst haben, dass viele Vorstellungen
Boltons konträr zu seinem Ziel verlaufen,
amerikanische Interventionen in fernen
Weltgegenden zu beenden und die Solda-
ten aus Einsätzen zurückzuholen, die aus
seiner Sicht „lächerlich“ lang dauerten.
Das allein unterschied Bolton nicht von
anderen, zumal nicht von Außenminister
Mike Pompeo. Trump holte sich einen
Haudrauf, der amerikanische Interessen
durchsetzt und nicht andauernd auf diplo-
matische Konventionen und die Beden-
ken der Verbündeten verweist. Was der
Präsident wohl unterschätzte: Bolton sag-
te nicht nur intern seine Meinung, was
der Präsident in der gebotenen Dosis
durchaus erträgt. Der bisweilen hitzköp-
fig agierende Sicherheitsberater sorgte
auch dafür, dass die abweichende Mei-
nung in die Öffentlichkeit gelangte. Zu-
letzt, in der Kontroverse über die Einla-
dung der Taliban, wurde Boltons Team un-
terstellt, dass es nicht allein die Oppositi-
on des Sicherheitsberaters an die Medien
durchgestochen habe. Sondern dass es
der Geschichte dann auch den Dreh gege-
ben habe, Vizepräsident Mike Pence sei
Boltons Meinung gewesen. Das wurde als
höchst illoyaler Akt gewertet.
Nicht hilfreich schien zudem zu sein,
dass Bolton im Umgang mit Kabinettskol-
legen und Mitarbeitern des Weißen Hau-
ses ständig die Ellbogen ausfuhr. Zwi-
schen dem Sicherheitsberater und dem Au-
ßenminister gibt es eine strukturelle Kon-
kurrenz: Der eine hat die direkte Nähe
zum Präsidenten, der andere hat den Ap-
parat des State Department hinter sich.
Zwischen Bolton und Pompeo soll zuletzt
regelrecht Funkstille geherrscht haben.
Der Außenminister äußerte jetzt nach des-
sen Abgang kühl: Der Präsident sollte von
Leuten umgeben sein, denen er vertraue
und die er schätze – und von deren Bemü-
hungen und Urteilen er profitiere. Zudem:
Es habe bestimmt Felder gegeben, auf de-
nen Bolton und er, Pompeo, in der Heran-
gehensweise unterschiedlicher Ansicht ge-
wesen seien.
Boltons Ausscheiden ist ein Sieg Pom-
peos, eines der letzten Überlebenden des
ursprünglichen Trump-Teams, dem er zu-
nächst als CIA-Direktor angehörte. Bei
der Nachfolgeregelung dürfte er ein Wort
mitreden. Bemerkenswert ist bei alldem,
dass Bolton und Pompeo nicht ihre Welt-
sicht trennte: Mag der Außenminister ei-
nen evangelikalen Hintergrund haben
und ihm Polterei eher fremd sein – beide
bekennen sich zum „Amerikanismus“, ei-
ner nationalistischen Denkschule, beide
stehen dem Multilateralismus skeptisch
gegenüber, beide glauben, amerikanische
Interessen seien notfalls militärisch
durchzusetzen.
Doch diese ideologische Nähe vermoch-
te die charakterlichen Unterschiede kaum
zu kaschieren. Pompeo sagte 2016 über
den heutigen Präsidenten, dieser sei we-
der ein Konservativer, noch teile er des-
sen Vision – zu einem Zeitpunkt, als
Trump sich die republikanische Kandida-
tur schon gesichert hatte. Heute glänzt er
nach Meinung einiger seiner Diplomaten
durch die Gabe, sich selbst zu verleugnen:
Auch er soll gegen Trumps spontanes Tref-
fen mit Kim in der entmilitarisierten
Zone auf der koreanischen Halbinsel ge-
wesen sein. Am Ende stand er aber neben
dem Präsidenten, während Bolton in der
Mongolei weilte. Auch Pompeo war für
den Vergeltungsschlag gegen das Regime
in Teheran. Jetzt ist er dabei, Chancen für
eine Begegnung des Präsidenten mit Roha-
ni in New York auszuloten.
Die Rolle des Außenministers in Wa-
shington ist gestärkt. Was das heißt, ist
aber noch offen. Es gibt Leute, die glau-
ben, Pompeo habe nur ein Ziel: das Wei-
ße Haus – nach dem Ende der Ära Trump.
(Kommentar Seite 8.)
Ein Raunen
imSaal
Was die Entscheidung des
Gerichts für Johnson heißt
Von Jochen Buchsteiner
Boltons Niederlage, Pompeos Sieg
Das Ausscheiden des Sicherheitsberaters stärkt die Rolle des Außenministers im System Trump – was das inhaltlich heißt, ist unklar / Von Majid Sattar
Was bis vor kurzem die
Migrationspolitik war,
ist jetzt das Klima: ein
Topthema, neben dem
andere keine Chance
haben. Das bekommt
insbesondere die AfD
zu spüren.
Von Eckart Lohse
Politischer Stabhochsprung:Kramp-Karrenbauer, Altmaier und Merkel auf der Regierungsbank Foto EPA
Antipoden:Pompeo und Bolton Foto Laif