Spezial IAA
DONNERSTAG, 12. SEPTEMBER 2019, NR. 176^43
Kombination im Blick. Für einen Kunden habe
Benteler einen Achsträger aus einem Aluminium-
Kunststoff-Verbund entwickelt. „Ob solche Innova-
tionen Eingang in die Serie finden, hängt aber im-
mer davon ab, ob der erzielte Vorteil groß genug
ist, um die Kosten zu rechtfertigen“, sagt Kollmeier.
Die Zahlungsbereitschaft muss im Blick bleiben:
„Leichtbau, koste es, was es wolle, ist nicht der
richtige Weg – abgesehen vom Luxussegment“,
sagt CAM-Direktor Bratzel. „Im Massenmarkt spielt
der Preis eine gewichtige Rolle.“ Nötig ist bei inno-
vativen Materialien eine klare Abwägung zwischen
Kosten und dem gewichtssparenden Effekt. „Das
mussten die Hersteller in den letzten Jahren teils
schmerzhaft lernen“, sagt Bratzel. „BMW hat mit
seinem i3 einiges an Lehrgeld gezahlt.“ Bei ihrem
E-Auto setzen die Münchener stark auf carbonfa-
serverstärkten Kunststoff (CFK). Das Material sei
schwer zu verarbeiten, so Bratzel.
Premium-Anbieter mit Vorteilen
Die in der Premiumklasse tätigen deutschen Her-
steller hätten einen leichten Vorteil, sagt Bratzel:
„Sie können etwas höhere Preise verlangen und
damit auch beim Materialeinsatz ein Stück weit in-
novativer sein.“ Doch bremsen sich die Autokon-
zerne mit dem wachsenden SUV-Anteil an ihren
Verkäufen nicht selbst aus? „An SUVs kommt man
nicht vorbei, die Leute wollen sie fahren“, sagt
Bratzel. „Sie sind in der Regel schwerer als Limou-
sinen – aber schon in den letzten zehn Jahren ist
beim Gewicht viel passiert.“
Abspecken in kleinen Schritten – dabei will der
japanische Zulieferer Sekisui Chemicals helfen, der
erstmals auf der IAA ausstellt. „Die Verbesserung
des Kraftstoffverbrauchs und der Umweltleistung
sind die wichtigsten Themen im Automobilsektor“,
sagt Vorstandschef Masayuki Suda. Das Unterneh-
men produziert unter anderem Schaumstoffplat-
ten, die bei Batteriegehäusen von E-Autos Metall er-
setzen. Auch so werde Gewicht gespart, sagt Suda.
Verschärfte Umweltvorschriften seien eine Chance.
In Frankfurt zeigt Sekisui ein schnittiges Con-
cept Car, in dem auch Folien des Anbieters und
Schaumstoff verbaut sind – zudem CFK. Potenziel-
le Kunden will das Unternehmen hier mit einer
neuen Technik überzeugen, „Color Carbon“ ge-
nannt: Die Farben sind schon vor der Montage in
das Material eingearbeitet. „Bei einer Lackierung
im Nachhinein kann diese Brillanz der Farben
meist nur über mehrere Schichten erreicht wer-
den“, sagt Sud. Auch das bedeute mehr Gewicht.
Er sieht das Color Carbon deshalb auch als Beitrag
zum Leichtbau. Beim Material an sich gebe es al-
lerdings „aktuell kein weiteres Einsparpotenzial“.
Emanzipation der E-Konstrukteure
In der Verbindung von Werkstoff und Design sieht
CAM-Experte Bratzel hohes Potenzial: „Wenn es
gelingt, mit einem neuen Material etwa Vorteile
bei der Aerodynamik zu erzielen, dann ist das
noch interessanter“, sagt er. Ein grundsätzliches
Umdenken erkennt Bratzel bei der Produktion von
E-Autos. Solange Modelle mit Verbrennungsmotor
das Design für die Batteriefahrzeuge vorgeben,
hätten diese mit unnötigen Gewichtsproblemen zu
kämpfen. „Sie müssen auch die Sicherheitsvorga-
ben von Verbrennern einhalten, was sie schwerer
macht.“ Zunehmend würden Hersteller eigene
Plattformen für ihre E-Autos entwickeln. „Sie kön-
nen nun mit neuen Materialien ausloten, wie sie
leichter werden und Sicherheitsvorgaben erfül-
len.“ Dabei konstatiert Bratzel „eine Renaissance
der ultraleichten Stähle“.
Benteler adressiert mit seinem E-Auto-Fahrwerk
auch Newcomer. Am Montag gab der Zulieferer be-
kannt, dass der junge Münchener Sportwagenher-
steller Automobili Pininfarina in drei Jahren ein Se-
rienmodell mit der Plattform auf den Markt brin-
gen will. Kurz zuvor stand als Kunde schon der
chinesische Immobilienkonzern Evergrande fest –
er will in die E-Mobilität expandieren. Kollmeier ist
sicher, dass sein Skateboard beim Tempomachen
hilft: „Die Nutzer sind zwei bis drei Jahre schneller
als mit einer selbst entwickelten Plattform“, sagt er.
Es fehlen nur noch die Karosserie und das Inte-
rieur, dann kann es praktisch losgehen.
Es geht
um jedes
Gramm,
das man
sparen kann.
Stefan Bratzel
Center of Automotive
Management
Matthias Putz
„Wir müssen ganzheitlich denken“
M
atthias Putz ist Spre-
cher der Allianz Auto-
mobilproduktion, an
der 16 Fraunhofer-Institute be-
teiligt sind. Er leitet das Fraun-
hofer-Institut für Werkzeugma-
schinen und Umformtechnik
(IWU) in Chemnitz.
Herr Putz, der Kostendruck in
der Automobilindustrie bleibt
hoch – nun sinken die Gewin-
ne. Wie kann es gelingen, den-
noch Innovationen bei Werk-
stoffen und Produktion zu
stemmen?
Wir gehen in ganz große neue
Entwicklungen bei der Mobili-
tät und bei den Produktionssys-
temen. Dabei besteht ein hohes
Risiko, Fehlentscheidungen zu
treffen. Die Unternehmen müs-
sen die Risiken möglichst
schnell abschätzen können –
am besten schon im vorwett -
bewerblichen Bereich. Koope-
rationen mit Forschungs -
zentren können hier helfen.
Wo sehen Sie die größten Bau-
stellen, wenn es um neue Pro-
duktionsmethoden geht?
Typisch war über Jahrzehnte
die Massenproduktion im Takt,
also alle Arbeitsstationen in ei-
ner Fließstrecke mit gleicher
Zeitdauer für einen Arbeits-
gang. Da verändert sich die
Welt. Es sind strukturelle Ände-
rungen notwendig, die bei kon-
ventionellen Linienkonzepten
nur mit hohem Aufwand mög-
lich sind.
Werden E-Autos das Tempo des
Fortschritts erhöhen?
Wir werden in der Zukunft
noch eine ganz große Werk-
stoff-Innovation erleben: Es ist
die Kernfrage, aus welchen Ma-
terialien Batterien hergestellt
werden. Denn das ist der ent-
scheidende Kostenfaktor beim
E-Auto. Und es stellt sich im-
mer auch die Frage des Recyc-
lings. Hier müssen wir für die
Zukunft ganzheitlich denken.
Können Sie ein Beispiel nen-
nen?
Wir dürfen zum Beispiel nicht
nur einberechnen, was Leicht-
bau am Fahrzeug selbst be-
wirkt. Es ist in diesem Fall viel-
mehr die Gesamtbilanz im Fo-
kus. Carbon hat zwar fantasti-
sche Eigenschaften, aber die
Herstellung verbraucht viel
Energie. Und auch bei der Wie-
derverwertung von Carbon tun
wir uns im Moment noch sehr
schwer. Stahl oder Aluminium
dagegen lassen sich recyceln,
das ist ein etablierter Prozess,
der sich bewährt hat. Das
heißt, wir müssen dieses The-
ma neu denken.
Wie kann es gelingen, die Ge-
samtbilanz zu erstellen?
Dank der Digitalisierung haben
wir jetzt die Werkzeuge, um
solche Prozesse ganzheitlich zu
bewerten. Jedes Blechteil hat
heute eine Markierung, auf der
dessen Geschichte dokumen-
tiert ist. Da hat man vor fünf
Jahren noch gelacht, als wir das
gezeigt haben, und gefragt: Was
will man denn mit diesen Da-
ten? Die ließen sich zunächst
weder speichern noch auswer-
ten. Heute ist das so etwas wie
der Grüne Knopf in der Textil-
industrie, ein Gütesiegel also.
Das digitale Gedächtnis von
Bauteilen wird für die Autoin-
dustrie immer wichtiger – etwa
für Zulassungsprozesse im
Fahrwerksbereich.
Die Fragen stellte Thomas
Mersch.
Der Fraunhofer-Forscher über Trends bei Materialeinsatz und Produktion.
Fraunhofer-Institut
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